C02-Ausgleich (1)Ablasshandel oder effizientes Mittel zum Klimaschutz?

Für eine breite Öffentlichkeit sind Klimakompensationsgeschäfte seit jeher ein Instrument aus der moralischen Schmuddelecke. Mitgeprägt wurde diese Skepsis wohl von der ablehnenden Haltung der aktivistischen Seite der Klimaschützer, die mit ihrem «System Change» gleich auch den Kapitalismus überwinden wollen. Für sie ist ein Instrument, das es Unternehmen erlaubt, sich aus der Verantwortung gleichsam freizukaufen, inhärent unmoralisch. Nicht selten ist daher von Ablasshandel die Rede – eine naheliegende Begriffswahl, wenn ja die Emittenten «Klimasünder» sind. Auch aus gemässigten Kreisen sind aber immer wieder Zweifel zu hören, ob mit dem sogenannten Carbon-Offsetting Emissionsreduktionen tatsächlich erzielt oder nur über buchhalterische Tricks ausgewiesen werden. Daraus folgend wird der Wert des Labels «klimaneutral» infrage gestellt, mit dem sich eine zunehmende Zahl von Unternehmen schmückt.

Neue Nahrung erhielt diese Kritik, als der «Guardian», «Die Zeit» und die Nichtregierungsorganisation «Source Material» im Januar 2023 vorrechneten, dass 94% der Carbon-Credits, die die Zertifizierungsfirma Verra für den Regenwaldschutz anrechnete, sozusagen heisse Luft seien, nämlich keine effektiven Reduktionsleistungen verkörperten. Der Skandalwert dieser Nachricht schien den Medien hoch, entsprechend weit verbreitet wurde sie. In Wirklichkeit steckt dahinter aber kein Skandal und auch kein Betrug, sondern bloss offene Fragen bei der Anrechenbarkeit von Waldschutz für die Generierung von CO2-Gutschriften – mehr dazu weiter unten.

Das Konzept des Carbon-Offsetting

Im Grunde – das sei hier vorweggenommen – sind Klimakompensationsgeschäfte eine kluge Idee, um Ressourcen dorthin zu kanalisieren, wo Senkungen des CO2-Ausstosses am günstigsten erzielbar sind. Dieses Anliegen, nämlich die Effizienz, stösst beim radikaleren Teil der Klimaschützer auf wenig Anklang: Da man letztlich ja ohnehin jegliche CO2-Emission verhindern müsse, sei es irrelevant, ob man zuerst die teuren oder die günstigen eliminiert, bzw. sei es sogar kontraproduktiv, die günstigeren vorzuziehen, da dies nur von der eigentlichen Aufgabe ablenke. Dieses Denken misst sich an einer ideologischen Utopie, die mit unserer Wirklichkeit wenig zu tun hat. Gerade wenn man das Problem Klimawandel ernst nimmt, müsste man ein grosses Interesse an effizienten Ansätzen haben, die so schnell wie möglich weltweit maximale Wirkung erzielen, indem die grössten, am einfachsten vermeidbaren Quellen am schnellsten abgeschaltet werden – unabhängig davon, wo diese sich befinden. Es ist also richtig, zuerst die tiefhängenden Früchte zu ernten. Mit fortschreitender technologischer Entwicklung werden dann – um in der Metapher zu bleiben – unsere Leitern länger, sodass wir auch die höherhängenden Früchte ernten – also die derzeit noch schwierig vermeidbaren Treibhausgasemissionen verhindern – können.

Carbon-Offsets sind ein gutes Instrument zur Effizienzsteigerung beim Klimaschutz. Ursprünglich wurden sie im Rahmen der staatlichen Selbstverpflichtungen des Kyoto-Protokolls entwickelt. Im Rahmen der «Clean Development Mechanism» (CDM) konnten Industriestaaten Reduktionsprojekte in weniger entwickelten Ländern durchführen und sich dadurch «Certified Emissions Reductions» (CER) gutschreiben lassen. Das System litt in seinen ersten Jahren an einigen Kinderkrankheiten, was dazu geführt hat, dass man eine Erneuerung im Rahmen des Pariser Klimaabkommens nur halbherzig anstrebte. Gemäss Artikel 6 des Abkommens sind zwischenstaatliche Kompensationen zwar weiterhin möglich, aber sie wurden bisher nicht mit einheitlichem Regelwerk operationalisiert – nicht zuletzt, da die Erreichung der national festgelegten Reduktionsziele nicht mehr (wie im Kyoto-Protokoll) völkerrechtlich bindend ist.

Auf dem freiwilligen Markt hat sich seither aber viel getan. In den vergangenen Jahren haben sich diverse Standards etabliert, die – basierend auf den Anforderungen des regulierten Marktes – Emissionsreduktionen verifizieren. Zu den wichtigsten zählen der «Gold Standard» und der «Verified Carbon Standard» (VCS). Ihnen gemein sind fünf Mindestanforderungen, die die Emissionsminderungen erfüllen müssen:

  1. Sie müssen real sein. Das heisst, sie basieren nicht auf Versprechen, sondern auf tatsächlichen Resultaten.
  2. Sie müssen zusätzlich sein. Das heisst, das Projekt wäre ohne die Carbon-Credits nicht durchgeführt worden, da es ihm z.B. an Rentabilität gemangelt hätte.
  3. Sie müssen messbar und verifizierbar sein.
  4. Sie müssen permanent sein.
  5. Sie müssen einmalig sein (Verhinderung von Doppelzählungen).

Diese Standards sind – gerade wegen der Skepsis, die Klimakompensationsgeschäften entgegenschlägt – ziemlich genau ausgearbeitet und deren Einhaltung wird präzise überprüft. Das heisst nicht, dass keine Fehler oder gar Betrug vorkommen: Mit Klimaschutz wird heute viel Geld gemacht, und gewisse Umweltakteure sind nicht so heilig, wie sie sich geben, sondern reiten bewusst auf der Moralwelle und verdienen sich damit eine goldene Nase. Doch die Accountability von Carbon-Offsets ist beispielsweise viel grösser als jene von Entwicklungsprojekten diverser Hilfswerke, wo Fragen nach Wirksamkeit kaum gestellt werden, weil die gute Absicht schon als Raison d’être ausreicht.

Aussehen der Carbon-Offset-Projekte

Die Bandbreite von Carbon-Offset-Projekten ist gross. Zertifikate für globale Projekte kosten derzeit etwa 10 bis 25 Fr. pro vermiedene Tonne (CO2-Äquivalent), Projekte in der Schweiz etwa 100 Fr. pro Tonne, und für Direct-Air-Capturing (DAC), also die direkte Entfernung von CO2 aus der Luft mittels technischer Massnahmen, werden derzeit etwa 300 Fr. pro Tonne fällig.

Bei einigen Projekten ist die Emissionsreduktion der alleinige Zweck. Sie bringen den beteiligten Unternehmen nichts. Dazu gehören etwa das Stopfen von Gaslecks, die Verbrennung von austretendem Methan (das einen 25-mal höheren Treibhauseffekt als CO2 hat, weshalb die Verbrennung zu CO2 und Wasser die Klimawirkung senkt) oder eben der Betrieb von DAC-Werken.

Bei anderen Projekten (z.B. im Bereich der Energieeffizienz) dienen die Gelder dazu, sie über eine Rentabilitätsschwelle zu heben. Hier steuert die Carbon-Finance entsprechend einen eher geringen Teil des Projektertrags bei. In manchen Fällen wäre die Rentabilität sogar ohnehin gegeben, bloss fehlt es vor Ort an Wissen, Information und Motivation, das Projekt durchzuführen oder nur schon das Reduktionspotenzial zu erkennen. Oder es fehlt ein effizienter Kapitalmarkt, der ein eigentlich rentables Projekt finanzieren würde. Konkretes Beispiel: Die Kakaofelder in Ghana sind meist Monokulturen. Zwischenbepflanzungen würden nicht nur die Bodenqualität (und damit die CO2-Speicherung) erhöhen, sondern mittelfristig auch den Ertrag. Doch sie bedingen zwei Jahre mit weitgehendem Ertragsverzicht, die sich ein lokaler Bauer ohne die Gelder aus den Carbon-Credits nicht vorfinanzieren könnte.

Bei der Stromproduktion selbst ergeben sich hingegen interessanterweise immer weniger Projekte – und zwar schlicht und einfach, weil dort der Finanzierungsbedarf zunehmend entfällt, da die Projekte aufgrund des Preiszerfalls für erneuerbare Energieträger ohnehin markttauglich werden.

Allgemein lassen sich die folgenden sechs Gebiete unterscheiden:

  • Haushalte (z.B. elektrische Herde) und sauberes Wasser (um energieintensive Abkochung des Wassers zu ersparen)
  • erneuerbare Energien
  • Innovationen in der Industrie
  • Wald und Landwirtschaft (Regenwaldschutz, Wiederaufforstung, Moorschutz, Futtermittel)
  • technische CO2-Rückholung

Umstrittener Waldschutz

Am meisten Carbon-Credits werden heute (mit etwa 40% des Gesamtvolumens) genau in jenem Bereich generiert, der Anfang Jahr unter Beschuss geriet: dem Regenwaldschutz. Ein Anbieter von Carbon-Credits kauft hier beispielsweise eine Rodungskonzession und lässt dann den Wald stehen oder forstet ihn (bei Bedarf) sogar weiter auf. Die Krux hierbei: Um zu berechnen, welche Emissionsreduktion damit erzielt wird, ist der Vergleich mit einem Alternativszenario, das sich ohne Schutz ergeben hätte, nötig.

Genau an diesem sogenannten Baseline-Szenario entbrannte der Streit. Die für die Zertifizierung der Carbon Credits relevante Baseline wird üblicherweise auf Basis der historischen Entwaldungsrate des betroffenen Gebietes und anhand spezifischer Informationen zu diesem Gebiet berechnet. Die offenbar deutlich geringere Baseline-Entwaldungsrate, auf die das Trio «Guardian», «Die Zeit» und «Source Material» seine eingangs erwähnten Berechnungen stützt, basiert dagegen auf einer ökonometrischen Methode, der sogenannten «Synthetic Control». Man muss die Details der beiden Konzepte nicht kennen, um zu sehen, dass es sich hierbei um methodische Fragestellungen und nicht etwa um Betrug handelt. Um die Quintessenz einzudeutschen: Zweifel bestehen nicht darüber, ob der Wald wirklich geschützt wird oder nicht, sondern wie hoch die Rodungsrate ohne Schutz wäre.

Natürlich kann man die Frage stellen, ob der Schutz von Wäldern für Klimakompensationen berücksichtigt werden sollte, wenn ja die Bemessung der Credits gezwungenermassen von einem Alternativszenario abhängig ist, das sich nicht nach- oder beweisen lässt. Auf Grund methodischer Schwierigkeiten ganz darauf zu verzichten, würde dem Klima allerdings einen Bärendienst erweisen, denn der Schutz der tropischen Regenwälder ist eine der wichtigsten und effizientesten Massnahmen zur Reduktion der CO2-Bilanz. 17 Prozent der gesamten anthropogenen Treibhausgasemissionen stammen aus dem Forstsektor. Statt also medienwirksam Zweifel an der Seriosität von Carbon-Offsets zu sähen, wären weitere Anstrengungen angezeigt, die Berechnungsmethodik beim Thema Waldschutz zu verfeinern.

Auch die Dauerhaftigkeit von Waldschutz-Zertifikaten wird manchmal bezweifelt. Wird der Wald in 30 oder in 100 Jahren dann doch noch abgeholzt – und wer kann schon garantieren, dass das nicht passiert – sei für das Klima nichts gewonnen, wird argumentiert. Das ist einerseits nicht von der Hand zu weisen. Anderseits sind beim Klimaschutz die nächsten Jahrzehnte entscheidend. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts dürfte die menschliche Innovationskraft griffigere Methoden zur Beeinflussung der Treibhausgas-Konzentration in der Atmosphäre entwickelt haben. Was also mit einem Waldstück in 100 Jahren passiert, ist daher vorerst tatsächlich nicht von grossem Belang.

Klimaneutralität

Und was ist nun vom Label «klimaneutral» zu halten? Die Bezeichnung ist durchaus kein Etikettenschwindel – vorausgesetzt, die fünf oben genannten Bedingungen sind erfüllt. Wenn eine Firma die gesamten von ihr verursachten Treibhausgasemissionen durch eine Senkung der Emissionen an anderer Stelle im gleichen Umfang kompensiert, wenn also die Existenz des Unternehmens ebenso viele Emissionen verhindert, wie es verursacht, dann ist es faktisch klimaneutral. Bestehen Zweifel an der Wirksamkeit der Zertifikate, kann das Unternehmen die doppelte Menge kaufen, oder sie nur von Anbietern erwerben, die die höchsten Zertifizierungsstandards verfolgen, oder auf Waldschutz-Zertifikate verzichten – oder alles zusammen.

Heuchlerisch wird es erst – wenn auch weiterhin nur aus moralischer und nicht aus mathematischer Sicht – wenn es sich dabei z.B. um einen Mineralölhersteller oder sogar um einen Erdölförderer handelt. Ein Geschäftsmodell, das auf der Extraktion fossiler Ressourcen beruht, kann – Kompensation hin oder her – schlecht als klimaneutral bezeichnet werden. Klimaneutralität wäre nur gegeben, wenn ein solches Unternehmen CO2 im gleichen Umfang der Atmosphäre entziehen würde. Das aber kostet derzeit noch deutlich mehr als mit dem fossilen Energieträger verdient würde. Und: Würde es in solch grossem Umfang Direct-Air-Capturing betreiben, also Kohlenstoff aus der Luft holen, wäre ja wiederum kein Bedarf dafür vorhanden, diesen Kohlenstoff der Erdkruste zu entziehen.

Als letztes Argument gegen das Offsetting wird zuweilen angebracht: Wenn das alle tun würden – und niemand mehr selbst reduzierte – bräche das Geschäftsmodell in sich zusammen. Zum einen stimmt das Argument ökonomisch nicht: Mit zunehmender Nachfrage nach Offsets und beschränktem Angebot würde deren Preis steigen, und mit steigendem Preis stiege der Anreiz, die Treibhausgasemissionen innerhalb der eigenen Wertschöpfungskette (Insetting) zu verringern. Zum anderen wird das Insetting schon heute umfassend betrieben. Der weitaus grösste Teil der Unternehmen, die Offsetting anwenden, betreibt auch Insetting. Ersteres substituiert Zweiteres also nicht, sondern komplementiert es. Nicht umsonst lautet ein bekannter Slogan zur Klimaneutralität: «Do your best (Insetting) und offsett the rest!»

Nicht zuletzt gibt das Carbon-Offsetting dem CO2-Ausstoss einen Preis. Zur Einführung eines solchen haben sich die meisten Regierungen dieser Welt immer noch nicht fähig oder willens gezeigt. Dabei wäre das eigentlich die First-Best-Lösung: Ein weltweiter, einheitlicher Preis für Treibhausgasemissionen – mit Rückverteilung pro Kopf an die Weltbevölkerung. Das Konzept des Offsetting wäre gar nicht nötig, wenn es weltweite, umfassende Bepreisung von Treibhausgasmissionen in Form einer Lenkungsabgabe gäbe, die uns in Richtung netto-null führen würde. Die freiwillige Carbon-Offsetting ist dazu nur eine Second-Best-Lösung. Aber es ist – allen Unkenrufen zu Trotz und bei allem Verbesserungspotenzial, das ihm zugegebenermassen noch innewohnt – eine gute Second-Best-Lösung.

Hinweis: Der Beitrag erschien am 26. Juni 2023 auf Avenir Suisse.

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