Gastbeitrag
EZB – Gleichgewichts-Störungen!

Die EZB erhöht die Leitzinsen wohl auch deswegen so zögerlich, weil sie den „gleichgewichtigen“ Zins, bei dem die Geldpolitik die Wirtschaft weder anschiebt noch bremst, viel zu niedrig schätzt. Diese von uns seit langem vertretene Einschätzung wurde zuletzt vom prominenten Ökonomen Ricardo Reis mit zusätzlichen Argumenten unterfüttert. Unseres Erachtens spricht seine Analyse nicht nur dafür, dass die EZB bei Zinsanhebungen zu sehr zögert, sondern auch mit dem neuen „Transmission Protection Instrument“ falsche Anreize setzt.

Wo liegt der neutrale Zins?

Angesichts der enorm hohen Inflationsraten verwundert es nicht, dass eine ganze Reihe von Tageszeitungen die Ergebnisse einer Studie des an der London School of Economics lehrenden Ricardo Reis ausführlich beschrieben hat. Reis hat untersucht, aus welchen Gründen die führenden Notenbanken weltweit das Inflationsrisiko derart unterschätzen konnten.

Reis argumentiert unter anderem, dass die Notenbanken den sogenannten „gleichgewichtigen“ oder auch „neutralen“ Zins, ab dem die Geldpolitik die Wirtschaft dämpft, deutlich unterschätzt haben, sodass sie beispielsweise die infolge der steigenden Inflationsrisiken notwendige Normalisierung der Geldpolitik viel zu zögerlich angegangen sind.

Die Einschätzung von Reis, dass Notenbanken den neutralen Zins unterschätzt haben, teilen wir zumindest in Bezug auf die EZB seit längerem (zuletzt hier). Allerdings ist im Vergleich zu unserer Argumentation Reis zu seinem Urteil mithilfe von viel grundsätzlicheren Überlegungen gelangt. Reis kritisiert die weitverbreitete Vorgehensweise, die Schätzung des neutralen Zinses aus Renditen von Staatsanleihen abzuleiten, also von Wertpapieren mit geringem Ausfallrisiko und hoher Liquidität. Dies erscheint zwar auf den ersten Blick verständlich: Schließlich soll der neutrale Zins als Orientierungspunkt für die Notenbanken dienen, die mit dem Leitzins ebenfalls einen sicheren Zins setzen. Der Vergleich zwischen neutralem Zins und (inflationsbereinigtem) Leitzins würde somit „risikogleich“ erfolgen. Aber laut Reis ist ein solcher Ansatz zur Bestimmung des neutralen Zinses aus ökonomischer Sicht unbefriedigend. Schließlich wurde der neutrale Zins ursprünglich definiert (von Wicksell 1898) als der Zinssatz, bei dem die Investitionen gleich den Ersparnissen sind und die Ressourcen der Wirtschaft voll ausgeschöpft werden. Für die Entscheidung über Investitionen und Ersparnis ist aber die Kapitalrendite entscheidend, und nicht etwa die Rendite von Staatsanleihen.1)

Dies wäre ein zwar theoretisch nachvollziehbarer, in der Praxis aber wenig relevanter Einwand, falls die Arbitrage zwischen den Zinsen und Renditen in der Volkswirtschaft funktionieren würde, also sich zum Beispiel die Staatsanleiherenditen und die Kapitalrenditen zumindest im längerfristigen Trend gleichläufig bewegen. Wie eine Grafik aus der Mitte des Jahres von Reis veröffentlichten Analyse zeigt, ist aber genau dies nicht der Fall (Abbildung 1). Im Gegensatz zu den im Trend fallenden Staatsanleihenrenditen bewegte sich die Kapitalrendite in den letzten zwei Jahrzehnten mehr oder minder seitwärts.2)

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Auch Bundesbank hat Seitwärtstrend der Kapitalrenditen betont

Nun ist Reis nicht der erste, der im Zusammenhang mit dem neutralen Zins den Seitwärtstrend der Kapitalrendite betont. Beispielsweise nahm die Kapitalrendite in einer 2017 veröffentlichten Analyse der Bundesbank zum neutralen Zins im Euroraum breiten Raum ein. Die Notenbank resümierte, dass die Dimension Risiko in allen gängigen Quantifizierungsansätzen des natürlichen Zinses ausgeblendet werde, indem in aller Regel sichere Anleiherenditen als Ausgangspunkt verwendet werden, obgleich „mit Blick auf die Realwirtschaft eine riskante Kapitalrendite ein geeigneterer Indikator“ sei. Bei Maßen für die Rendite auf Eigenkapital oder Gesamtkapital lasse sich ein langanhaltender Renditerückgang – wie bei den Staatsanleihenrenditen – nicht feststellen.

Abbildung 2 zeigt anhand der auch von der Bundesbank analysierten Nettorendite des gesamtwirtschaftlichen Kapitalstocks, dass der Seitwärtstrend der Kapitalrendite im Euroraum auch in den letzten Jahren – nach Veröffentlichung der Bundesbank-Analyse – zu beobachten war.

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Als eine mögliche Erklärung für die zunehmende Divergenz zwischen der Kapitalrendite und der Rendite von Staatsanleihen verweist die Bundesbank auf eine strukturell steigende Nachfrage nach risikoarmen Vermögenswerten. Die Notenbank betonte jedoch auch, dass eine Untersuchung der tieferliegenden Ursachen einer nahezu konstanten Eigenkapitalrentabilität bei gleichzeitig gesunkenen Zinsen auf Fremdkapital wünschenswert sei.

Fehlallokation des Kapitals

Genau diese liefert Reis. Er schließt zwar nicht aus, dass eine veränderte Risikoneigung ein möglicher Grund für das Auseinanderlaufen von Kapitalrenditen und Staatsanleihenrenditen ist: Die Divergenz der Renditen könne eine zunehmende „Besonderheit“ von Staatsanleihen widerspiegeln, da sie Sicherheit, Liquidität und andere Vorteile bieten, die eine höhere Nachfrage nach ihnen erzeugen und ihre geringere Rendite rechtfertigen.

Reis zeigt aber anhand einer umfangreichen Modellanalyse, dass das Auseinanderlaufen von Kapitalrenditen und Staatsanleihenrenditen auch durch finanzielle Friktionen zu erklären ist, die zu einer Fehlallokation des Kapitals weg von privaten Investitionen in den Kapitalstock und hin zu Finanzinvestitionen führt. Das behindert die Arbitrage, sodass die Kapitalrenditen von den im Trend fallenden Staatsanleihenrenditen nicht mit nach unten gezogen werden.

Reis verzichtet in seiner Modellanalyse darauf, Ursachen für die von ihm identifizierte Fehlallokation des Kapitals zu nennen. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Kapitalgeber angesichts des niedrigen und fallenden Zinsniveaus auf der Jagd nach Rendite sind, aber wegen des hohen Beschaffungsaufwands über unvollständige Informationen verfügen. Infolgedessen sind sie bereit, Gelder auch bei Unternehmen und Staaten anzulegen, die wenig solide aufgestellt sind. Diese sind bestrebt, dass allgemein niedrige Zinsniveau zu nutzen, indem sie sich für lange Zeit hoch verschulden. Kapital fließt damit in ineffiziente Finanzinvestitionen, was die Entstehung einer Blase an den Anleihemärkten fördert. Die Kehrseite ist, dass weniger Mittel in private Investitionen in den Kapitalstock fließen, was verhindert, dass die Kapitalrendite – im Gegensatz zu den Staatsanleihenrenditen – fällt.

Reis‘ Modell ist zu komplex, als dass es hier in Einzelheiten beschrieben werden kann. Wichtig ist aus unserer Sicht, dass sein theoretisches Modell die tatsächlichen Trends vieler wichtiger ökonomischer Variablen (u.a. Kapital- und Staatsanleihenrenditen, Wachstum, Inflation, Staatsverschuldung) korrekt beschreibt und Implikationen für die Finanz- und Geldpolitik liefert. Wir wollen uns im Folgenden auf die Folgerungen für die Geldpolitik der EZB konzentrieren.

Der neutrale Zins liegt höher

Reis‘ Modell impliziert, dass der neutrale Zins als ein gewichtetes Mittel der (divergierenden) langfristigen Trends von Kapital- und Staatsanleihenrenditen ermittelt werden sollte.3) Damit dürfte der neutrale Zins deutlich über den Erwartungen der EZB liegen. Aussagen von EZB-Ratsmitgliedern signalisieren, dass die Notenbank den neutralen (realen) Zins bei grob -½% verortet. Folglich besteht die Gefahr – auf die wir mit einer anderen Argumentation mehrfach hingewiesen hatten –, dass die EZB die Geldpolitik zu langsam normalisiert bzw. den Prozess zu früh beendet, sodass längerfristig Inflation oberhalb des 2%-Ziels droht.

Nachfragestimulierung funktioniert nur mäßig

Wenn der neutrale Zins höher liegt als von der EZB vermutet, wieso hat die Notenbank dann trotz zahlreicher expansiver Maßnahmen lange Zeit ihr 2%-Inflationsziel nach unten verfehlt? Die Antwort ist, dass die Geldpolitik durchaus stimulierend gewirkt hat, aber weniger als gedacht, weil die EZB-Zinssenkungen nicht auf die Kapitalrendite durchgewirkt haben. Die Investitionen in Sachkapital fielen geringer aus, die Wirtschaft wurde weniger stimuliert. In Reis‘ Modell fällt die Wirtschaftsaktivität aufgrund der Divergenz zwischen Kapital- und Staatsanleihenrendite permanent geringer aus.

Zu der These, dass die Nachfragestimulierung durch die Geldpolitik nur mäßig funktioniert, passt im Übrigen auch, dass der seit mehreren Quartalen zu beobachtende markante Anstieg der Inflation nicht durch einen Nachfrage-, sondern durch einen Angebotsschock ausgelöst wurde (stark steigende Preise infolge der Pandemie und des russischen Kriegs gegen die Ukraine).

EZB-Strategie suboptimal

Die Wahl der Mitte letzten Jahres bekanntgegebenen neuen geldpolitischen Strategie der EZB wurde stark von dem Eindruck eines sehr niedrigen neutralen Zinses beeinflusst. Je geringer er ausfällt, desto größer werden die Sorgen der Notenbank über steigende Deflationsrisiken, da die Geldpolitik auch bei Zinssätzen nahe Null zwangsläufig zu straff ausfallen dürfte. Folglich beschloss die EZB, im Fall niedriger Inflation und Erreichen der Zinsuntergrenze sehr lange an einer expansiven Politik festzuhalten und sogar ein (temporäres) Überschießen der Inflation über ihr 2%-Ziel zu tolerieren, um auf diese Weise die Inflationserwartungen zu stabilisieren. Sie konzentriert sich darauf, die reale Wirtschaftstätigkeit immer weiter anzukurbeln und immer mehr Anreize zu schaffen.

Die von der EZB gewählte Strategie dürfte sich als suboptimal erweisen, wenn der neutrale Zins wie hier gezeigt tatsächlich erkennbar höher ausfällt.

Zielführender wäre es im Rahmen der hier vorgestellten Analyse zu versuchen, die Fehlallokation des Kapitals abzubauen, um auf diese Weise die Durchschlagskraft der Geldpolitik zu erhöhen, also statt einer nachfrageorientierten Politik eine angebotsorientierte zu betreiben.4) Reis befürchtet, dass die Geldpolitik so aktiv in die Finanzmärkte eingreift, um die Nachfrage zu stimulieren, dass sie letztlich das Angebot beeinträchtigt, indem sie die Kapitalallokation in der Privatwirtschaft verschlechtert. Konkret bemängelt er, dass die Anleihekäufe der EZB dazu beigetragen haben könnten, die Attraktivität dieser Wertpapiere im Vergleich zu Investitionen in Sachkapital so weit zu erhöhen, dass eine (steigende) Staatsverschuldung privates Kapital verdrängt hat.

So gesehen ist zu befürchten, dass die EZB mit ihrem neuen „Transmission Protection Instrument“ einen falschen Weg eingeschlagen hat, weil dieses die Fehlallokation des Kapitals weg von privaten Investitionen in den Kapitalstock und hin zu Finanzinvestitionen weiter zementieren dürfte.

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1) Die Kapitalrendite misst allgemein das Verhältnis von Ertrag zu Kapitaleinsatz. Eine sehr breite, die gesamte Volkswirtschaft umfassende Definition der Kapitalrendite ist der Quotient aus dem auf den Faktor Kapital entfallenden Anteil des Netto-Inlandseinkommens sowie dem Netto-Kapitalstock, wie sie die Europäische Kommission verwendet (siehe auch Abbildung 2).

2) In einer im Frühjahr 2022 veröffentlichten Analyse zeigt Reis, dass das Ergebnis von sich im Trend seitwärts bewegenden Kapitalrenditen erhalten bleibt, wenn man statt der in Abbildung 1 verwendeten Datenreihen zahlreiche andere Messgrößen verwendet.

3) Den nicht-beobachtbaren neutralen Zins aus dem langfristigen Trend eines beobachtbaren Realzinses zu ermitteln, ist eine gängige Methode. Dahinter steht die Vorstellung, dass der neutrale Zins ein hypothetischer Zins ist, aus dem Schocks und/oder zyklische Faktoren eines beobachtbaren Zinses herausgefiltert wurden. Vgl. Del Negro, Marco, Domenico Giannone, Marc P. Giannoni, and Andrea Tambalotti. “Global trends in interest rates.” Journal of International Economics, 2019.

4) Reis sieht nicht nur die Geldpolitik, sondern natürlich auch die Finanzpolitik in der Pflicht. Es sei dringend erforderlich, die „Mechanismen zu verbessern, mit denen die Wirtschaft Kapital effizient zuteilt, sei es durch eine bessere Regulierung, die Verringerung der Marktmacht in der Finanzindustrie, die Förderung von Finanzinnovationen oder andere Maßnahmen“.

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