Zurzeit sieht die EZB den neutralen Zins – also das Zinsniveau, bei dem die Notenbank die Wirtschaft weder bremst noch anschiebt – offenbar bei 1½ bis 2 Prozent – und damit etwas höher als noch im Frühjahr. Wir zeigen, wie die EZB zu dieser Schätzung gelangt ist – und warum der neutrale Zins vermutlich um einiges höher liegt als von der Notenbank unterstellt. Diese Unterschätzung stellt ein Inflationsrisiko dar.
Wo liegt der neutrale Zins?
Trotz der sehr deutlichen Anhebung um 75 Basispunkte stand bei der EZB-Pressekonferenz letzte Woche Donnerstag die Frage im Mittelpunkt, wie weit die EZB die Leitzinsen insgesamt erhöhen könnte. Bei der Antwort auf diese Frage spielt wiederum der neutrale Zins eine wichtige Rolle, also das Zinsniveau, bei dem die Notenbank die Wirtschaft weder bremst noch anschiebt und sich langfristig die angestrebte Inflationsrate von 2% einstellt.
Ihre Schätzungen für den neutralen Zins hat die EZB offenbar inzwischen etwas nach oben korrigiert. Im Frühjahr nannten EZB-Ratsmitglieder meist noch eine Spanne zwischen 1% und 1,5%. Nun beschrieb der französische Notenbankpräsident Villeroy, der in seinen Aussagen die tatsächlichen Entscheidungen der Notenbank öfters vorweggenommen hat, die Überlegungen im EZB-Rat am Tag nach der letzten Sitzung wie folgt: Der neutrale Zins liege wohl unter oder nahe 2%. Durch weitere Zinsanhebungen sollte es die EZB „in jedem Fall“ schaffen, dieses neutrale Niveau bis zum Jahresende zu erreichen. Ob die EZB darüber hinaus gehen müsse, sei eine offene Frage, die man dann „zu gegebener Zeit“ beantworten werde.1
Wir halten unverändert selbst eine Schätzung von 2% für den neutralen Zins für zu niedrig und befürchten (unter anderem) deswegen, dass die EZB die Geldpolitik zu wenig strafft, sodass die Inflation längerfristig über 2% verharren dürfte.
Im Folgenden wollen wir zusammenfassen, wie die EZB zu ihrer Einschätzung zum neutralen Zins gelangt ist, und warum diese Schätzung vermutlich immer noch zu niedrig ausfällt.
Modellschätzungen legen 1½% bis 2% nahe
Die Schätzungen des neutralen Zinses ermittelt die EZB mithilfe von etwa zehn verschiedenen ökonometrischen Modellen, die teilweise von der Notenbank selbst erstellt wurden und teils von außerhalb stammen. Das bekannteste dieser Modelle haben wohl Holston, Laubach und Williams von der US-Notenbank erstellt („HLW-Modell“). Die EZB hat ihre Schätzergebnisse für den nominalen neutralen – bzw. auch „natürlich“ genannten – Zinssatz r* zwar nicht numerisch, wohl aber in einer Grafik in verschiedenen Reden von EZB-Direktoriumsmitgliedern wiederholt veröffentlicht (Abbildung 1).
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Abbildung 1 zeigt, dass die Schätzungen für den natürlichen Zins im Euroraum in den letzten zwei Jahrzehnten gesunken sind. Die letzte verfügbare Schätzung zeigt ein (graues) Band von knapp 0% bis gut 2%. Allerdings hat die EZB auch ein schmaleres Band von „glatteren“ Schätzungen veröffentlicht, das sie offenbar aus statistischer Sicht für zuverlässiger hält. Dieses (dunkelgraue) Band liegt bei (jeweils knapp) 1,5% bis 2% – entspricht also den obigen jüngsten Äußerungen von EZB-Ratsmitgliedern zum neutralen Zins.
Aber warum lagen die Schätzungen von EZB-Vertretern im ersten Halbjahr 2022 noch niedriger? Damals stellten Ratsmitglieder 1½% eher als eine Obergrenze dar.
Das könnte zwei Gründe haben: Erstens lagen die „nicht-glatten“ Schätzungen zum neutralen Zins größtenteils merklich unter den „glatten“, sodass die EZB aus Vorsichtsgründen die Schätzung nicht zu hoch ansetzen wollte (insbesondere die Tauben im Rat, die sich lange gegen Zinserhöhungen ausgesprochen hatten, dürften so argumentiert haben).
Zweitens mussten die ökonometrischen Schätzungen im Frühjahr 2020 eingestellt werden, da durch die sehr hohe Volatilität des Bruttoinlandsprodukts infolge der Corona-Pandemie eine wenigstens halbwegs zuverlässige Schätzung des neutralen Zinses nicht mehr möglich war. Um wenigstens eine grobe Vorstellung vom Verlauf des neutralen Zinses seit dem Frühjahr 2020 zu haben, hat die EZB dem Chart mit den ökonometrischen Schätzungen noch die “one-year forward rate nine years ahead” hinzugefügt. Das ist die Einschätzung des Marktes über den Ein-Jahres-Zinssatz in neun Jahren. Dieses Marktsegment sieht die EZB wohl als ausreichend liquide an, und er stellt offenbar aus Sicht der Notenbank eine recht gute Approximation für die ökonometrischen Schätzungen des neutralen Zinses dar. Die Forward Rate lag ab 2020 noch einmal deutlich niedriger als zuvor, was die EZB offenbar dazu veranlasste, von einem recht niedrigen neutralen Zins auszugehen.
Alles steigt!
Mittlerweile ist diese Forward Rate allerdings deutlich gestiegen, im Schnitt der letzten vier Wochen lag sie bei rund 2¾% (Abbildung 2). Basierend auf dieser Entwicklung hätte die EZB ihre Schätzung für den neutralen Zins also deutlicher nach oben korrigieren können.
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Daneben sprechen auch noch andere Überlegungen dafür, dass die EZB den neutralen Zins immer noch zu niedrig schätzt. Dies legen beispielsweise die Schätzergebnisse des oben bereits erwähnten HLW-Modells nahe. Diese Schätzungen sind sehr gut dokumentiert. Genauer wurden die Schätzergebnisse für den neutralen realen Zins für vier Länder – USA, Kanada, Euroraum, Großbritannien – veröffentlicht und kontinuierlich mehrmals im Jahr aktualisiert. Tatsächlich lagen die Schätzungen aus den Jahren 2015 bis 2018 für den neutralen Realzins im Euroraum ab etwa 2013 unter der Nulllinie. Aber sie wurden im Laufe der Zeit Stück für Stück nach oben revidiert. In der letzten Schätzung von August 2020 – letzter Datenpunkt Q2-2020 – lag der neutrale Realzins niemals unter null (Abbildung 3).2
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Berechnet man aus dieser Schätzung für den neutralen Realzins den nominalen neutralen Zins durch Hinzuaddieren von 2 Prozentpunkten (da die EZB 2% als Inflationsziel anstrebt), so ergibt sich ebenfalls ein Wert von etwa 2¾ für den neutralen Zins.3
Schließlich sprechen auch grundsätzliche Überlegungen dafür, dass die EZB den neutralen Zins höher ansetzen sollte. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass in den von der EZB verwendeten ökonometrischen Modellen versucht wird, den nicht beobachtbaren neutralen Zins aus verfügbaren Daten zu ermitteln. Dahinter steht sehr grob die folgende Überlegung: Wenn wie in den vergangenen Jahren der Leitzins lange nahe der Untergrenze lag, die Inflation aber trotzdem viele Jahre lang unter dem 2%-Ziel verharrte, dann war die Geldpolitik offenbar insofern restriktiv ausgerichtet, als der neutrale Zins sehr niedrig war und möglicherweise unter dem Leitzins lag.Im Umkehrschluss bedeutet dies aber natürlich, dass auch der Schätzwert für den neutralen Zins merklich nach oben driften dürfte, wenn die Inflation wie aktuell deutlich höher liegt.
Schaut auf die Kapitalrendite!
Zu dem Urteil, dass die EZB das Niveau des neutralen Zinses deutlich unterschätzt, gelangt man auch, wenn man wie der bekannte Ökonom Ricardo Reis die weitverbreitete Vorgehensweise kritisiert, die Schätzung des neutralen Zinses aus Marktzinsen (wie der in Chart 1 und 2 wiedergegebenen Forward Rate) abzuleiten, die eng mit den Renditen von Staatsanleihen korreliert ist. Laut Reis ist ein solcher Ansatz zur Bestimmung des neutralen Zinses aus ökonomischer Sicht unbefriedigend. Schließlich wurde der neutrale Zins ursprünglich definiert (von Wicksell 1898) als der Zinssatz, bei dem die Investitionen gleich den Ersparnissen sind und die Ressourcen der Wirtschaft voll ausgeschöpft werden. Für die Entscheidung über Investitionen und Ersparnis ist aber die Kapitalrendite entscheidend, und nicht etwa die Rendite von Staatsanleihen.
Die Kapitalrendite misst allgemein das Verhältnis von Ertrag zu Kapitaleinsatz. Eine sehr breite, die gesamte Volkswirtschaft umfassende Definition der Kapitalrendite ist der Quotient aus dem auf den Faktor Kapital entfallenden Anteil des Netto-Inlandseinkommens sowie dem Netto-Kapitalstock. Im Euroraum bewegt sich die Kapitalrendite auf hohem Niveau seitwärts, weist also im Gegensatz zu der Forward Rate aus Abbildung 1 (sowie der länger verfügbaren Rendite von zehnjährigen Staatsanleihen im Euroraum) keinen fallenden Trend auf (Abbildung 3).
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Reis zeigt anhand einer umfangreichen Modellanalyse, dass das Auseinanderlaufen von Kapitalrenditen und Staatsanleihenrenditen auch durch finanzielle Friktionen zu erklären ist, die zu einer Fehlallokation des Kapitals weg von privaten Investitionen in den Kapitalstock und hin zu Finanzinvestitionen führt. Das behindert die Arbitrage, sodass die Kapitalrenditen von den im Trend fallenden Staatsanleihenrenditen nicht mit nach unten gezogen werden.
Reis verzichtet in seiner Modellanalyse darauf, Ursachen für die von ihm identifizierte Fehlallokation des Kapitals zu nennen. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Kapitalgeber angesichts des niedrigen und fallenden Zinsniveaus auf der Jagd nach Rendite sind, aber möglicherweise über unvollständige Informationen verfügen.Infolgedessen sind sie bereit, Gelder auch bei Unternehmen und Staaten anzulegen, die wenig solide aufgestellt sind. Diese sind bestrebt, dass allgemein niedrige Zinsniveau zu nutzen, indem sie sich für lange Zeit hoch verschulden. Kapital fließt damit in ineffiziente Finanzinvestitionen, was die Entstehung einer Blase an den Anleihemärkten fördert. Die Kehrseite ist, dass weniger Mittel in private Investitionen in den Kapitalstock fließen, was verhindert, dass die Kapitalrendite – im Gegensatz zu den Staatsanleihenrenditen – fällt.
Die Fehlallokation erklärt auch, wieso die EZB trotz zahlreicher expansiver Maßnahmen lange Zeit ihr 2%-Inflationsziel nach unten verfehlt hat Die Antwort ist, dass die Geldpolitik durchaus stimulierend gewirkt hat, aber weniger als gedacht, weil die EZB-Zinssenkungen nicht auf die Kapitalrendite durchgewirkt haben. Die Investitionen in Sachkapital fielen geringer aus, die Wirtschaft wurde weniger stimuliert. Zu der These, dass die Nachfragestimulierung durch die Geldpolitik nur mäßig funktioniert, passt im Übrigen auch, dass der seit mehreren Quartalen zu beobachtende markante Anstieg der Inflation nicht durch einen Nachfrage-, sondern durch einen Angebotsschock ausgelöst wurde (stark steigende Preise infolge der Pandemie und des russischen Kriegs gegen die Ukraine).
Reis empfiehlt, den neutralen Zins als ein gewichtetes Mittel der (divergierenden) langfristigen Trends von Kapitalrendite und Marktzinsen zu ermitteln. Dieser würde dann wohl ebenfalls deutlich über der Schätzung der EZB für den neutralen Zins liegen.
Die Inflation bleibt!
Obwohl die EZB ihre Schätzung für den neutralen Zins inzwischen offenbar etwas nach oben korrigiert, sprechen obige Überlegungen dafür, dass sie immer noch erkennbar zu niedrig ausfällt. Folglich besteht die Gefahr, dass die EZB die Geldpolitik zu langsam normalisiert bzw. den Prozess zu früh beendet, sodass längerfristig Inflation oberhalb des 2%-Ziels droht.
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1) Ferner erklärte der griechische Notenbankpräsident Stournaras in einer Rede am Wochenende, er sehe den neutralen Zins bei 1,5%, vielleicht sogar bei 2%. Vor kurzem hatte er, der sich in der Vergangenheit immer wieder für eine sehr expansive Geldpolitik eingesetzt hatte, noch eine Spanne von 0,5% bis 1,5% genannt.
2) Das HLW-Modell ist eines der Modelle, auf adas die EZB zurückgreift. Aus Chart 1 ist allerdings nicht mit letzter Sicherheit ablesbar, ob die EZB die Aufwärtsrevision der Schätzung des HLW-Modells berücksichtigt hat.
3) Ein nominaler neutraler Zins von 2¾% ergibt sich übrigens auch in etwa, wenn man der sogenannten „goldenen Regel der Kapitalakkumulation“ folgt, die besagt, dass der reale neutrale Zins den langfristigen Wachstumsmöglichkeiten entspricht. Letztere dürften im Euroraum mit ½% bis 1% zu veranschlagen sein, addiert man 2% für das Inflationsziel hinzu, ergibt sich wieder 2½ bis 3%. In einer anderen Analyse hatten wir gezeigt, dass sich der Geldpolitik der EZB zumindest bis 2015 gut erklären lässt, wenn man unterstellt, dass der neutrale Realzins im Euroraum dem Potenzialwachstum entspricht.
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