Werden die Fiskalregeln weiter gelockert, verringert sich die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. Die finanzpolitische Unsicherheit in Deutschland und Europa nimmt zu.
Das Grundgesetz enthielt von Anfang an Regelgrenzen, die dem politischen Missbrauch der Staatsverschuldung zu Lasten künftiger Regierungen vorbeugen sollten. Die Begrenzung der Verschuldung bekam eine zusätzliche Bedeutung durch die Schaffung der Europäischen Währungsunion im Jahre 1999. Sie schafft einen fundamentalen Zielkonflikt zwischen nationaler und europäischer Stabilität, der ein „Trittbrettfahrerverhalten“ hervorruft: Das einzelne Land verschuldet sich stärker, weil die Stabilität der Währung nicht nur von der eigenen, sondern auch von der Finanzpolitik der anderen Länder abhängt. Daher wurden Grenzen für die nationale Verschuldung vereinbart. Die aktuelle Schuldenregel des Grundgesetzes („Schuldenbremse“) dient auch dazu, die Einhaltung der europäischen Regelgrenzen abzusichern.
Nach vier Jahren des Notstandes steht im laufenden Jahr nun die Rückkehr zu den Regelgrenzen des Grundgesetzes an. Bis auf die so genannte Konjunkturkomponente beinhaltet dies für den Bund und die Länder, dass sie weitgehend ausgeglichene Haushalte aufstellen müssen.
Eigentlich sollte die Rückkehr zur regelgebundenen Finanzpolitik unproblematisch sein. Die Corona-Epidemie ist Geschichte, die Energiekrise des Jahres 2022 ist überstanden und für die Ertüchtigung der Bundeswehr hat man durch Änderung des Grundgesetzes überparteilich eine eigene Finanzierung gesichert. Allerdings hatte die deutsche Finanzpolitik weiterhin erhebliche Defizite geplant. Sie sollten aber in Extrahaushalte („Sondervermögen“) ausgelagert werden. Auf diese Weise wollte man die Regelgrenzen des Grundgesetzes umgehen.
Diese riskante Finanzpolitik wurde in der Öffentlichkeit ungeachtet der Warnungen von fachlicher Seite kaum problematisiert, bis das Bundesverfassungsgericht Mitte November 2023 das Auslagern der Defizite aus den Kernhaushalten beendete. Dies hat vor allem die Bundesregierung in Schwierigkeiten gestürzt, da die durch die Umgehung entstehenden Finanzspielräume Teil des Koalitionsvertrags sind. Insbesondere hatte man geplant, die gravierenden wirtschaftlichen Folgen der Energiewendepolitik durch staatliche Subventionen abzufedern. Auch in verschiedenen Bundesländern hatte man darauf gesetzt, an der Schuldenbremse vorbei Defizite in Extrahaushalten aufzunehmen.
Entsprechend ist die finanzpolitische Unsicherheit erheblich gestiegen, und es ist derzeit noch nicht abzusehen, wie es gelingen soll, die Vorgaben einzuhalten. Angesichts der vielen Herausforderungen, denen sich die Politik gegenüber sieht, ist es nicht überraschend, dass verschiedentlich die formelle Begrenzung der Verschuldung als entscheidendes Hindernis einer sachgerechten Finanzpolitik kritisiert wird. Insbesondere wird argumentiert, dass der Schuldenstand in Deutschland von etwa 64% der Wirtschaftsleistung im Jahr 2023 im internationalen Vergleich gering sei. So sei die langfristige Tragfähigkeit der Staatsverschuldung in Deutschland nicht gefährdet, urteilte etwa jüngst der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und sprach sich daher für eine Lockerung der Schuldenregeln in Deutschland aus.
Diese Bewertung überrascht. Denn der europäische Grenzwert liegt mit 60% niedriger und die im Herbst vorgelegte Finanzplanung sieht keinen Rückgang der Staatsverschuldung vor. Mittlerweile hat die Bundesregierung auch den Sechsten Tragfähigkeitsbericht veröffentlicht, der eine erhebliche Tragfähigkeitslücke diagnostiziert. Der Bericht schreibt die aktuelle Finanzpolitik unter Berücksichtigung der Sozialversicherungen langfristig fort. Nach den Ergebnissen würde der Schuldenstand ohne massive Konsolidierungsmaßnahmen auch in einem günstigen Szenario drastisch ansteigen.
Obschon auch in anderen europäischen Ländern erhebliche Zweifel an der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen bestehen, plant man auf europäischer Ebene derzeit, die Fiskalregeln zu lockern. Künftig soll für das gesamtstaatliche konjunkturbereinigte Defizit nicht mehr eine Obergrenze von 0,5% der Wirtschaftsleistung gelten („Medium Term Objective“), sondern ein Grenzwert von 1,5% („Deficit Resilience Safeguard“). Zwar sollen die Länder ihre Finanzplanung zusätzlich so ausgestalten, dass ein Abbaupfad für die Staatsverschuldung angelegt ist. Die konkreten Festlegungen dürften indes wenig wirksam sein, denn sie sollen durch bilaterale Verhandlungen mit der Europäischen Kommission entwickelt werden, die hierbei dann weitere politische Ziele verfolgen wird.
Je mehr man aber jetzt die Regeln lockert, desto drängender wird sich die Frage der langfristigen Tragfähigkeit stellen. Daher ist für die folgenden Jahre weiter von hoher finanzpolitischer Unsicherheit in Deutschland und Europa auszugehen.
Hinweis: Der Beitrag erschien in modifizierter Form als Leitartikel in Heft 5 (2024) der Fachzeitschrift WiSt.