Mit Sanktionsandrohungen hatten Länder der EU und die USA gegenüber Russland im sich abzeichnenden Ukrainekonflikt eine Drohkulisse aufgebaut: Russland sollte wegen der drohenden Konsequenzen solcher Sanktionen vor einer militärischen Invasion zurückschrecken. Diese Strategie ist erkennbar gescheitert, denn die Drohungen haben den Eintritt des militärischen Ernstfalls nicht verhindert. Allerdings können Sanktionen nicht nur der Abschreckung dienen; sie können auch nach Beginn des militärischen Konflikts sinnvolle Wirkungen entfalten. Sanktionen während der militärischen Auseinandersetzung verursachen anhaltende Kosten. Sanktionen, die nach Beendigung des militärischen Konflikts aufgehoben werden, können das Konfliktende beschleunigen. Es winkt wegen des Wegfalls der Sanktionskosten eine größere Friedensdividende. Sofern die Sanktionen für beide Konfliktparteien kostspielig sind, wirken sie in dieser Form auf beide Konfliktparteien ein. Und wenn diese Kosten für den sanktionierten Konfliktgegner größer sind als für die sanktionierende Konfliktpartei, erhöhen sich diese Anreize für die sanktionierte Partei stärker als für die sanktionierende Partei. Die höhere „Ungeduld“ der sanktionierten Partei erweist sich in Verhandlungen dann als Vorteil für die sanktionierende Partei: Das Ergebnis von Friedensverhandlungen fällt stärker zu Gunsten der sanktionierenden Partei aus.
Besondere Prominenz in den politischen Überlegungen haben Sanktionskalküle im Bereich fossiler Energieträger wie Erdöl und Erdgas gespielt. Der Rohstoffsektor ist für Russland von dominierender Bedeutung, aber auch von hoher Relevanz für die Länder Europas. Nach anfänglichen Forderungen, die Europäische Union solle als Sanktionsmaßnahme russische Gas- und Öllieferungen boykottieren, hat die EU zunächst Importverbote für russische Kohle (August 2022) erlassen, später dann auch auf dem Seeweg eingeführtes Öl (Dezember 2022) und raffinierte Ölprodukte aus Russland (Februar 2023) mit Sanktionen belegt. Aber eignen sich Öl- oder Gasembargos überhaupt als Druckmittel in Verhandlungen? Können Energierohstoffembargos auf das Rohstoffland erheblichen Druck ausüben, die hoffen lassen, dass sie die Konfliktdauer verkürzen und das sanktionierte Land konzessionsbereiter machen?
Russland kann als Reaktion auf einen Kaufboykott Europas für Öl und Gas seine Energierohstoffe auf einem internationalen Markt an Konsumenten in Ländern verkaufen, die sich an einem Boykott nicht beteiligen. Diese Länder werden dann weniger von Drittanbietern im Nahen Osten, Afrika oder Südamerika kaufen. So verlagern sich im Idealfall einfach die Handelsströme, und wenn die Märkte und Lieferkanäle hinreichend liquide sind, dann verändern sich im Ergebnis weder Preise noch die insgesamt auf der Welt verbrauchten Mengen oder Ressourcenrenten.
Aber selbst wenn alle Nationen sich an einem Ölboykott gegenüber Russland beteiligen, sind die Sanktionswirkungen eines solchen Käuferstreiks grundlegend anders als bei einem Boykott produzierter Konsum- oder Investitionsgüter. In einer kürzlich erschienenen Studie („Elusive Effects of Export Embargoes for Fossil Energy Resources“, Energy Economics 117, 106441) zeigen wir, dass ein Importembargo für russisches Gas und Öl Sanktionskosten verursacht, die sich ihrer Natur nach wesentlich von denen für Getreide oder andere produzierte Konsumgüter unterscheiden. Verzichtet Europa auf den Kauf produzierter Güter, gehen den Herstellern Umsätze und Gewinne verloren, und zwar für den Zeitraum der Sanktionen. Verzichtet Europa auf den Import von russischem Gas und Öl, dann verbleibt das Öl und das Gas als natürliche Ressourcen in russischem Boden. Es sind Vermögensgegenstände, die Russland nicht verloren gehen. In einem effizienten Markt für natürliche Ressourcen ist es einem Anbieter sogar gleichgültig, zu welchem Zeitpunkt er seine Ressourcen dem Boden entnimmt und verkauft. Der Barwert der aus den Verkaufserlösen erzielten Ressourcenrenten ist vom Zeitpunkt des Verkaufs unabhängig. Das gilt jedenfalls unter den Idealbedingungen eines funktionierenden konkurrenzwirtschaftlichen Markts für Erdöl, wie bereits Harold Hotelling im Jahr 1931 beschrieben hat.
Wenn Russland also daran gehindert wird, heute und für einige Jahre sein Erdöl zu verkaufen, wird Russland durch diesen Boykott weder ärmer noch reicher. Es kann Russland letztlich gleichgültig sein, ob es sein in den Rohölvorräten gebundenes Vermögen heute oder erst später in harte Dollar oder Euro umwandelt. Die Sanktionskosten, die ein solcher Kaufstreik der EU Russland auferlegen, sind also nahezu null – ganz anders als bei produzierten Gütern, bei denen der Verzicht auf Produktion und Verkauf einen Strom von echten Einkommenseinbußen verursacht.
Weniger klar fällt das Urteil über Ressourcensanktionen aus, wenn man berücksichtigt, dass die russischen Machthaber nicht ganz fest im Sattel sitzen und vielleicht auch nicht immer auf ihre angehäuften Reichtümer zugreifen können. In Russland entscheidet letztendlich eine kleine Regierungselite über den Abbau und Verkauf der fossilen Energievorräte und eignet sich mutmaßlich einen Großteil der damit erzielten Gewinne an. Die Möglichkeit hierzu steht und fällt für diese Elite mit der Machtfrage. Wenn die Elite ihre Regierungsmacht einbüßt, ist auch das Geschäft mit der Aneignung dieser Gewinne dahin. Eine amtierende Machtelite muss stets fürchten, diese Macht früher oder später einzubüßen. Wenn man britischen (Online-)Buchmachern folgt, die Wetten auf den Machterhalt des russischen Präsidenten annehmen, wird einem möglichen Machtverlust durchaus eine signifikante Wahrscheinlichkeit eingeräumt.
Angesichts des drohenden Machtverlusts sollte die Machtelite in Russland einen Anreiz haben, Öl und Gas möglichst zügig auszubeuten, zu verkaufen und die Erlöse in sichere Finanzhäfen ins Ausland zu verbringen. Soweit sichere Finanzhäfen existieren, entfaltet ein Käuferstreik dann tatsächlich Sanktionswirkungen: Die Perspektive, Rohstoffvorräte nicht heute ausbeuten und in sichere Finanzanlagen umwandeln zu können, ist für die amtierende Machtelite ein erheblicher Nachteil, weil sie in einigen Jahren vielleicht gar nicht mehr an der Macht ist. Die Sanktionswirkung ist umso größer, je größer die Wahrscheinlichkeit eines Machtverlusts ist, und je sicherer die Finanzanlagen in sicheren Häfen im Ausland der Elite trotz eines Machtverlusts noch zur Verfügung stehen. Hier entsteht für die sanktionierenden Staaten zugleich ein Dilemma. Wenn sie Ölexporte sanktionieren und gleichzeitig ausländisches Vermögen der Machtelite beschlagnahmen, dann vermindert sich durch die Beschlagnahme des Auslandsvermögens die Sanktionswirkung der Ölexportembargos. Die Ölexportsanktionen wirken am stärksten dann, wenn die Machtelite in Russland fest darauf vertrauen kann, dass sie auf ihr in Finanzoasen deponiertes Vermögen im Fall des eigenen Machtverlusts zuverlässig zugreifen können.
Insgesamt zeigt dies: Käuferstreiks für russisches Öl und Gas sind von begrenzter Sanktionswirkung. Und im Kern hängt das damit zusammen, dass diese Käuferstreiks den Wert dieser Ressourcen nicht mindern. Russland selbst wird nicht ärmer oder reicher durch solche Aktionen, es wird nur zu einer anderen Zusammensetzung der von ihm gehaltenen Vermögens gezwungen.
Literatur
Kai A. Konrad und Marcel Thum, Elusive Effects of Export Embargoes for Fossil Energy Resources“, Energy Economics 117 (2023), 106441
- GastbeitragÖlembargos: eine gute Idee? - 27. Mai 2023
- Gastbeitrag
Eine Vermögensabgabe ist keine gute Idee! - 4. November 2022
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