Das Grundgesetz
Keuschheitsgürtel der Demokratie

Nicht die Demokratie, sondern der Rechtsstaat ist in unserem demokratischen Rechtsstaat in Gefahr. Eine Verfassung, wie das Grundgesetz, hilft gegen die Gefahr, beseitigt sie aber nicht endgültig.

Die Verfassung einer Demokratie ist treffend mit einem Keuschheitsgürtel verglichen worden (Jasay 2018), zu dem der Gesetzgeber, den Schlüssel der Normänderungsregeln besitzt. Der zentrale Punkt der demokratischen Verfassung ist dabei gerade, dass sie ‚undemokratisch‘ mehr als einfache Mehrheiten für Änderungen verlangt.

Falls als Normänderungsregel die einfache demokratische Mehrheitsentscheidung ausreicht, ist das so, als ob der Schlüssel am Bettpfosten hängt, wenn die Normänderung höhere Mehrheiten erfordert, so als ob der Schlüssel im Keller liegt. Das Jubiläum unserer Verfassung gibt Anlass zu der Feststellung, dass es gut ist, den Schlüssel im Keller zu lassen, wo er hingehört (z.B. ‚Schuldenbremse‘) und ihn dorthin zu transportieren, wenn es um die Regeln für Besetzung und Funktionen des Bundesverfassungsgerichtes geht.

Normänderungsregeln

Die soziale Erfindung von Normänderungsregeln, ist von führenden Rechtstheoretikern mit der des Rades verglichen worden (Hart 1961). Solche Ermächtigungsregeln erlauben eine Veränderung des Rechtes mit rechtlichen Mitteln. Wie alle fundamentalen menschlichen Erfindungen können sie zum Guten wie zum Schlechten genutzt werden, und das gilt für demokratische Rechtsstaaten ebenso wie für Autokratien (Rehfeldt 1951, Hayek 2022).

Weil die Gesetzgebung ein so mächtiges Instrument ist, das von wechselnden Mehrheiten für ihre partikularen Zwecke benutzt werden kann, muss im demokratischen Rechtsstaat auch der Gesetzgeber durch eine Verfassung eingeschränkt sein. Denn könnten alle Spielregeln mit einfacher Mehrheit geändert werden, würde die rechtsstaatlich notwendige Bindung aller Gewalten an rechtliche Regeln gefährdet und der Weg in die Autokratie vorgezeichnet sein.

Im parlamentarischen, demokratischen Rechtsstaat muss verhindert werden, dass die Gesetzgebungskompetenz des Parlamentes wie in Polen und Israel mit einfacher Mehrheit dazu verwendet werden kann, das Gleichgewicht zwischen den drei Gewalten der Legislative, Exekutive und Judikative fundamental zu Ungunsten der Judikative zu verschieben. Diese Bestrebungen scheinen in Polen und in Israel zumindest vorerst abgewehrt worden zu sein, doch die Nachhaltigkeit der Abwehr ist wegen der nach wie vor fehlenden verfassungsrechtlichen Verankerung der Unabhängigkeit der Justiz nicht gegeben.

Vielen Bürgern und vielen Politikern unseres (noch) intakten demokratischen Rechtsstaates dämmert es gegenwärtig, dass auch bei uns die Judikative durch Änderungen, die mit einfacher parlamentarischer Mehrheit vorgenommen werden können, entmachtet werden könnte.

Schutz der Judikative das Gebot der Stunde

In der BRD haben die Parteien des Rechtsstaates, die gegenwärtig noch über solide Zweidrittelmehrheiten verfügen, anscheinend die Zeichen der Zeit erkannt. Sie wollen mit verfassungsändernder 2/3 Mehrheit eine Änderung der bundesrepublikanischen Verfassung vornehmen, die das Verfassungsgericht — und damit die Judikative insgesamt — vor dem Zugriff einfacher parlamentarischer Mehrheiten schützt, indem sie für Verfahrensänderungen, die die Autonomie des Verfassungsgerichtes betreffen, 2/3 Mehrheiten verlangt.

Der überzeugte Anhänger der Rechtsstaatlichkeit wird deren Wahrung der umfassenden Demokratisierung im Sinne der einfachen Mehrheitsregel vorordnen. Er wird anerkennen, dass die Stabilität von Rechtsstaaten ohne demokratische Verfahren der Norm-Gebung, -Legitimation und -Kontrolle nach allem, was wir wissen, kaum gewährleistet werden kann; aber er wird Raum für die Forderung nach Beschränkungen der einfachen Mehrheitsregel und für die Forderung nach qualifizierten Mehrheiten sehen. Betrachtet man die aktuelle Diskussion um die Schuldenbremse bekommt man allerdings einen etwas anderen Eindruck.

Maßnahmeverbot durch Schuldenbremse?

Die Schuldenbremse wird gern als ein willkürliches Verschuldungsverbot angegriffen. Sie beinhaltet der Sache nach aber kein Verbot.

Anders als im Fall von Artikel 1 und 20 GG, deren Änderung durch Artikel 79(3) verboten wird, ist die Schuldenbremse nicht durch ein Änderungsverbot in der Verfassung geschützt. Die Quizz-Frage, ob man 79(3) im Rahmen des GG ändern kann, ist etwas für arbeitslose Rechtsphilosophen. Für den Rest von uns gilt jedenfalls, dass man mit 2/3 Mehrheit aber auch nur mit solchen Mehrheiten die Schuldenbremse ändern oder suspendieren kann.

Entsprechende Mehrheiten von mehr als 2/3 der Parlamentarier wurden nach dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht daran gehindert, ein Sondervermögen für die Bundeswehr einzurichten. Es ist also möglich, derartige Vorhaben durch Sonderschulden zweckgebunden zu finanzieren. Die Schuldenbremse ist kein Maßnahmeverbot und schon gar nicht willkürlich.

Die politische Ökonomik und die Schuldenbremse

Wenn wir die Rechtsstaatlichkeit als primär betrachten und demokratische Abstimmungsverfahren als deren notwendige Voraussetzung, dann spricht nichts dafür, dass nur einfache Mehrheitsverfahren in den Institutionen des Rechtsstaates zulässig sein sollten (vgl. Buchanan & Tullock 1962). Wenn es um eine generelle Regel wie die Schuldenbremse geht, dann kann und muss die politische Ökonomik etwas zu den vermutlichen Folgen der institutionellen Implementierung oder Nicht-Implementierung der Regel sagen.

Es muss darüber geredet werden, welche erwünschten und welche nicht-erwünschten Maßnahmen verhindert werden, wenn die Schuldenbremse als allgemeine Regel institutionalisiert bleibt. Ebenso muss darüber gesprochen werden, welche nicht-erwünschten Maßnahmen neben den erwünschten ermöglicht werden, wenn die allgemeine Schuldenbremse aufgehoben wird. Die übliche einzelfallbezogene Diskussion Maßnahmen ist in jedem Falle inadäquat.

Autonomie des Verfassungsgerichtes und Schuldenbremse

Die mittlerweile breit diskutierte Absicherung der Autonomie des Bundesverfassungsgerichtes gegen mit einfacher Mehrheit geführte Angriffe wird der Anhänger des demokratischen Rechtsstaates begrüßen. Die Durchsetzbarkeit der Schuldenbremse durch das Verfassungsgericht zeigt, dass es in der BRD die Bindung an Recht und Gesetz auch dann gibt, wenn es an das haushaltspolitische Eingemachte geht.

Bestimmte Gegner der Schuldenbremse werden der verfassungsmäßigen Absicherung der Autonomie des BVerfG gerade aufgrund der Erfahrung mit der Durchsetzung der Schuldenbremse skeptisch gegenüberstehen. Sie werden die Zustimmung zur generellen Absicherung der Autonomie des Verfassungsgerichtes von speziellen Konzessionen hinsichtlich der Schuldenbremse abhängig machen wollen.

Finanzpolitische Keuschheit ist zwar wichtig, aber die Autonomie des Verfassungsgerichtes noch wichtiger. Das ist nicht so, weil das Gericht immer richtig entscheiden würde, sondern deshalb, weil es nur unter bestimmten allgemeinen Bedingungen als Bremse wirken und nicht einfach ausgehebelt werden kann. Natürlich sollte es darum gehen, die Schuldenbremse und die Unabhängigkeit des BVerfG abzusichern.

Wenn endlich da, wo es um die Bewahrung des Rechtsstaates geht, nicht mehr gedankenlos von der Bewahrung der Demokratie geredet würde, wäre viel für die Verwirklichung solcher Ziele erreicht. Gerade wenn man an nachhaltiger Demokratie interessiert ist, sollte man mit dem populistischen Geplapper aufhören, das bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die Demokratie im Munde führt und damit den Gegnern des demokratischen Rechtsstaates in die Hände spielt.

Hintergründe

Die Metapher vom Keuschheitsgürtel wird von Anthony de Jasay in seinem Buch ‚the state‘ verwendet; kürzer in (Government, Bound or Unbound? | Cato Unbound (cato-unbound.org ).  

Der Vergleich der Erfindung von Normänderungsregeln mit der des Rades findet sich etwa bei Hayek (2022) — unter Bezugnahme auf den deutschen Rechtstheoretiker (Rehfeldt, 1951) und ohne diese Bezugnahme in (Hart, 1961). Die Bindung an Regeln steht im Vordergrund z.B. von (Brennan & Buchanan, 1985) Deutsche Übersetzungen/Fassungen der Buchtexte sind verfügbar.

Brennan, G., & Buchanan, J. M. (1985). The Reason of Rules. Cambridge University Press.

Buchanan, J. M., & Tullock, G. (1962). The Calculus of Consent. University of Michigan Press.

Hart, H. L. A. (1961). The Concept of Law. Clarendon Press.

Hayek, F.A. (2022) Law, Legislation, and Liberty, University of Chicago Press

Jasay, A. (2018) Der Staat. Hrsg. und übersetzt von Hardy Bouillon. Berlin: Duncker & Humblot.

Rehfeldt, B. (1951). Die Wurzeln des Rechts. Duncker & Humblot.

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