Auch wenn das Gesundheitswesen gegenwärtig in der veröffentlichen Meinung kaum Raum einnimmt, wie hätte sonst die Ankündigung des einheitlichen Beitragssatzes von 15,5 % anders interpretiert werden können, greift die Frage nach der Zukunft des Gesundheitswesens in vielerlei Hinsicht Grundfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf. Eine der Fragen, die im Kontext der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, die immer noch im Probestadium ist, lautet, ob ein informierter Patient, ausgestattet mit mehr Patientenrechten besser an der Definition und Ausgestaltung des Gesundheitswesens der Zukunft mitwirken kann. Oder ist eine stärkere Patienteninformation nicht gar schädlich, da immer mehr Datenmengen und somit auch individuelle Informationen verfügbar sind. Ohne auf den letzten Aspekt im Detail eingehen zu wollen, der insbesondere im Kontext der jüngsten Probleme der Telekom relevant wurde, stellt sich die Frage nach einer besseren Gesundheitsinformation durchaus und gerade im Kontext einer Wettbewerbsumgebung. Laufen die Patienten nicht Gefahr gerade im Kontext eines Kassenwettbewerbs von einer bestimmenden Stelle dem Arzt zur anderen bestimmenden Stelle, den Versicherungsunternehmen, weitergereicht zu werden?
Wird ein Gesundheitswesen durch einen besser informierten Patienten zielgerichteter gesteuert? Die Forderung einer strukturierten Patienteninformation kennzeichnet verschiedene Aspekte der gesundheitspolitischen Debatte in den vergangenen Jahren, die eingeflossen ist in die Idee eines „patientenorientierten“ Gesundheitswesens, das den Nutzenaspekt des Patienten als Fokalpunkt wissenschaftlicher Auseinandersetzung wie politischer Ratschläge nutzen soll. Alle diese Ansatzpunkte rekurrieren auf das Potenzial des Patienten, an der Steuerung und Kontrolle des Gesundheitswesens teilzunehmen und fordern darüber hinaus, eine stärkere Nutzenorientierung zu befördern
Dabei gilt es, auf einige Grundzüge eines Krankenversicherungssystems einzugehen: Gerade in versichertenbezogenen Systemen steht die Krankenversicherung nicht nur als anonymer Kostenträger außerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung, sondern kann integrativer Teil dieser Leistungsgestaltung sein. Bei einem Modell eines versicherungszentrierten Gesundheitswesens wird die Krankenversicherung in der Regel nicht nur als Kostenerstatter tätig, sondern übernimmt als Agent des Prinzipals Patient die Aufgabe, qualifizierte und preiswerte Leistungserbringer auszuwählen. Diese Übernahme der Qualitätsgarantie von Seiten der Versicherung ist insbesondere dann für den Patienten vorteilhaft, wenn die Krankenversicherung einen nennenswerten Vorteil im Kontext des Wissens über Qualität und Kosten der Leistungserbringung hat. Gleichwohl wird der Patient ceteris paribus eingeschränkt, je stärker die Krankenversicherung direkt Einfluss auf die Leistungsgestaltung nimmt und insbesondere mit eigenen Investitionen an der Ausgestaltung von Leistungsversprechen beteiligt ist. Mit dieser Einschränkung der Arztwahl ist jedoch nicht zwangsläufig ein Widerspruch mit der Idee eines nachfrage- oder patientenorientierten Gesundheitswesens verbunden, wenn die Beschränkung im unmittelbaren Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient mit einer Ausweitung von Optionen im Versicherungsvertrag verknüpft werden kann. Wie im einfachen theoretischen Kontext bereits abgebildet wurde, wird die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen sowohl vom präferenzorientierten Part der Nachfrageentscheidung als auch vom Einfluss des Gesundheitswesens beeinflusst.
Gerade im Kontext einer fortschreitenden Spezialisierung der medizinischen Versorgung kann es aus Sicht des Patienten ein Vorteil sein, die Qualitätswahlentscheidung auf einen Kostenträger zu delegieren, der diese Entscheidung nicht nur formal sicherstellt, wie es im allgemeinen Kollektivvertragssystem in Deutschland üblich war, sondern der aktiv versucht, durch Auswahl und Steuerung der Leistungserbringer, Wettbewerbs- und Qualitätsvorteile im Vergleich zu anderen Versicherungsunternehmen zu generieren. Aus Sicht des einzelnen Patienten kann eine Einschränkung des Rechts zur freien Arztwahl beispielsweise dann wohlfahrtserhöhend sein, wenn der Erwartungsnutzen aus einer spezialisierten Behandlungsstruktur, die von einer Versicherung angeboten wird, die Einschränkungen aus der Reduzierung freier Arztwahl und den u. U. höheren Wegekosten überkompensiert. Im Kontext des Einsatzes hochwertiger medizinischer Innovationen lässt sich die Annahme plausibel begründen, dass im Zweifel eine spezialisierte fokussierte Versorgung bei ausgesuchten Spezialisten auch aus Sicht des Patienten gegenüber einem ungeordneten Behandlungsangebot bevorzugt wird. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass parallel dazu die Präferenz für wohnortnahe Versorgung bei vielen Patienten bestehen wird, insbesondere dann, wenn es sich um weniger spezielle Behandlungsanlässe handelt, sondern eher um Fragen der Erstversorgung.
Die aufgeführten Bedingungskonstellationen lassen sich auch dahingehend interpretieren, dass im Zuge einer weiteren Fortentwicklung des medizinisch-technischen Fortschritts und der damit einhergehenden Problematik einer Vergrößerung des „Möglichkeitenraumes“ in der Medizin die Verzahnung zwischen generellem Anspruch auf eine solidarisch gewährte Regelversorgung und die Frage der Umsetzung im Kontext eines Versicherungssystems an Bedeutung gewinnen werden. Die Krankenversicherung, soweit sie sich als mitverantwortlich bei der Steuerung und Kontrolle des Leistungsgeschehens begreift, ist daher nicht nur an der Umsetzung einer Regelversorgung beteiligt, sondern wird, je stärker die Differenzierung im Versorgungswettbewerb der Krankenversicherung zutreffen sollte, an der Definition und Fortentwicklung der Regelversorgung beitragen können.
Die Schlussfolgerungen aus der Annahme eines versicherungszentrierten Gesundheitswesens führen nun zu zwei grundsätzliche Fragen, die im Kontext eines nachfragegesteuerten Gesundheitswesen gelöst werden müssen: Einerseits ist die standardisierte Form des allgemeinen Regelleistungsanspruchs festzulegen, der notwendigerweise einheitlich die Versicherungspflicht definiert. Andererseits kann die Umsetzung der Regelleistungsgarantie durchaus außerhalb von einheitlichen Konditionen im Wettbewerb der Versicherungsangebote erbracht werden.
Die Frage nach der Abgrenzung einer Regelversorgung und dem Umfang der Patientenbeteiligung daran, ist ohne Bezugnahme auf die Verortung der Solidarprinzips im Kontext zum Wettbewerbssystem nicht zu führen. Die Auseinandersetzung mit dem Notwendigkeitsbegriff findet ihren Widerhall in der grundsätzlichen Aufgabe staatlicher Sozialpolitik, niemanden bei existenzbedrohenden Wechselfällen des Lebens ohne grundlegenden Schutz zu lassen.
Einerseits gilt es die Frage zu beantworten, wie der Patient bei der Entwicklung und Fortschreibung von Regelversorgung mitwirken kann. Andererseits bleibt die Frage zu klären, ob die Forderung einer Teilhabe an der Fortentwicklung der Regelversorgung, insbesondere an der Teilhabe am medizinisch-technischen Fortschritts, nicht notgedrungen an die Grenzen der Finanzierungsfähigkeit geht und somit die Forderung nach einer Patientenorientierung ins Leere läuft. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Nachfrage nach medizinischen Leistungen noch einmal aufzugreifen.
Das Ergebnis medizinischer Leistungen wird mit der Wirksamkeit beschrieben. Jedoch ist davon die Kategorie des Nutzens substantiell zu unterscheiden. Ein Patient beurteilt den Wert einer Gesundheitsleistung am erzielten Nutzen. Der Patient wird einerseits mit einer Gesundheitsleistung, beispielsweise einem Arzneimittel, zufrieden sein, wenn er durch diese Maßnahme länger und/oder besser leben kann als ohne sie. Andererseits wird ein Patient unzufrieden sein, wenn eine Gesundheitsleistung weder zu einer Verbesserung der Lebensqualität noch zu einer Verlängerung des Lebens führt, selbst wenn sie nach den Kriterien des Arztes wirksam ist. Ein Schlafmittel, das den Schlaf nachweislich um eine Stunde verlängert, ist zweifellos wirksam. Es wäre allerdings ohne Nutzen für den Patienten, wenn der Patient am anderen Tag unter Nebenwirkungen dieser Maßnahme leiden würde, die seinen Nutzen wieder aufheben würde.
Die Wirksamkeit wird in verschiedenen Dimensionen gemessen, sie sind vom angestrebten Zielparameter abhängig. Der Nutzen wird bei allen Maßnahmen letztendlich in denselben Dimensionen gemessen; diese Dimensionen sind Lebensquantität und Lebensqualität.
Kollektive Entscheidungen im Gesundheitswesen erfordern eine Definition des Nutzens, die über die individuellen Nutzenbestandteile hinausgeht. Die Unterscheidung zwischen Wirksamkeit und Nutzen hat unmittelbare Auswirkungen auf die Bewertung einer medizinischen Maßnahme. Da letztendlich jede wirksame Maßnahme, d. h. auch jedes wirksame Medikament, nicht nur die erwünschten Wirkungen hat, ist es aus Sicht der Patienten rational, eine Analyse des Wertes der medizinischen Maßnahme mit den Kosten vorzunehmen.
Die Problemstellung liegt nun darin, ob sich für die gesellschaftliche Ebene eine eindeutige Lösung der Nutzenbewertung zuordnen lässt. Da jedoch nicht für alle Indikationen eindeutige empirische Evidenz vorliegt und darüber hinaus nicht eindeutig Spontanverläufe oder Placeboeffekte bestimmt werden können, ist die Frage der Nutzenbewertung unmittelbar mit der Zuordnung der Nutzenbewertung verknüpft: Wer entscheidet, nach welchen Kriterien, was für die Gesellschaft (die GKV) ein nutzbringendes Diagnose- oder ein nutzbringendes Therapieverfahren ist?
Beispielsweise muss ein Regelsicherungsvertrag nicht notwendigerweise zum Inhalt haben, dass die Leistungen von jedem beliebigen Arzt erbracht werden. Wenn durch dezentrale Versorgungsarrangements – beispielsweise zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringern – Spezialisierungsvorteile entstehen, die gleichzeitig aber die regionalen Wahlmöglichkeiten für Versicherte reduzieren, steht dieser statischen Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten ein perspektivischer Wohlfahrtsgewinn in dynamischer Hinsicht gegenüber. Dies setzt allerdings voraus, dass es gelingt, durch regionale und dezentrale Modelle neue, verbesserte Versorgungsstrukturen zu befördern. Voraussetzung ist jedoch, dass der Wettbewerbsprozess zwischen den Krankenversicherungen und den Leistungserbringern durch eine einheitliche Wettbewerbsordnung bestimmt ist. Die Versicherungen können in einem derartigen Wettbewerb mit dem Versicherungsangebot ein bestimmtes Leistungsangebot koppeln und dadurch versuchen, ihre Aktionsparameter im Wettbewerb zwischen den Versicherungen zu erweitern.
Ein nachfragegesteuertes Gesundheitssystem gründet zunächst auf den informierten und selbstbewussten Patienten und Versicherten, eine Idealvorstellung, die mit verbesserten Informationsangeboten, stärkeren Aufklärungspflichten und insbesondere Aktivitäten zur Erhöhung der medizinischen Qualität sicherlich befördert werden kann. Doch wäre es vermessen, die Bedeutung der Krankenversicherung im Kontext des deutschen Gesundheitssystems gerade im Hinblick auf ein nachfrage- und patientenorientiertes Gesundheitssystem zu vernachlässigen.
Es kann somit die Schlussfolgerung gezogen werden, auch im regulierten Wettbewerb der GKV betätigen sich Krankenversicherungen als Unternehmen im funktionalen Sinne und sind daher nicht mehr Verwalter sondern agierende Akteure im Gesundheitswesen.
Darüber hinaus ist gerade die Idee eines „Wettbewerbs“ als Such- und Entdeckungsverfahren nur mit Krankenversicherungen möglich, die sich „unternehmerisch“ im Sinne dezentraler Experimente im Kontext der Gesundheitsversorgung bewegen wollen. Der Wettbewerbsprozess, auch wenn in vielerlei Weise noch reglementiert und kontrolliert, hat in den letzten Jahren einen tiefgreifenden Veränderungsprozess in der Kassenlandschaft gestaltet. Diese Veränderung als Herausforderung aber als Chance zu begreifen, ist die Option für eine Krankenversicherung in der Zukunft.
- Ein regulierter Markt für Organe - 6. April 2009
- Krankenkassenwettbewerb und der informierte Patient
Der Weg in die gleiche Richtung? - 22. Januar 2009 - Zur offenen „Reformbaustelle“ der Gesundheitspolitik: die Grundfragen sind zu stellen! - 5. April 2008