Die USA und China kämpfen um geopolitischen Einfluss in der Welt. Dieser Kampf wird zunehmend mit protektionistischen handels- und industriepolitischen Maßnahmen ausgetragen. Diese wirken sich negativ auf die europäische Wirtschaft aus. Die EU sollte europäische Unternehmen beim Management der damit einhergehenden Probleme unterstützen, indem sie den EU-Binnenmarkt als geoökonomischen Schutzraum ausgestaltet, der auf technologischer Innovation und unternehmerischer Freiheit basiert.
Der EU-Binnenmarkt: Mehr als nur ein Wirtschaftsraum
Der EU-Binnenmarkt ist das Herzstück der EU. Er umfasst die 27 EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen, Island und Liechtenstein. Teile des Binnenmarktes gelten auch für die Schweiz.[1] Der Binnenmarkt wurde geschaffen, um den Wohlstand der Menschen in der EU zu steigern. Zu diesem Zweck wurden die vier Grundfreiheiten durch Regelungen ergänzt, die Verbraucher, Unternehmen und die Umwelt auf vielfältige Weise schützen und gleichzeitig das Wirtschaftswachstum und den sozialen Fortschritt fördern. Die wichtigsten Schutzzwecke des Binnenmarktes sind folgende:
- Das europäische Wettbewerbsrecht soll verhindern, dass Unternehmen Kartelle bilden oder eine marktbeherrschende Stellung missbrauchen und so überhöhte Preise im Binnenmarkt durchsetzen.
- Im Binnenmarkt gibt es zahlreiche Bestimmungen zum Schutz der Verbraucher, z.B. Rechtsvorschriften zur Produktsicherheit, Verbraucherrechte bei Einkäufen im Binnenmarkt und Vorschriften über die Produkthaftung.
- Der Binnenmarkt verfügt über zahlreiche Gesetze zum Schutz der Umwelt. Dazu gehören Grenzwerte für die Emission von Schadstoffen, Recyclinganforderungen und die Förderung erneuerbarer Energien.
- Im Binnenmarkt gibt es Bestimmungen, die Mindeststandards für Arbeitszeiten sowie für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz garantieren. Diese Mindeststandards tragen dazu bei, die Gesundheit und die Rechte der Arbeitnehmer zu schützen.
- Im Binnenmarkt gelten strenge Datenschutzregeln, die vor allem in der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) niedergelegt sind. Diese Regeln schützen die Privatsphäre der Bürger und geben ihnen die Kontrolle über ihre eigenen Daten.
Die Notwendigkeit eines geoökonomischen Schutzraums
In diesem Beitrag schlagen wir vor, einen weiteren Schutzzweck des Binnenmarkts festzulegen und strategisch zu verfolgen, nämlich den Schutz vor geoökonomischen Risiken. Hintergrund ist die veränderte geopolitische Lage durch (1) den Überfall Russlands auf die Ukraine, (2) die innenpolitische Polarisierung der USA als wichtigstem Verbündeten der EU sowie (3) die zunehmende Rivalität zwischen den USA und China und die damit einhergehende Spaltung der Welt in Blöcke. Die USA und China möchten ihre geopolitische Macht durch wirtschaftliche Stärke sichern und vergrößern. Sie versuchen mit zahlreichen handels-, industrie- und außenpolitischen Mitteln strategisch wichtige Lieferketten zu erobern. Diese neue Realität gefährdet die Souveränität, den Wohlstand und die Demokratie in der EU.[2]
Die Verflechtung von Geopolitik mit Industrie- und Handelspolitik wird weiter zunehmen. Für die EU bedeutet dies, dass sie sowohl über reaktive als auch über vorausschauende politische Instrumente verfügen muss, um ihre Interessen in diesem komplexen globalen Umfeld zu schützen. Hierzu zählt auch der Schutz des Binnenmarkts vor geopolitisch motivierten handels-, industrie- und außenpolitischen Maßnahmen von Drittstaaten. Daher schlagen wir vor, den Binnenmarkt zu einem geoökonomischen Schutzraum zu entwickeln und die EU mit den dafür notwendigen Instrumenten auszustatten. Bereits hier sei erwähnt, dass der Binnenmarkt als geoökonomischer Schutzraum Unternehmen nicht von ihrer Pflicht zum Management geoökonomischer Risiken entbindet. Denn der Umgang mit Risiken – auch geoökonomischen – ist in erster Linie eine unternehmerische Aufgabe. Der Forderung der Bundesregierung, dass unternehmerische Klumpenrisiken, die sich aus dem Handel mit China ergeben, „unternehmensseitig verstärkt internalisiert werden“ müssen, „damit im Falle einer geopolitischen Krise nicht staatliche Mittel zur Rettung einstehen müssen“ [3], ist daher uneingeschränkt zuzustimmen. Allerdings kann der Binnenmarkt als geoökonomischer Schutzraum Unternehmen beim Abbau solcher Risiken unterstützen.
Die drei Säulen des geoökonomischen Schutzes
Konkret stützt sich unsere Forderung, den Binnenmarkt zu einem geoökonomischen Schutzraum zu erweitern, auf die folgenden drei Säulen:
- Es ist notwendig, einseitige Abhängigkeiten europäischer Unternehmen bei kritischen Rostoffen oder kritischen Technologien zu verringern. Hierbei handelt es sich insbesondere um Rohstoffe und Technologien, die für den digitalen und grünen Wandel sowie für die Verteidigung wichtig sind.
- Wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen von Drittstaaten können dazu führen, dass die EU oder ihre Mitgliedstaaten nicht mehr frei über ihre Politiken bestimmen können.
- Geopolitisch motivierte wirtschaftliche Aktivitäten von Drittstaaten im Binnenmarkt können die industrielle Basis und technologische Souveränität der EU beeinträchtigen. Drittstaaten können sich geopolitische Vorteile verschaffen, u.a. indem sie Investitionen in kritische Infrastrukturen in der EU tätigen oder Subventionen gewähren, um geopolitisch bedeutsame Lieferketten zu erobern.
Säule 1: Schutz vor Lieferunterbrechungen bei kritischen Rohstoffen und Technologien
Ein geopolitisches Risiko sind Lieferunterbrechungen bei kritischen Rohstoffen und Technologien wie im Fall der russischen Gaslieferungen. Auch China hat im vergangenen Jahr Maßnahmen ergriffen, die das Potenzial hatten, Lieferketten europäischer Unternehmen zu stören. Hierzu zählen insbesondere die Ausfuhrkontrollen bei kritischen Rohstoffen wie Gallium und Germanium.[4] Kritische Rohstoffe und Technologien sind insbesondere solche Rohstoffe und Technologien, die für den digitalen und den grünen Wandel sowie für die Verteidigung wichtig sind. Um das Risiko von Lieferunterbrechungen zu senken, ist es notwendig, einseitige Abhängigkeiten zu verringern, etwa durch den Aufbau von Produktionsstätten im Binnenmarkt und/oder durch die Erforschung alternativer Technologien. Darüber hinaus kann die Versorgungssicherheit durch strategische Vorratshaltung und internationale Partnerschaften mit zuverlässigen Lieferanten verbessert werden.
Die EU hat bereits einige Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgungssicherheit ergriffen. Dazu gehören das Investitionsprogramm Global Gateway, mit dem die EU Schwellen- und Entwicklungsländer enger an sich binden will[5], der Internal Market Emergency and Resilience Act (IMERA), der helfen soll, den Binnenmarkt auf künftige Krisen vorzubereiten und seine Widerstandsfähigkeit zu verbessern, und der Critical Raw Materials Act, der eine sichere und nachhaltige Versorgung der EU mit kritischen Rohstoffen gewährleisten soll. Die nächste EU-Kommission muss den eingeschlagenen Kurs fortsetzen, indem sie bestehende einseitige Abhängigkeiten weiter verringert und bereits getätigte Maßnahmen überprüft. Denn die Wirksamkeit und Effizienz der bereits getätigten Maßnahmen ist keineswegs sicher.
Die EU wird sich besser gegen Lieferunterbrechungen schützen können, wenn europäische Unternehmen wirtschaftlich stark und international wettbewerbsfähig sind. Ein wirtschaftlich prosperierender Binnenmarkt erleichtert es der EU, Bündnisse mit gleichgesinnten Partnern zu schließen und sich für ein reformiertes multilaterales Handelssystem einzusetzen. Schließlich befördert eine wirtschaftlich starke EU die Finanzierung von Produktionsanlagen innerhalb des Binnenmarktes. Die nächste EU-Kommission sollte daher Maßnahmen ergreifen, um die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Engagement im Binnenmarkt zu verbessern.[6]
Säule 2: Schutz vor wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen von Drittstaaten
Ein weiteres wichtiges Mittel zur Bekämpfung geopolitischer Risiken ist der Schutz vor wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen. Wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen sind staatliche Maßnahmen, die darauf abzielen, das Verhalten eines anderen Staates durch die Ausübung oder die Androhung von wirtschaftlichem Druck zu beeinflussen.[7] Solche Maßnahmen können etwa in Form von Handelsbeschränkungen oder Finanzsanktionen erfolgen.[8] Ein Beispiel hierfür sind die 2021 von China eingeführten Handelssanktionen gegen Litauen, nachdem Taiwan eine Repräsentanz in Litauen eröffnet hatte. Ein anderes Beispiel ist die Importblockade von Spirituosen, Wein und Molkereiprodukten aus der EU durch Indonesien im Dezember 2019. Ursache für diese Blockade war der Beschluss der EU, Palmöl als Rohstoff für Biosprit und Brennstoff in Kraftwerken zu verbieten. Auch die USA drohten der EU mit Zwangsmaßnahmen, nachdem einige EU-Mitgliedstaaten eine Steuer auf digitale Dienstleistungen eingeführt hatten. Die zunehmenden geopolitischen Spannungen werden zu einem verstärkten Einsatz solcher Zwangsmaßnahmen führen.
Die EU verfügt über ein Instrument, um ihre Mitgliedstaaten und europäische Unternehmen vor solchen Zwangsmaßnahmen zu schützen. Dies ist das Instrument zur Bekämpfung von Zwangsmaßnahmen. Es soll Drittstaaten daran hindern soll, Zwangsmaßnahmen gegen die EU oder ihre Mitgliedstaaten zu ergreifen, indem es Gegenmaßnahmen ermöglicht.[9] Die nächste EU-Kommission muss das Instrumente konsequent anwenden, ohne Rechtsunsicherheit zu schaffen und den Unternehmen dadurch zusätzlichen bürokratischen Aufwand zuzumuten. Außerdem muss die EU-Kommission weitere internationale Allianzen aufbauen, damit sie im Konfliktfall auf eine breitere Unterstützung zurückgreifen kann. Technologische Souveränität und eine international wettbewerbsfähige Wirtschaft sind bei der Anwendung des Instruments hilfreich und sollten daher auch Gegenstand von politischen Maßnahmen sein.
Säule 3: Schutz vor strategischen Subventionen und anderen geopolitisch relevanten Wirtschaftsaktivitäten von Drittstaaten im Binnenmarkt
Geopolitisch motivierte wirtschaftliche Aktivitäten von Drittstaaten können die industrielle Basis und technologische Souveränität der EU gefährden. Drittstaaten können sich geopolitische Vorteile verschaffen, indem sie kritische Infrastrukturen in der EU betreiben oder wichtige Technologien hierfür bereitstellen. Sie können auch Subventionen gewähren, um geopolitisch bedeutsame Lieferketten zu erobern. Subventionen von Drittstaaten untergraben die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen, die ohne solche Unterstützungen auskommen müssen, weil sie den – verglichen mit den Regeln in Drittstaaten – oft viel strengeren europäischen Subventionsregeln unterliegen und daher keine vergleichbaren Subventionen erhalten können. Drittstaatliche Subventionen können zudem dazu führen, dass Unternehmen Investitionsentscheidungen zuungunsten des Binnenmarkts treffen, was zu einer Erosion der industriellen Basis in der EU führen kann. Schließlich können drittstaatliche Subventionen die technologische Souveränität der EU bei wichtigen Schlüsselindustrien gefährden. Ein Beispiel für ein geopolitisch relevante strategische Subvention ist die umfangreiche finanzielle Unterstützung der Elektroautoindustrie durch den chinesischen Staat. Auch chinesische Windkraftanlagenhersteller wie Goldwing und Mingyang erhalten umfangreiche Subventionen.[10] All dies ist auch von geopolitischer Bedeutung. Denn durch diese Subventionen könnte China eine technologische Führungsrolle in einer Schlüsselindustrie erreichen und Abhängigkeiten schaffen.
Auch insoweit hat die EU bereits Instrumente entwickelt, um den negativen Auswirkungen von Subventionen aus Drittstaaten auf dem Binnenmarkt entgegenzuwirken. So kann die EU-Kommission im Rahmen eines Antisubventionsverfahrens Zölle auf von Drittländern subventionierte Produkte erheben, um den Wettbewerbsvorteil auszugleichen. Die Mitgliedstaaten können zudem den Kauf von europäischen Unternehmen durch subventionierte ausländische Unternehmen verbieten. Schließlich können Unternehmen, die Subventionen aus Drittländern erhalten haben, von der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen innerhalb der EU ausgeschlossen werden. All diese Instrumente haben dazu beigetragen, einige der dringlichsten Auswirkungen ausländischer Subventionen abzumildern. Ein Problem ist jedoch, dass die Verfahren aufgrund der Komplexität der Identifizierung und Bewertung oft langwierig sind. Daher sollte die nächste EU-Kommission schnellere und effizientere Verfahren einführen, um zeitnah auf drittstaatliche Aktivitäten, wie Subventionen, reagieren zu können.
Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen im Binnenmarkt und Beseitigung von Wachstumshemmnissen
Soll der Binnenmarkt den erforderlichen geoökonomischen Dreifachschutz gewährleisten, muss er dringend technologisch innovativer und unternehmerisch freier ausgestaltet werden, damit die Unternehmen mehr investieren und innovieren. Um die Rahmenbedingungen für Unternehmen substanziell zu verbessern, empfehlen wir nachdrücklich, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten – sowohl einzeln als auch gemeinsam – sich die Notwendigkeit eines Wandels bewusst machen und alle möglichen Anstrengungen bündeln, um
- ein vereinfachtes, verständliches, vorhersehbares und kohärenteres Regelungsumfeld zu schaffen, vor allem im digitalen Sektor,
- die einheitliche Umsetzung und Durchführung sowie die strikte Durchsetzung des EU-Rechts zu unterstützen,
- Hindernisse für die Ausübung der vier Grundfreiheiten zu beseitigen und
- Bürokratie abzubauen.
Zur Schaffung eines einfachen, verständlichen, vorhersehbaren und kohärenten Regelungsumfelds muss die EU insbesondere folgendes tun:
- Rechtliche Unklarheiten in EU-Rechtsakten vermeiden und fortbestehende Unklarheiten auflösen, um sicherzustellen, dass Unternehmen die EU-Gesetze einfach, korrekt und einheitlich anwenden können. Rechtsunsicherheiten machen häufig kostspielige Rechtsberatung und Rechtsstreitigkeiten erforderlich und behindern den technologischen Fortschritt, weil Unternehmen aus Angst, unrechtmäßig zu handeln, von Innovationen absehen. Falls notwendig, sollte die EU die Gesetze innerhalb der geregelten Überprüfungszeiträume anpassen.
- Komplexe Rechtsakte (besser) erklären, z.B. durch klare EU-weite Leitlinien und Auslegungshilfen.
- Darüber hinaus auch eine ganzheitliche Orientierung bieten und Zusammenhänge, Überschneidungen und Vorrangregeln zwischen den Rechtsakten erläutern. Beispielsweise den Dschungel der EU-Digitalregulierung in einem erläuternden „Digitalen EU-Regelwerk“ zusammenfassen und aufzeigen, wie Unternehmen Synergien nutzen können, um ähnliche oder sich überschneidende Verpflichtungen (z.B. im AI Act und in der DSGVO) zu erfüllen.
- Die bestehenden Gesetze soweit wie möglich konsolidieren, aufeinander abstimmen und straffen.
Um die einheitliche Umsetzung und Durchführung sowie die strikte Durchsetzung des EU-Rechts zu unterstützen, sollte die EU insbesondere
- die einfache Um- und Durchsetzbarkeit bereits bei der Rechtsetzung mitdenken und die Mitgliedstaaten und ihre Behörden bei der einheitlichen und fristgerechten Umsetzung und Durchführung der EU-Vorschriften unterstützen, u. a. durch Leitfäden, und
- Vertragsverletzungsverfahren wegen Nichtumsetzung oder fehlerhafter Umsetzung von EU-Richtlinien konsequent einleiten und beschleunigen.
Um Hindernisse bei der Ausübung der vier Grundfreiheiten zu beseitigen, ist Folgendes nötig:
- Die EU muss Mitgliedstaaten ermutigen bzw. diese müssen sich gegenseitig unterstützen, bestehende protektionistische Regeln abzuschaffen und keine neuen zu erlassen. Hierzu sind Dialoge wichtig, um zu erklären, warum protektionistische Maßnahmen auf kurze Sicht helfen, langfristig aber das Gesamtziel der Stärkung des Binnenmarktes und damit die Schaffung eines europäischen „Gegengewichts“ zu den USA und China gefährden. Die Mitgliedstaaten sollten dem Gemeinwohl der EU Vorrang vor nationalen protektionistischen Maßnahmen einräumen.
- Der Binnenmarkt muss auf noch nicht integrierte Regelungsbereiche ausgeweitet werden. Er ist derzeit in einigen Wirtschaftsbereichen unvollständig, insbesondere in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Energie und Telekommunikation.[11] Da ein unvollständiger Binnenmarkt nicht voll wirksam sein kann, dürfen die Mitgliedstaaten eine weitere Integration nicht länger ablehnen und müssen sich einigen, wie diese weiteren Politikbereiche integriert werden können.
Die EU muss ihre bereits unternommenen Anstrengungen[12] zum Bürokratieabbau deutlich verstärken. Insbesondere muss sie
- den Bürokratieabbau fortsetzen und allem voran Berichtspflichten auf das absolut Notwendige beschränken und
- KMU entlasten, etwa durch eine Ausweitung der Definition von KMU mehr Unternehmen von bürokratischen Verpflichtungen befreien.
Schlussfolgerung
Der Binnenmarkt wurde geschaffen, um den Wohlstand der Menschen in der EU zu steigern. Zu diesem Zweck wurden die vier Grundfreiheiten durch eine Reihe von Vorschriften ergänzt, die Verbraucher, Unternehmen und die Umwelt in vielfältiger Weise schützen. Die EU steht derzeit aufgrund der veränderten geopolitischen Lage vor neuen großen Herausforderungen. Die regelbasierte, multilaterale Weltordnung der Nachkriegszeit ist ins Wanken geraten. China gewinnt zusammen mit dem „globalen Süden“ immer mehr an Einfluss. Die EU befindet sich in einem Wettbewerb mit China und den USA, dessen Ziel es ist, wirtschaftliche Stärke zu erlangen, um die geopolitische Macht auszuweiten. Hierzu versuchen beide Länder strategisch wichtige Lieferketten zu erobern und die Führerschaft bei wichtigen Technologien zu erlangen. Dies gefährdet die geopolitische Macht der EU und ihre industrielle Basis. Die Verflechtung von internationalem Handel und geopolitischer Macht wird weiter zunehmen.
Das Management geoökonomischer Risiken ist in erster Linie eine unternehmerische Aufgabe. Die Politik kann und sollte die Unternehmen jedoch unterstützen, indem sie den EU-Binnenmarkt als geoökonomischen Schutzraum ausgestaltet, der auf technologischer Innovation und unternehmerischer Freiheit basiert. Wir schlagen daher vor, den Schutz vor geoökonomischen Risiken als weiteren Schutzzweck des Binnenmarkts festzulegen und strategisch zu verfolgen. Konkret bedeutet dies erstens den Schutz vor Unterbrechungen der Lieferketten bei kritischen Ressourcen, zweitens den Schutz vor wirtschaftlichem Zwang durch Drittstaaten und drittens den Schutz vor geopolitisch relevanten wirtschaftlichen Aktivitäten von Drittstaaten im Binnenmarkt.
Um diesen dreifachen Schutz zu gewährleisten, ist eine wirtschaftliche Stärkung des Binnenmarktes unerlässlich. Je stärker der Binnenmarkt ist, desto besser kann er zur Lösung der geoökonomischen Herausforderungen beitragen. Ein starker Binnenmarkt macht es für Drittländer attraktiver, Handelsabkommen mit der EU zu schließen und europäische Standards zu übernehmen.
Hinweis: Der Beitrag erschien in modifizierter Form als cepInput auf der Website cep.eu.
[1] Europäischer Rat (2023): 30. Jahrestag des EU-Binnenmarktes, verfügbar unter https://www.consilium.europa.eu/de/infographics/30-years-of-the-eu-single-market/.
[2] Siehe: Vöpel H. (2024): Freiheit oder Knechtschaft – Schicksalsjahre für Europa; Warum die EU ihr Selbstverständnis ändern und Souveränität für die geopolitische Wende zurückgewinnen muss; cepInput spezial: Europa vor der Wahl: Agenda 2024-2029; verfügbar unter https://www.cep.eu/en/eu-topics/details/cep/freiheit-oder-knechtschaft-europa-vor-schicksalsjahren-cepinput-spezial.html.
[3] Bundesregierung (2023): China-Strategie der Bundesregierung, S. 18, verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btd/20/077/2007770.pdf.
[4] Nachdem der Export von Germanium und Gallium im Sommer 2023 zum Erliegen kam, hat sich die Situation mittlerweile wieder normalisiert. Das Beispiel zeigt dennoch die Gefahr einer solchen Abhängigkeit.
[5] Siehe Wolf, A. und E. Poli (2024): A Global Gateway to Secure Supply Chains?, cepStudy No. 3, verfügbar unter https://www.cep.eu/eu-themen/details/cep/a-global-gateway-to-secure-supply-chains-cepstudie.html.
[6] Konkrete Maßnahmen werden am Ende des Artikels aufgeführt.
[7] Europäischer Rat (2023): Handel: Rat nimmt Verordnung zum Schutz der EU vor wirtschaftlicher Nötigung durch Drittländer an, Pressemitteilung vom 23. Oktober 2023, abrufbar unter https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2023/10/23/trade-council-adopts-a-regulation-to-protect-the-eu-from-third-country-economic-coercion/.
[8] Siehe Vereinte Nationen (19973): Charta der Vereinten Nationen, Kapitel VII, Artikel 41.
[9] Europäischer Rat (2023): Handel: Rat nimmt Verordnung zum Schutz der EU vor wirtschaftlicher Nötigung durch Drittländer an, Pressemitteilung vom 23. Oktober 2023, abrufbar unter https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2023/10/23/trade-council-adopts-a-regulation-to-protect-the-eu-from-third-country-economic-coercion/.
[10] Siehe Kieler Institut für Weltwirtschaft (2024): Foul play? Zu Höhe und Umfang von Industriesubventionen in China, verfügbar unter https://www.ifw-kiel.de/fileadmin/Dateiverwaltung/IfW-Publications/fis-import/3efc594b-3e1c-41e4-b6b0-150e947a45db-KBP173_dt.pdf.
[11] Anstelle von vielen: ERT Vision Paper 2024-2029, Securing Europe’s place in a new world order, S. 25, verfügbar unter https://ert.eu/documents/vision2024/; Letta, E., Much more than a Market, April 2024, S. 8, verfügbar unter https://www.consilium.europa.eu/media/ny3j24sm/much-more-than-a-market-report-by-enrico-letta.pdf.
[12] Zum Beispiel die Regel „einer rein, einer raus“.
Blog-Beiträge zum Thema
Norbert Berthold (JMU, 2024): Binnenmarkt, Währungsunion und Subsidiarität. Wie kommt die EU wirtschaftlich wieder auf die Beine?