Gastbeitrag
Verteilungsfragen rücken in den Vordergrund
Mehr Anreize und Chancen statt mehr Umverteilung

1. Verteilungsfragen rücken in den Vordergrund

„Unser größtes Problem ist die wachsende Ungleichheit, nicht nur mit Blick auf Einkommen und Wohlstand, sondern auch mit Blick auf die soziale Wertschätzung.“ – Hubertus Heil (SPD, Debatte zum Bundeshaushalt 2021, 11.12.2020)

Corona und Energiepolitik befeuern Verteilungsdebatte

Soziale Ungleichheit ist für Wähler eines der wichtigsten Themen. Die höhere Belastung unterer Einkommensgruppen durch die Corona-Pandemie sowie anstehende Belastungen durch das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 haben der Debatte zusätzlichen Auftrieb gegeben. Laut eines Berichts des WSI sind die Corona-bedingten Einkommenseinbußen in unteren Einkommensschichten mit Abstand am größten.1 Die Relevanz vieler eher schlecht bezahlter Berufe in der Pflege und der Erziehung wurde deutlich sichtbar und es wurden Fragen nach einer gerechten Bezahlung im Sinne ihres gesellschaftlichen Beitrags (Systemrelevanz) aufgeworfen. Die Bundesregierung reagierte mit einer Pflegereform, nach der ab September 2022 nur noch Pflegeeinrichtungen zugelassen werden, die den Tariflohn nicht unterschreiten.2 Zudem haben Studien für verschiedene Länder ergeben, dass die lockere Geldpolitik die Ungleichheit zuletzt erhöht haben könnte, weil Vermögende durch Bewertungszuwächse an den Finanzmärkten stärker profitieren als Menschen am unteren Ende, bei denen sich der Gewinn auf Beschäftigungseffekte beschränkt.3

Umfrageergebnisse spiegeln Sorgen und Ungerechtigkeitsempfinden der Deutschen wider

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass trotz unseres umfassenden Sozialstaats Armut und soziale Ungleichheit seit Jahren die größte Sorge der Deutschen darstellen. Im internationalen Vergleich ist sie nur in Lateinamerika, Ungarn und Russland stärker ausgeprägt.4 Nur knapp die Hälfte der Deutschen empfindet die eigene Einkommenssituation als gerecht. Insgesamt werden niedrige Einkommen eher als ungerecht bewertet als hohe Einkommen, was eine hohe Übereinstimmung mit den Prinzipien der Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit suggeriert.5 Dieses Gerechtigkeitsempfinden spiegelt sich in aktuell hohen Umfragewerten staatsorientierter Parteien wider (SPD: 21%, Grüne: 19%, Linke: 7%6), deren Programme deutliche Umverteilung in Aussicht stellen.7

Politische Fragen immer Verteilungsfragen

Dabei werden aktuell in Deutschland bereits rund 31,5% des BIP durch den Staat für Sozialleistungen ausgegeben, die die aggregierte Einkommensungleichheit um rund 44%8 reduzieren. Fast zwei Drittel der Ausgaben entfallen auf Sozialversicherungen, wovon die Hälfte für Renten aufgebracht wird.9 Neben Maßnahmen der direkten Umverteilung finanziert der Staat wichtige Ausgaben zur Bereitstellung von öffentlichen Gütern, wie etwa Bildung, Kultur und Sport, die nicht von allen Gruppen gleichermaßen beansprucht werden. Allein im Bereich Bildung betrugen die öffentlichen Ausgaben im Jahr 2018 rund 5,2% des BIP. Zudem werden ausgabenseitig Gebührenstaffelungen angewandt, die sich am Haushaltseinkommen orientieren. Insgesamt dürften von der Bereitstellung öffentlicher Güter weitere, schwer messbare Verteilungswirkungen ausgehen. Schließlich sind nahezu alle politischen Fragen in letzter Konsequenz Verteilungsfragen, bei denen Gerechtigkeitsargumente eine wichtige Rolle spielen. In Debatten geht es nahezu immer darum, wer profitiert – die Kehrseite, wer bezahlt, wird allerdings gerne unter den Tisch fallen gelassen oder nur von der Opposition gestellt.

Ungleichheit kann in der Wahrnehmung verzerrt sein …

Grund für die großen Sorgen trotz des ausgebauten Sozialstaats könnte vielmehr die wahrgenommene Ungleichheit sein, die laut Studien nicht ganz frei  von kognitiven Dissonanzen ist. Diese Divergenz zwischen wahrgenommener und gemessener Einkommensungleichheit ist ein internationales Phänomen, deren Gründe nicht ganz eindeutig zu sein scheinen. Generell werden Einkommensunterschiede in denjenigen Ländern negativer bewertet, in denen die empfundene Ungleichheit höher ist.10 Für Deutschland gilt, dass Menschen dazu neigen, die Breite der Mittelschicht zu unterschätzen und die der Einkommensschichten an den Rändern zu überschätzen. Das ist insofern erstaunlich, als Personen in unteren Einkommensdezilen ihre Position überschätzen, während für Individuen in höheren Einkommensschichten das Gegenteil der Fall ist – beide Gruppen ordnen sich also eher der Mitte zu.11 Damit könnte auch zusammenhängen, dass allgemeine Präferenzen und persönliche Betroffenheit auseinanderfallen. In einer Untersuchung fragten Engelhardt und Wagener (2016) Teilnehmer nach einer Einschätzung ihrer Position in der Einkommensverteilung und ihrer Präferenz für Umverteilung. Nach Klarstellung der eigenen Einkommensposition sank die Präferenz für Umverteilung bei denjenigen Teilnehmern, die erfahren haben, dass sie aufgrund ihrer Position Nettozahler sind.12 Es liegt nahe, dass Individuen bei derartigen Einschätzungen auf verfügbare Evidenz innerhalb ihres mitunter homogenen sozialen Umfeldes zurückgreifen.

 … und zu sozialer Segregation und politischer Polarisierung beitragen

In der Tat weisen Studien darauf hin, dass zunehmende ökonomische Ungleichheit Segregation, Polarisierung und Extremismus fördern und damit die politische Stabilität gefährden könnte. In der Wahrnehmung der Individuen wird die Position innerhalb der Verteilung wichtiger und die Selbsteinordnung in Gruppen würde zunehmend durch chancen- oder einkommensbezogene Indikatoren vor- genommen. Politisch könnten entstehende homogene Gruppen populistische „Wir gegen Sie“-Diskurse befeuern und Selbstsegregation nach sozialen Milieus stärken.13 Politische Phänomene wie die Gilets jaunes, Black Lives Matter, Brexit und der Aufstieg populistischer Parteien können als Ausdruck der Unzufriedenheit mit wachsender empfundener Ungleichheit im Sinne der Bevorzugung bestimmter Gruppen vor der eigenen gesehen werden. Langfristig könnte Ungleichheit somit die politische Zersplitterung und den Zuspruch für extreme Parteien bzw. Politiken manifestieren.

2. Politische Anreizprobleme treffen auf ökonomische Zielkonflikte

Uneinigkeit und Anreizprobleme führen zum Kurieren von Symptomen …

In den verteilungspolitischen Debatten besteht zumeist eine gewisse Einigkeit bei der Einschätzung von Symptomen, die Vielzahl unterschiedlicher Indikatoren bietet allerdings Möglichkeiten zur interessengeleiteten Argumentation. Streit entsteht häufig bei der Frage nach den Ursachen und mehr noch bei der nach den geeigneten Maßnahmen.

Im Ergebnis hat die Große Koalition in den vergangenen zwei Legislaturperioden eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, die monetäre Leistungen und Rechte/Ansprüche der Betroffenen und einzelner Klientelgruppen verbessert haben. Aus politökonomischer Sicht sind kurzfristig wirksame Verteilungsmaßnahmen durchaus rational, weil zunächst wenig Konfliktpotenzial besteht und die eigenen Wähler „belohnt“ werden können (Rent seeking). Knappe Finanzmittel sind dennoch auf lange Frist gebunden – ist eine Leistung da, geht sie so schnell nicht wieder.

… und verhindern die Behebung struktureller Probleme

Insgesamt blieben die strukturellen Rahmenbedingungen für eine langfristige Besserstellung aus eigener Kraft, etwa durch bessere (Weiter-)Bildungsangebote, Zukunftsausrichtung des Arbeitsmarktes und Erschließungsmöglichkeiten neuer Einkommensquellen, weitgehend unverändert. Wichtige Investitionen in Schulen und Bürokratie, Infrastruktur und Innovationsförderung wurden in die Zukunft verschoben. Damit hätte nicht nur die Ungleichverteilung reduziert, sondern auch das langfristige Wachstumspotenzial und die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts verbessert werden können. Perspektivisch wird sich daran vermutlich nicht viel ändern, eher werden heterogenere Regierungskoalitionen die Einigung auf konsistente, zukunftsgerichtete Projekte weiter erschweren.

Leistungsanreize oder Teilhabe

Aus ökonomischer Perspektive spielen kurz- und langfristige Auswirkungen auf die Wirtschaft eine Rolle. Zu den Mechanismen existieren verschiedene Sichtweisen, die sich zumeist den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit oder der Bedarfsgerechtigkeit zuordnen lassen. Erstere erachtet ein gewisses Maß an Ungleichheit als wachstumsfördernd, weil es Anreize zu Innovation und unternehmerischer Tätigkeit setzt. Zudem wird auf Effizienzverluste der (Umverteilungs-) Bürokratie hingewiesen. Die andere Sichtweise betont, dass ein gewisses Einkommen notwendig sei, um am sozialen Leben teilzunehmen und intergenerationale Mobilität zu gewährleisten. Bei zu großer Ungleichheit gingen der Gesellschaft potenziell Talente verloren, da sie aufgrund mangelnder materieller Ausstattung keine Chance auf eine gute Bildung und Entdeckung ihrer Potenziale haben. Letztlich sind die Sichtweisen durchaus kompatibel, die Debatte entzündet sich eher daran, wie Politik beide zum Ausgleich bringen kann.

Sozialtransfers stabilisieren fehlende Nachfrage, können aber die Innovationsdynamik schwächen

Hohe Ungleichheit kann sich auch negativ auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auswirken, weil Haushalte mit höheren Einkommen relativ mehr sparen. Dies kann die Unternehmensgewinne aufgrund geringerer (Skalen-)Erträge reduzieren und zu Arbeitsplatzverlusten führen. In der globalisierten Welt können die Ersparnisse zudem ins Ausland abwandern und stehen damit auch nicht mehr für höhere inländische Investitionen zur Verfügung. Mit diesem Argument versucht Verteilungspolitik mittels Sozialtransfers die kurzfristige Nachfrage zu stabilisieren, sorgt aber gleichzeitig für eine Verdrängung der Nachfrage nach innovativen, qualitativ hochwertigeren Produkten in der langen Frist.

Die Zielkonflikte spielen in der politischen Debatte oft keine Rolle

Zumindest theoretisch könnte sich daraus ein aus ökonomischer Sicht „optimaler“ Grad der Ungleichheit bzw. eine optimale Höhe der Transferausgaben ergeben. Allerdings dürfte diese zeit- und pfadabhängig sein. Die Ergebnisse empirischer Bestimmungsversuche sind in hohem Maße von der Methode und den gesetzten Annahmen abhängig und oft interessengetrieben. In der gesellschaftlichen und politischen Debatte spielen ökonomische Trade-offs ohnehin kaum eine Rolle. Zumeist wird dort nur das Argument bemüht, mit dem das gerade verfolgte politische, gesellschaftliche Verteilungsziel unterstützt werden kann (Motivated reasoning). Fokussieren wir uns daher erst einmal auf die Evidenz.

3. Bestandsaufnahme – global und in Deutschland

Der Aufstieg Asiens verringert die globale Ungleichheit

Bei der überwiegend national geführten Verteilungsdebatte wird häufig nicht realisiert, dass auf globaler Ebene die Ungleichheit der Einkommensverteilung zwischen den Ländern aufgrund des Aufholprozesses Chinas und anderer asiatischer Staaten in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen hat. Der globale Gini-Koeffizient sank von 0,69 auf 0,65 von 2003 bis 2013. Im selben Zeitraum verdoppelte sich das globale Medianeinkommen, gemessen in realen Kaufkraftparitäten, von USD 1090 auf USD 2010.

Die asiatische Mittelschicht und obersten Einkommen gewinnen zulasten der Unter- und Mittelschicht in Industrieländern

Ungleichheitsforscher um Thomas Piketty zeigen, dass die größten Zuwächse in den globalen Einkommen zwischen 1980 und 2016 in den unteren vierzig sowie im obersten Prozent der globalen Einkommensverteilung verortet sind. Erstere sind insbesondere die Bewohner asiatischer Länder, die durch Industrialisierung und Arbeitsplatzschaffung enorm von der Globalisierung profitieren konnten. In den letzten 30 Jahren wurden auf diese Weise viele Millionen Menschen aus der Armut gehievt. Stärker haben nur die globalen Top 1% von der Globalisierung des Kapitalverkehrs und den Wertschöpfungsketten profitiert. Menschen in unteren und mittleren Schichten in Industrieländern profitierten am wenigsten.14

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In der Summe ging zwar wegen der globalen Angleichung der Einkommen die Ungleichheit global zurück – innerhalb der Länder nahm sie jedoch zu. In den aufholenden asiatischen Ländern ist eine urbane Mittelschicht entstanden, die sich einkommensseitig von der ländlichen Bevölkerung abgesetzt hat. In westlichen Ländern verloren die Einkommensmittel- und -unterschicht. Der Anteil der unteren 50% am Nationaleinkommen sank hier in nahezu allen Ländern. In Deutschland ging er zwischen 1980 und 2019 um vier Prozentpunkte auf 19% zurück. Die obersten 10% bauten ihren Anteil an den Wohlstandszuwächsen aus. In Deutschland liegt ihr Anteil am Nationaleinkommen nun bei rund 38%.

Der Teil der Bevölkerung zwischen dem 50. und 90. Perzentil erhält in Deutschland heute rund 44% des erwirtschafteten Einkommens. Westeuropäische Länder waren insgesamt allerdings erfolgreicher als die USA, die Divergenz der Vorsteuereinkommen strukturell zu verlangsamen. Die letzte größere Drift der Einkommensverteilung ist 2013 zu verorten.15

Kontinentaleuropäische Industrieländer verteilen am meisten um

Im Vergleich der OECD-Länder sind die Einkommen, gemessen am Gini-Index, in Deutschland mit rund 0,53 Punkten relativ ungleich. Lediglich in den angelsächsischen Volkswirtschaften – USA, das Vereinigte Königreich und Irland – und in Italien sind sie ähnlich ungleich verteilt, doch nur in Irland wird in ähnlichem Ausmaß umverteilt. Die Ungleichverteilung der Markteinkommen ist bei Deutschlands kontinentaleuropäischen Nachbarn geringer, aber die Umverteilung ist ähnlich ausgeprägt. Länder mit geringerem Pro-Kopf Einkommen außerhalb Europas verteilen, vermutlich aufgrund mangelnder Mittel, weniger um. Es besteht insgesamt allerdings kein direkter Zusammenhang zwischen der (Ungleich-)Verteilung der Markteinkommen und dem Lebensstandard. Vielmehr ist die Verteilung der verfügbaren Einkommen das Ergebnis des gewählten Sozialstaatmodells. Der Grad der Umverteilung hängt offensichtlich von den Präferenzen der Bevölkerung bezüglich der Rolle des Staates in der (Re-)Allokation von Einkommen ab.

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Einkommensungleichheit in Deutschland seit 2005 nahezu konstant

Gemessen am Gini-Koeffizienten stieg die Ungleichverteilung der Markteinkommen in Deutschland – mit seinen intensiven Verflechtungen in die internationale Arbeitsteilung – seit 1973 bis ungefähr 2005 an.16 Zunehmende Umverteilung hat die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen lange relativ stabil gehalten oder sogar gesenkt.

In den letzten 15 Jahren seit 2006 liegt der Index für Markteinkommen, abgesehen von einem Sprung um 2013, relativ konstant bei etwa 0,55 Punkten. Einem initialen Anstieg der Ungleichheit in den Markteinkommen, vermutlich mit den im Zuge der Agenda 2010 im Jahr 2005 umgesetzten Hartz-Reformen, standen Transfers und positive Arbeitsmarkttrends gegenüber, die den Anstieg der Ungleichheit gemessen an den verfügbaren Einkommen zum Teil absorbiert haben. Die Entwicklung des Gini-Index verdeutlicht, dass sich zumindest auf aggregiertem Niveau die Verteilung der Einkommen zuletzt nicht nennenswert verändert hat.

Einkommen divergierten, doch untere Einkommensschichten holten zuletzt auf

Die realen verfügbaren Einkommen haben in allen Dezilen der Verteilung seit 2005 zugenommen. Die Entwicklung geschah in zwei Episoden. Die Jahre 2006 bis 2014 sind von Divergenz geprägt. Ab 2015 hat ein Aufholprozess eingesetzt, in dem die Einkommen der unteren Hälfte der Verteilung im Durchschnitt um etwa einen Prozentpunkt stärker stiegen. Auf die Verteilung des gesamten verfügbaren Einkommens hatten die unterschiedlichen Wachstumsraten kaum Einfluss.

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Aufgrund staatlicher Unterstützungsleistungen hatte Corona kurzfristig wenig Einfluss auf die Verteilung. Langfristig droht wachsende Ungleichheit

Die Corona-Pandemie hat das Berufsleben vieler Menschen komplett verändert. Im Einzelhandel, Restaurant- und Kulturbetrieb mussten viele ihre Tätigkeiten über lange Zeit einstellen. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie haben Menschen an den unteren Enden der Einkommensverteilung aufgrund ihrer beruflichen oder sozialen Lage am stärksten getroffen. Das gilt im Besonderen für Alleinerziehende mit Kindern, Migranten und Menschen in nicht sozialversicherungspflichtigen Jobs. Der Staat hat kurzfristig die Einkommenseinbußen durch umfangreiche Maßnahmen abfedern können. Die untersten zwei Einkommensdezile haben laut einer Studie sogar profitiert.17 Langfristig droht die Ungleichheit allerdings aufgrund der eingeschränkten Förderungs- und Bildungsmöglichkeiten, des beschleunigten Strukturwandels und permanenten Wegfalls von Arbeitsplätzen zuzunehmen.18

4. Treiber und Einflussfaktoren

Die Einkommensverteilung ist Ergebnis des Gesellschaftssystems und seiner spezifischen Wirtschaftsstruktur sowie der historisch gewachsenen Verteilung der Produktionsfaktoren. Dementsprechend vielschichtig sind die Treiber der (Ungleich-)Verteilung.

Standortverlagerungen und technologischer Wandel, …

Im Zuge der Globalisierung wurden Teile der Wertschöpfungskette ins Ausland verlagert und zahlreiche Jobs im Ausland geschaffen. Technologischer Fortschritt versetzte Unternehmen in die Lage, Produktionsprozesse zu automatisieren. Beides reduzierte die Nachfrage nach gering- bis mittelqualifizierten Arbeitskräften im produktiven Gewerbe19, deren Anteil insbesondere in den 1990er Jahren bis ca. 2005 erheblich sank und deren Abwärtstrend im Unterschied zu den USA unter anderem durch den Anstieg der Exporte nach China gestoppt wurde. Gleichzeitig setzte ab 2006 eine starke Zunahme der Beschäftigung im Dienstleistungssektor, insbesondere in Teilzeitstellen, ein, die mutmaßlich zur Polarisierung in großen Städten beigetragen hat.20 Lohnpolarisierung innerhalb von Industrien ist unter anderem auf Unternehmen mit hoher Produktivität und Innovationskraft zurückzuführen, die ihre Mitarbeiter für die gleichen Aufgaben besser entlohnen als ihre Konkurrenten. Zudem beinhalten die durch Innovation neu geschaffenen Arbeitsplätze zumeist komplexe und besser entlohnte Tätigkeiten.21

… sinkende Gewerkschaftsmacht …

Negativ auf die Lohnentwicklung dürfte sich zudem der abnehmende Organisationsgrad der Arbeitnehmer und die Entwicklung der Tarifabdeckung ausgewirkt haben. Die Anzahl der Mitglieder in Gewerkschaften des DGB hat sich seit 1994 um rund vierzig Prozent auf 5,8 Millionen reduziert. So hat sich der Anteil der ohne Tarifvertag Beschäftigten in Westdeutschland in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt, von 29 Prozent im Jahr 2001 auf 47 Prozent 2020. In Ostdeutschland nahm er dagegen im gleichen Zeitraum von 43,8 Prozent auf 57 Prozent zu. Zudem wurde die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften durch die Möglichkeit der Verlagerung von Produktionsstandorten ins Ausland beschränkt.22 Der sinkenden Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer im Niedriglohnsegment wirkte 2015 die Einführung des Mindestlohns entgegen, der einen relativ großen Teil der Lohnzuwächse in dem anschließenden Zeitraum erklären kann.23

… und erhöhte Migrationsströme üben Druck auf die Einkommensentwicklung am unteren Ende der Verteilung aus

Am unteren Ende des Arbeitsmarkts kommt verstärkend hinzu, dass die Zunahme der Migrationsströme aus Osteuropa in den 90ern und Nullerjahren das Angebot ausgeweitet hat und somit für einen zusätzlichen Lohndruck sorgt. Die Zuströme Geflüchteter – insbesondere ab 2015 – dürften den Effekt mittelfristig verstärken. Dabei geht es nicht nur um die direkten Arbeitskräfte, sondern perspektivisch um die zweite und dritte Generation, deren Zugang zu Bildungschancen aktuell wesentlich schlechter ist. Menschen mit Migrationshintergrund sind zudem seltener in Gewerkschaften organisiert.

Finanzielle Globalisierung …

Die Globalisierung hatte neben der direkten Auswirkung auf den Arbeitsmarkt auch die Spielräume für das staatliche Steuer- und Transfersystem reduziert. Die Liberalisierung von Kapitalmärkten hat die Mobilität und dadurch die Renditepotenziale des Produktionsfaktors erhöht und Steuersysteme unter Druck gesetzt. Vor dem Hintergrund wurde in westlichen Industrieländern die Besteuerung von Unternehmensgewinnen reduziert und durch höhere Konsumsteuern ersetzt, die tendenziell untere Einkommensschichten aufgrund höherer Konsumquoten überproportional belasten. Höhere Sozialversicherungsabgaben reduzierten die verfügbaren Einkommen von Arbeitnehmern mit mittlerem Einkommen.

… und sozio-demografische Faktoren setzen Einkommensverteilung unter Druck

Neben den Veränderungen ökonomischer Strukturen seit den 1980ern Jahren haben soziale Faktoren eine große Rolle gespielt. Die Bildungsoffensive hat den Anteil der Studierenden stark steigen lassen. Der Einkommensverzicht dürfte kurzfristig die Ungleichheit verglichen mit gleichaltrigen Arbeitenden erhöht haben, langfristig dürften höhere Einkommenszuwächse und die Möglichkeit zum Aufbau von Kapitaleinkommen gewirkt haben. Weiterhin dürfte die Verringerung der durchschnittlichen Haushaltsgröße zu wachsender Einkommensungleichheit beigetragen haben. Die Anzahl der alleinstehenden und alleinerziehenden Haushalte hat sich seit den 1990er Jahren erhöht. Laut Jahresgutachten 2017/2018 des Sachverständigenrates (SVR) seien die Einkommen innerhalb der beiden Haushaltstypen verglichen mit Paarhaushalten ungleicher verteilt.24

5. Wo sollte die Politik ansetzen?

Unser Bildungssystem muss mehr Chancenbereiter sein …

Gute Bildung ist ein Chancenbereiter für eine freiere Berufswahl, anspruchsvollere Tätigkeiten und die Generierung innovativer Ideen. Zusätzlich zu den Möglichkeiten der Verdienstzuwächse ist höhere Bildung zunehmend eine Notwendigkeit. Gut bezahlte Stellen in teilweise gänzlich neuen Branchen erfordern höhere Qualifikationen. Allerdings sind Bildungsergebnisse in Deutschland noch immer stärker durch die Herkunft und das soziale Milieu geprägt als in vielen anderen Ländern.25 Bereits vor Corona stand das Bildungssystem vor Herausforderungen. Laut BMBF stagniert der Anteil der Gymnasialschüler unter Kindern   in der 8. Klasse seit 2010 bei 38%. Insbesondere die Qualifikation von Zugezogenen stellt eine Herausforderung dar. 2018 betrug der Ausländeranteil an Gymnasien gerade einmal 5%, verglichen mit 25% auf der Hauptschule.26 Die Pandemie hat die herkunftsbedingte Ungleichheit der Kompetenzentwicklung weiter verschärft und könnte langfristig negative Auswirkungen auf die Einkommensentwicklung haben. Maßnahmen zum Gegensteuern ließen sich aufteilen  in solche, die individuelle Leistungen und Engagement belohnen und auf Eigeninitiative, z.B. in Form von Mentoring- und Förderangeboten setzen, und solche, die Belastungen während der Aus- und Weiterbildung durch Transfers und Kostenübernahmen abfedern. Dem übergeordnet stehen strukturelle Maßnahmen, die auf die Orientierung der Lerninhalte an zukunftsrelevanten Themen und die qualitative Weiterentwicklung der Lehre abzielen.27 Politisch herrscht Einigkeit über das Ziel, über das „Wie“ wird entlang der Parteilinien heftig gestritten, da insbesondere hinter den beiden Erstgenannten unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien stehen.

… und könnte dabei langfristig Wachstum sichern und zu Lohnangleichung führen

Bildung determiniert zu einem großen Teil das spätere Einkommen. Deutschland hat hier im internationalen Vergleich noch viel Potenzial. Im OECD- Durchschnitt verdienen Vollzeitbeschäftigte rund 54% mehr als Gleichaltrige ohne Tertiärabschluss – in Deutschland sind es 60%. Volkswirtschaftlich steigt mit Ausweitung von Qualifikationschancen das Angebot von Fachkräften. Sie würden das allgemeine Niveau anheben und mehr Segmente des Arbeitsmarktes durchdringen. Dadurch würden die Bildungsrenditen steigen und damit die Einkommensungleichheit zwischen den Qualifikationsstufen sinken. Bildung weckt Kreativität und Neugier und schafft Selbstbewusstsein für neue Aufgaben und Verantwortung. Tatsächlich sind die größten Einkommensanstiege als Angestellte auf Beförderungen in den ersten Berufsjahren zurückzuführen, in denen junge Menschen energiegeladen aus der Ausbildung kommen.28

Menschen mit tertiärem Abschluss gründen darüber hinaus überdurchschnittlich häufig Unternehmen – ein Prozess, der für alle Bevölkerungsgruppen strukturell vereinfacht werden muss. Im internationalen Vergleich ist die Gründerquote in Deutschland sehr gering. Umfragen verweisen insbesondere auf bürokratische Hürden, mangelnde Finanzierung und unzureichende Vorbereitung im gesellschaftlichen Kontext.29 Das manifestiert sich insbesondere dadurch, dass die Fortführung einer Familientradition laut GEM-Expertenbefragung das wichtigste Gründungsmotiv ist. Insgesamt spielt die (Aus-)Bildung die Hauptrolle darin, Chancen zu sozialer Mobilität durch gute Jobs und Innovationsgeist zu generieren. Daher sollte man vermehrt an der bedarfsgerechten inhaltlichen Qualität der schulischen Ausbildung ansetzen, um kognitive Potenziale schon früh zu  fördern und gute Abschlüsse zu ermöglichen, ohne dabei die Qualität der Abschlüsse zu verwässern.

In Zukunft wird jedoch auch der Bedarf an Arbeitskräften mit tendenziell niedriger fachlicher Qualifikation im Bereich der manuellen, nicht skalierbaren Dienstleistungen zunehmen. Die Corona-Pandemie hat uns die herausragende Bedeutung vieler Berufe in diesem Feld vor Augen geführt. Hier wird die Entlohnung letztlich oftmals zur Gerechtigkeitsfrage erhoben.

Der Staat kann durch direkte und indirekte Maßnahmen auf die Lohnentwicklung einwirken. Das prominenteste direkte Instrument ist der Mindestlohn, der bereits 2015 (aktuell beträgt er EUR 9,50/Stunde) eingeführt wurde. Zumindest bislang sind befürchtete negative Effekte auf die Beschäftigung nur in geringerem Maße eingetreten. Der Mindestlohn kann sinnvoll sein, wenn die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber strukturell zu schwach ist, um der Produktivität entsprechende Löhne durchzusetzen. Auf eher indirektem Wege kann der Staat durch das Setzen der Löhne im öffentlichen Dienst in den Wettbewerb eingreifen. Das trifft vor allem auf Bereiche zu, in denen der Staat unmittelbar mit privaten Arbeitgebern in Konkurrenz steht, z.B. im Erziehungs-, Bildungs- oder Gesundheitssektor. Höhere Löhne bei staatlichen Dienstleistern könnten Lohndruck nach oben auf die Privaten ausüben. Alternativ könnte der Staat mittels Auflagen zur Einhaltung von Tarifstandards  für öffentliche Aufträge Anreize für bestimmte Branchen setzen.

Ob eine Präferenz für die dauerhafte Anhebung der Löhne über das Niveau der – schwer messbaren – Produktivität bestimmter Berufsgruppen besteht, zeigt sich in der Zahlungsbereitschaft der Konsumenten. Letztlich sind Unternehmen langfristig nur in der Lage höhere Löhne zu zahlen, wenn sie die zu deren Zahlung nötigen Preise auf dem Markt durchsetzen können. Solange der Preis das primäre Kriterium für Konsumentscheidungen ist, wird Lohndruck in diesen Berufen bestehen bleiben. Eine Politik, die diese „natürliche“ Divergenz anerkennt, müsste an der Verteilung der Primäreinkommen ansetzen, d.h. direkt in die Lohnstruktur eingreifen – dies bleibt ein ordnungspolitischer Balanceakt.

Die Korrektur der Primärverteilung durch das Steuer- und Transfersystem muss effektiver werden

Wo die Primärverteilung adressierende Maßnahmen nicht wirken (können), kann der Staat durch Transferleistungen die Ungleichheit der verfügbaren Ein- kommen glätten. Hier liegt der Trade-off zwischen der Generosität der Maßnahmen und der Gefahr adverser Anreizsetzung. Sie sollten daher eher als Ergänzung zu Maßnahmen vor und entlang der Primärverteilung dienen. Die Komplexität individueller Hintergründe und sozialer Umstände erschwert das genaue Adressieren der Bedürftigen und sind mit beidseitig höheren Kosten der Beanspruchung bzw. Kontrolle der Anspruchsprüfung verbunden. Ein „Verteilen mit der Gießkanne“ erfährt aufgrund von Anreizproblemen und Mitnahmeeffekten nur geringe Akzeptanz bei den Steuerzahlern.

In diesem Spannungsfeld wirken viele gut gemeinte Einzelmaßnahmen für Geringverdienende aufgrund der Interaktion komplexer Anspruchsbeziehungen teilweise sogar kontraproduktiv. Der Fokus der Politik sollte daher darauf liegen, nicht mehr, sondern erst einmal effektiver umzuverteilen und gleichzeitig mehr Anreize für zusätzliche Verdienste zu bieten. Das ifo Institut hat 2018 in einer Studie gezeigt, dass die effektive Grenzbelastung bei Familien im unteren Einkommensbereich zwischen 80 und 100% liegt. Jeder zusätzlich verdiente Euro kommt aufgrund impliziter Besteuerung bzw. des Wegfalls von Leistung dem Nettoeinkommen also nur mit maximal 20 Cent zugute. Bei Einkommen zwischen EUR 1.750 und 2.500 Haushaltsbruttoeinkommen bleibt je nach Familienkonstellation nichts von dem Mehrverdienst übrig, weil zuvor gezahlte Unterstützungen (zu schnell) abgeschmolzen werden oder sich gegenseitig aufheben.30

Vor dem Hintergrund der Komplexität erscheinen einfache und übersichtliche Konzepte sinnvoller. Von liberaler Seite wird häufig eine negative Einkommenssteuer ins Spiel gebracht, wie sie unter anderem von Milton Friedmann vorgeschlagen wurde. Dabei würden Einkommen unterhalb einer festgelegten Grenze mit einem Steuersatz auf die Entfernung zum Grenzwert belegt. Die so berechnete Steuer würde dann als Einkommen vom Staat bezahlt. Verfechter argumentieren, der Vorteil des Systems liege darin, dass keine negativen Arbeitsanreize entstünden, weil Haushalte immer von höherem Einkommen profitierten.

Zweitens belaste es Unternehmen nicht zusätzlich. Drittens wäre sie effizient, weil sie nicht aktiv auf dem Arbeitsmarkt eingreifen würde. Eine Anpassung an die Lohnentwicklung wäre relativ unkompliziert möglich. Die Grenze selbst unterläge allerdings sehr stark politischen Machtverhältnissen.

Eine radikalere Alternative wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE). Hier wird jedem Menschen, unabhängig von der Bedürftigkeit, ein fixer Betrag überwiesen. Damit wird aber der Anspruch einer Zielgruppengerichteten Wirkung vollständig aufgegeben. Die Anreizwirkung ist unklar. Auf der einen Seite dürften Mitnahmeeffekte entstehen und Empfänger könnten ihre Arbeitszeit zugunsten von mehr Freizeit reduzieren. Auf der anderen Seite könnten aber durch ein BGE auch Gelegenheiten für (Weiter-)Bildung und unternehmerische Tätigkeit geschaffen werden, die sonst aufgrund der temporären Einkommensverluste für viele nicht möglich sind. Außerdem ist unklar, inwieweit eine Kopfpauschale effektiv den Wegfall anderer Leistungen kompensieren würde, der von Befürwortern argumentiert wird. Eine Policy Note der OECD aus dem Jahr 2017 hat vorgerechnet, dass ein budgetneutrales BGE kaum Vorteile für untere Einkommensschichten hätte.31

Letztlich wird die Entwirrung des Sozialtransfersystems ein Kraftakt, der nicht durch ideologisch geleitete Forderungen gelingt, sondern für den zunächst operativer Pragmatismus, kritische und unabhängige Evaluierungen bestehender und geplanter Maßnahmen insbesondere mit Blick auf deren Wechselwirkungen notwendig sind.

6. Fazit

Historisch betrachtet befindet sich die Ungleichheit der Markteinkommen in Deutschland als Resultat verschiedener gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklungen im späten 20. Jahrhundert auf einem relativ hohen Level, dem der Staat durch ein hohes Maß an Umverteilung entgegenwirkt. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung stagniert die gemessene Ungleichverteilung seit Mitte der 2000er Jahre weitestgehend. Dass dennoch zunehmend Rufe nach staatlicher Umverteilung laut werden, ist wohl eher auf wahrgenommene Ungleichheit und die inflationäre und opportunistische Verwendung des Begriffs „Ungerechtigkeit“ durch jedwede Interessengruppe als ultimatives, nicht zu übertrumpfendes Argument zur Begründung der jeweiligen Forderungen zurückzuführen. Außerdem dürften ungleiche Bildungschancen und begrenzte soziale Mobilität sowie die generelle Polarisierung der politischen Debatte eine Rolle spielen.

Unseres Erachtens wäre es sinnvoll, wenn der Staat den Menschen Anreize  und Chancen bieten würde, durch eigenverantwortliches wirtschaftliches Handeln, Bildung und Unternehmertum aufzuschließen. Wir sehen eine ausgewogenere Primärverteilung als Resultat guter Politik, die Leistungsanreize setzt und Catch-up-Prozesse innerhalb von Gesellschaften ermöglicht. Dies wäre den Betroffenen und dem Steuerzahler gegenüber fairer und die Gesellschaft insgesamt würde langfristig mehr profitieren als von Ad-hoc-Umverteilung in kleinteiliger Klientelpolitik und überbordender Bürokratie.

Wo das aufgrund objektiver Gegebenheiten nicht möglich oder schlicht zu spät ist, kann der Staat in die Einkommensverteilung aktiv eingreifen. Dabei besteht die Gefahr der Ex-post-Umverteilung der Markteinkommen in inhärenten Effizienzverlusten durch erhöhte Bürokratie, Fehlallokation und adverse Anreizwirkung sowie den Anreiz für Politiker, Partikularinteressen im politischen Prozess durchzusetzen. Bei grundlegenden verteilungspolitischen Maßnahmen sollte die Politik die damit intendierten positiven und negativen Verteilungseffekte offenlegen. Dies gelingt offenkundig durch klare, einfache Leitregeln. Unabhängige Institutionen sollten Verteilungswirkungen evaluieren und die politischen Akteure öffentlichkeitswirksam zu Korrekturen anhalten.

In der kommenden Dekade dürften die Digitalisierung und künstliche Intelligenz, der Weg hin zu einer CO2-neutralen Gesellschaft, retardierende Effekte der Globalisierung und die schrumpfende Erwerbsbevölkerungen durch ihre asymmetrischen Wirkungen neue, tendenziell schärfere Verteilungskonflikte mit sich bringen – insbesondere da diese Trends insgesamt wohl eher das Potenzialwachstums verringern werden und damit geringere Einkommenszuwächse für Umverteilung zu Verfügung stehen werden. Der Politik dürfte es zunehmend schwerer fallen, die Ansprüche einer alternden, auf den Schutz des Status quo fixierten Gesellschaft zu erfüllen, ohne die Leistungsfähigkeit des Systems zu überfordern.

Fußnoten

1     WSI (2020). Verteilungsbericht 2020.

2     ZEIT ONLINE (2021). Regierung einigt sich auf bessere Löhne für Pflege. Verfügbar unter: Alten-  pflege: Regierung einigt sich auf bessere Löhne für Pflegekräfte, ZEIT ONLINE, 30. Mai. Zuletzt abgerufen am 16.07.2021.

3     Anderson et al (2021). Monetary Policy and Inequality; Dolado et al (2021). Monetary Policy and Inequality under Labor Market Frictions and Capital-Skill Complementary; Schularick et al (2021). Monetary policy and racial inequality.

4     IPSOS (2021). What worries the world, June 2021.

5     Statistisches Bundesamt (2021). Datenreport 2021. Sozialbericht für Deutschland.

6     Sonntagsfrage, Forsa, 18.08.2021.

7     Obwohl die Grünen momentan vermutlich überwiegend wegen klimapolitischer Positionen Zu- spruch erhalten, ordnen wir sie hier aufgrund ihrer sozialpolitischen Agenda zusammen mit der SPD und den Linken ein.

8     Gemessen an der relativen Differenz des Gini-Index zwischen Markt- und verfügbaren Einkom- men.

9     BMAS (2019). Sozialbudget 2019.

10   Judith Niehues (2014). Subjektive Ungleichheitswahrnehmung und Umverteilungspräferenzen.

11   Bublitz (2017). Misperceptions of income distributions: Cross-country evidence from a random- ized survey experiment.

12   Engelhardt, Wagener (2016). What do Germans think and know about income inequality? A sur- vey experiment.

13   Windsteiger (2017). The Redistributive Consequences of Segregation; Dorn et al (2018). Inequal- ity and Extremist Voting: Evidence from Germany.

14   Alvaredo et al (2018). The Elephant Curve of Global Inequality and Growth.

15   Alvaredo et al (2018). World Inequality Report 2018.

16   Die Standardized World Inequality Database (SWIID) liefert die umfassendsten international ver- gleichbaren Schätzungen der Einkommensungleichheit auf Länderebene.

17   Bruckmeier et al (2020). COVID-19 Krise: Kein Anstieg der Einkommensungleichheit.

18   Leopoldina (2021). Ökonomische Konsequenzen der Coronavirus-Pandemie.

19   Geishecker (2002). Outsourcing and the Demand for Low-skilled Labour in German Manufactur- ing: New Evidence.

20   Dauth, Findeisen, Suedekum (2017). Trade and Manufacturing Jobs in Germany; Dauth (2014). Job polarization on local labor markets.

21   Cortes et al (2020). Technological Change, Firm Heterogeneity and Wage Inequality.

22   Felbermayr, Baumgarten (2014). Increasing Wage Inequality in Germany. What Role Does Global Trade Play?

23   Bossler, Schank (2020). Wage Inequality in Germany after the Minimum Wage Introduction.

24   Sachverständigenrat (2018). Jahresgutachten 2017/2018.

25   BMBF (2020). Bildung in Deutschland 2020.

26   BMBF (2020). Bildung und Forschung in Zahlen 2020.

27   Die Wissenschaftsakademie Leopoldina hat zuletzt umfangreiche Vorschläge gemacht. Hanushek, Woessmann (2020). The economic impacts of learning losses.

28   Bayer, Kuhn (2019). Which Ladder to Climb? Decomposing Life Cycle Wage Dynamics.

29   KfW-Gründungsmonitor (2020); Global Entrepreneurship Monitor (2020).

30   Bruckmeier et al (2018). Mehr Arbeitsanreize für einkommensschwache Familien schaffen.

31   OECD (2017). Basic income as a policy option: Can it add up?

 

Stefan Schneider und Henry Minör

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