Nobelpreis
Irgendjemand muß auf die Kinder ja aufpassen!
Zum Wirtschaftsnobelpreis für Claudia Goldin

Die wichtigste Ehrung in den Wirtschaftswissenschaften, der Preis der Schwedischen Reichsbank in Erinnerung an Alfred Nobel, geht in diesem Jahr an die amerikanische Wirtschaftshistorikerin Claudia Goldin. Die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften würdigt, dass Goldin das Verständnis für die Ergebnisse von Frauen am Arbeitsmarkt vorangebracht habe. Die 77 Jahre alte Goldin ist erst die dritte Frau, die mit dem Preis ausgezeichnet wurde, nach Elinor Ostrom 2009 und Esther Duflo 2019. Beide hatten die Auszeichnung jeweils zusammen mit anderen Forschern erhalten. Goldin, die mit der Harvard-Universität assoziiert ist, wird die mit 11 Millionen Schwedischen Kronen (rund 948000 Euro) dotierte Auszeichung am 10. Dezember in Stockholm entgegennehmen.

Das Thema von Goldins Forschung als auch ihr Geschlecht ließen viele Kommentatoren jubeln, dass das Preiskomitee ein Signal für mehr Gleichberechtigung von Frauen setze. Die Akademie selbst trug zu diesem Eindruck bei und zeigte eine Tendenz zum politischen Aktivismus. In der Begründung für die Auswahl am Tag der Verkündung hob sie hervor, dass Goldins Forschung „gewaltige soziale Implikationen“ mit sich brächte und den Weg für eine bessere Zukunft bereite.

Die Studien der amerikanischen Ökonomin lassen diese Schlussfolgerung nicht direkt zu. In Interviews zeigt die 1946 in New York geborene Golding zwar durchaus ihre Sympathie für die Sache der Frauen. In ihrer Forschung, die die geschichtliche Entwicklung mit ökonomischer Theorie verknüpft, beschränkt sie sich aber in guter ökonomischer Tradition auf eine unvoreingenommene Analyse. Pointiert lässt sich das Thema ihrer Studien mit der Frage benennen, warum Frauen weniger – bezahlt – arbeiten und warum sie weniger als Männer verdienen. Von normativen Schlussfolgerungen hält die Wirtschaftshistorikerin sich dabei zurück.

Goldin beschreibt die Rolle der Frauen am Arbeitsmarkt nicht mit den Stereotypen echter oder vermeintlicher Diskriminierung, sondern analysiert sie als ökonomische Entscheidungen von Frauen – und Männern – zwischen Ausbildung, Arbeit und Karriere und Kindern und Haushalt. „Die Menschen können sich aussuchen, was sie wollen!“, sagte Goldin vor einem Jahr in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Ihre Forschung macht klar, dass eine Vielzahl von Faktoren über den beruflichen Aufstieg von Frauen bestimmt: technischer Fortschritt, institutionelle Regeln, Erwartungen der Frauen oder ihre Ausbildung. Diskriminierung oder soziale Normen sind nur zwei Gründe unter anderen.

Ungleichheit ohne Diskriminierung

Deutlich wird das in Goldins Studie von 1990 „Understanding the Gender Gap: An Economic History of American Women“, in der sie mit einem verbreiteten Mythos aufräumte. Lange hielt sich die Meinung, dass die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit eine Folge der wirtschaftlichen Entwicklung und des wirtschaftlichen Wachstums sei. Das aber war nach Goldins Analyse ein Trugschluss. Sie zeigte am Beispiel der Vereinigten Staaten seit dem späten 18. Jahrhundert auf, dass die Frauenerwerbstätigkeit sich in einem U–förmigen Verlauf entwickelt hatte.

Der Anteil der Frauen an der bezahlten Erwerbstätigkeit ging von 1800 bis etwa 1900 zurück, um danach wieder zu steigen. Grob gesagt waren um 1800 anteilig ähnlich viele amerikanische Frauen erwerbstätig wie etwa 200 Jahre später. Dazwischen aber gab es ein Tief, obwohl die amerikanische Wirtschaft sich über den gesamten Zeitraum positiv entwickelte. Das zeigt, dass Wirtschaftswachstum nicht zwingend förderlich für die Frauenerwerbstätigkeit ist. Eine ähnliche U-förmige Entwicklung ist nach Angaben des Nobelpreiskomitees mittlerweile auch für andere Länder nachgewiesen.

Wie kam es, dass Forscher vor Goldin das Ab und Auf der Frauenerwerbstätigkeit im Zeitablauf übersehen hatten? Ein wichtiger Grund ist, dass sie nicht tief genug in die historischen Archive hinabgestiegen waren. Verheiratete Frauen wurden etwa im amerikanischen Census vor 1940 nur als „Ehefrauen“ gezählt. Das verdeckte in der Statistik, dass die Frauen Tätigkeiten ausübten, die man als Arbeit ansehen muß. Bäuerinnen arbeiteten auf dem Hof mit, Frauen von Gastwirten oder Kleingewerbetreibenden halfen im Geschäft aus, andere arbeiteten von zu Hause in Heimarbeit.

Anderen Forschern schien es aussichtslos, angesichts der Datenlage etwas über die historische Erwerbstätigkeit der verheirateten Frauen neben der Familie herauszufinden. Goldin aber spürte in historischen Archiven Quellen auf, die die Erwerbstätigkeit von amerikanischen Frauen und ihre Bezahlung beschrieben oder Rückschlüsse darauf zuließen. Sie selbst hat die Arbeit von Ökonomen als Detektivarbeit bezeichnet. Die Ehrung für sie ist so auch eine Ehrung für die wirtschaftshistorische Forschung und die praktische Arbeit in Archiven.

Goldin zeigte mit ihrer Archivarbeit, dass die Frauenarbeit in früheren Studien oft zu niedrig beziffert oder geschätzt wurde. Sie fand Hinweise, dass mit dem Wandel von der Landwirtschaft und Heimarbeit zur Industrie, aber auch mit dem relativen Bedeutungsverlust von inhabergeführten Kleingewerben, der Anteil der Frauen am Arbeitsmarkt zurückging. Die Industrialisierung bot in den Anfangsjahren zwar gerade unverheirateten jungen Frauen viele Beschäftigungsmöglichkeiten. In manchen amerikanischen Bundesstaaten arbeiteten damals nach Goldins Erkenntnis 40 Prozent der unverheirateten Frauen in der Industrie. Andererseits verdrängten die Industrialisierung und die Fabrikarbeit die Heimarbeit, die es verheirateten Frauen ermöglicht hatte, Familie und Arbeit zu verbinden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es nach Goldins Forschung dann zunehmend Regulierungen, mit denen Frauen von bestimmten Berufen ferngehalten wurden.

Mit dem Aufkommen der Büro- und Angestelltenarbeit, die mehr Kopf als Muskelkraft erforderte, zog die Frauenerwerbstätigkeit im 20. Jahrhundert wieder an. Gesetzliche Regelungen gegen die Frauenarbeit in bestimmten Berufen fielen. Der Zweite Weltkrieg zog mehr Frauen nur temporär in das verarbeitende Gewerbe. Die Öffnung der Unternehmen für reguläre Teilzeitarbeit in den vierziger und fünfziger Jahren eröffnete gerade verheirateten Frauen die Chance auf Rückkehr ins Berufsleben nach einer Kinderpause, zumal der technische Fortschritt die Hausarbeit weniger zeitintensiv machte. Später ermöglichte die Erfindung der Antibabypille den Frauen eine bewusste zeitliche Planung ihrer Ausbildung und beruflichen Laufbahn. Ihr Anteil am Erwerbsleben stieg, bestimmt im zwanzigsten Jahrhundert vor allem durch Frauen, die nach einer Kinderpause wieder ins Erwerbsleben einstiegen.

In dieser Geschichtsschreibung spielen Diskriminierung und der Schutz der Männer vor konkurrierenden Frauen im Erwerbsleben nur eine kleine Rolle. Entscheidender sind strukturelle Veränderungen der Wirtschaft und technische Entwicklungen wie die Antibabypille. Sie bestimmten die Spielräume der Frauen im Berufsleben, die sich den Gegebenheiten anpassten. Es ist eine Analyse, die die individuelle Entscheidungsfreiheit betont.

Gierige Berufe

Die wirtschaftlichen Verschiebungen beeinflussten auch die Lohnlücke zwischen Frauen- und Männerarbeit. Schon lange, bevor sich im 20. Jahrhundert eine größere soziale Bewegung für den gleichen Lohn für Frauen und Männer formierte, konnten Frauen nach Goldins Forschung in manchen Jahrzehnten deutliche Verbesserungen ihres relativen Lohn erzielen. Das galt etwa für die industrielle Revolution in den Vereinigten Staaten zwischen 1820 und 1850, als die wirtschaftliche Entwicklung mehr unverheiratete Frauen in den Arbeitsmarkt zog. Das galt auch für das Aufkommen der Angestelltenarbeit von 1890 bis 1930 und ihrer Feminisierung, als es Frauen vor allem aus den Fabriken in die Büros und in besser bezahlte Arbeit zog.

In beiden Episoden ließ der Bedarf die Frauenlöhne relativ gegenüber der Bezahlung für Männer steigen. Es ist ein historischer Verweis auf die Forschungsergebnisse von Gary S. Becker, dem Wirtschafts-Nobelpreisträger von 1992, wonach Diskriminierung weniger Chancen hat, wenn an freien Märkten die Nachfrage nach Arbeitern und Angestellten groß ist.

Goldin zeigte auf, dass die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern lange eine Lohnlücke zwischen den Berufen war, die Männer und Frauen ausübten oder ausüben durften. Frauen arbeiteten Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten, überwiegend in der Herstellung von Textil, Kleidung und Schuhen, von Konserven oder Tabakwaren. Die Arbeit wurde nach Stückzahl bezahlt, so dass für Lohndiskriminierung zwischen den Geschlechtern wenig Raum blieb.

Paradoxerweise ermöglichte dann die Entwicklung hin zur Angestelltentätigkeit im Büro, die den Frauen am Arbeitsmarkt insgesamt mehr Chancen eröffnete, zugleich eine größere Differenzierung und möglicherweise Diskriminierung zwischen den Geschlechtern. Mit der Büroarbeit entfiel die Bezahlung nach Stückzahl und wandelte sich zur Bezahlung nach Arbeitsstunden und nach Betriebszugehörigkeit. Ökonomisch kann das spiegeln, dass Mitarbeiter mit der Zeit Erfahrung und firmenspezifisches Know-how ansammeln. Kinderpausen, für die Frauen und Männer sich frei entschieden, führten von nun aber zu dauerhaften Lohnunterschieden. Das gilt auch heute noch, obwohl die Politik mit Verboten dagegenhält.

Weil Frauen sich traditionell mehr um die Aufzucht und Erziehung der Kinder kümmerten, gerieten sie in der Lohnentwicklung mehr ins Hintertreffen. Männer machen eher Karriere, weil ihre Erwerbsbiografien weniger Brüche aufweisen und sie für außerplanmäßige Überstunden oder lange Dienstreisen eher zur Verfügung stehen. Goldin spricht von „gierigen oder gefräßigen Berufen“, die ständige Abrufbereitschaft erfordern und für die man überproportional viel Geld erhält. Frauen sind wegen der Kinder in diesen gierigen Berufen weniger oft anzutreffen. Das erklärt nach Goldin zu einem guten Teil, warum auch heute noch Frauen statistisch gesehen weniger verdienen als Männer.

Es ist nicht mehr ein Unterschied zwischen Branchen, sondern eine Differenzierung entlang von Tätigkeiten innerhalb der gleichen Beschäftigung. Es ist eine Folge davon, dass Frauen sich häufiger um die Kinder kümmern als Männer. Das kann man mit traditionellen Normen begründen oder freiheitlich mit der Entscheidung eines Paares, das Familieneinkommen zu maximieren, wenn etwa der Mann zur Arbeit geht und die Frau bei den Kindern bleibt. Eine Diskriminierung durch die Arbeitgeber ist es in beiden Fällen nicht.

Warum der Wandel Zeit braucht

In einer anderen Forschungslinie beschäftigte die Ökonomin sich mit dem Einfluss, den Erwartungen auf die Rolle von Frauen am Arbeitsmarkt haben. Dazu schaute Goldin auf Jahrgangskohorten und deren jeweilige Frauenerwerbstätigkeit. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts galt es etwa als normal, dass Frauen die Arbeitswelt verließen, wenn die Kinder kamen. Mit dieser Erwartung gab es wenig Anreize, in die höhere Bildung von Mädchen zu investieren.

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts aber kehrten Frauen zunehmend nach der Kinderpause an den Arbeitsmarkt zurück. Junge Frauen in den 1950-er Jahren, die dem Beispiel ihrer Mütter folgend noch nach traditionellem Muster ein lebenslanges Dasein als Hausfrau und Mutter vor sich sahen, mögen so falsch in ihre Bildung investiert haben. Sie erwarteten nicht, dass sich ihnen nach der Kinderzeit neue Chancen am Arbeitsmarkt eröffneten. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis das Beispiel von berufstätigen älteren Frauen die Erwartungen junger Mädchen beeinflussten und diese für mehr und höhere Bildung optierten. Dazu trug auch bei, dass die Erfindung der Antibabypille den Frauen solche rationalen Entscheidungen über ihre Bildung ermöglichte.

Individuelle Erwartungen über die Zukunft helfen nach dieser Analyse zu verstehen, warum der Wandel zu mehr Frauenerwerbstätigkeit Zeit braucht und nicht von heute auf morgen passiert. Die Jahrgangsanalysen von Goldin machen aber auch klar, dass der Wandel manchmal langsamer scheint als er in Wirklichkeit ist. Wenn etwa junge Frauen beginnen, im Kohortendurchschnitt weit mehr als ihre Mütter eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, bleibt die durchschnittliche Frauenerwerbsquote dennoch für viele Jahre niedrig, solange die älteren Jahrgänge den Durchschnitt dominieren. Gesamtgesellschaftlich scheint es dann so, als ob sich in Sachen Frauenerwerbstätigkeit kaum etwas tut, obwohl sich mit den jungen Jahrgängen schon ein drastischer Umbruch abzeichnet.

Knappheiten und Zwänge

Was folgt aus diesen Erkenntnissen für die Politik? Das Nobelpreiskomitee hat klare Vorstellungen, dass eine Ungleichbehandlung von Frauen ineffizient sei und wirtschaftlich schade. In der Begründung des Preises für Goldin hebt das Komitee hervor, dass die Gesellschaft große Wohlstandsverluste erleide, wenn Arbeiter nicht die Tätigkeit ausüben könnten, die ihren Fähigkeiten am besten entsprächen. Als partial-ökonomische Analyse ist das richtig. Es vernachlässigt aber die Frage, ob Mütter und Väter nur als Arbeitskräfte im Dienste der Gesellschaft zu sehen ssind. Der mögliche Mehrwert für das Kind, wenn Mutter und/oder Vater und nicht eine anonyme Erzieherin die Kindererziehung übernehmen, fällt in dieser Partialanalyse unter den Tisch.

Goldin selbst analysiert die Rolle der Frau am Arbeitsmarkt nicht aus normativer gesellschaftlicher Sicht, sondern aus der Perspektive der Frauen, die ihre Position zwischen Familie und  Arbeit gemäß den historischen Begebenheiten suchen. Zum Teil werden diese individuellen Entscheidungen durch diskriminierende Regeln erzwungen. Wichtiger aber sind im historischen Zeitablauf wirtschaftliche Veränderungen oder Erfindungen.

Gleichwohl spricht Goldin in Interviews von erheblichen Zwängen, denen Frauen bei der Entscheidung zwischen Kind und Karriere ausgesetzt seien. Beispiele sind für die Ökonomin hohe Kosten für die Kinderbetreuung, die gemeinsame Veranschlagung von Ehepartner durch das Finanzamt (Ehegattensplitting) oder die fehlende berufliche Flexibilität, weil meistens Frauen und seltener Männer sich um Kindererziehung kümmern. Goldin hinterfragt in Interviews auch gesellschaftliche Normen, die bestimmte Entscheidungen von Frauen bedingen.

Diese Positionierung steht im Einklang mit der Gleichberechtigungspolitik in heutigen westlichen Gesellschaften. Die Gleichstellung der Frauen, starr definiert als gleiche Beschäftigungsquoten oder gleicher Lohn, will die Politik nicht mehr allein durch das Verbot diskriminierender Regeln, sondern auch durch monetäre Begünstigungen herbeiführen. Dazu zählt vor allem die Subventionierung der Kinderbetreuung, die ökonomische Knappheiten – „Zwänge“ in Goldins Sprachgebrauch – der Begünstigten lindern soll. Mit allen positiven und negativen Folgen ist es die wohlfahrtsstaatliche Antwort auf das Problem, das Milton Friedman, der Wirtschafts-Nobelpreisträger von 1976, mit dem Diktum beschrieb, dass nichts umsonst sei. Bezogen auf Goldins Forschungsthema bedeutet das: Irgendjemand muß auf die Kinder ja aufpassen!

Hinweis: Der Beitrag erschien in Heft 12 (2023) der Fachzeitschrift WiSt https://rsw.beck.de/zeitschriften/wist/das-aktuelle-heft.

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