Gastbeitrag
Arbeitsmarkt in Ostdeutschland
Große Fortschritte, aber Herausforderungen bleiben

Am 9. November 2024 jährt sich der Fall der Berliner Mauer zum 35. Mal. Auch heute noch steht in öffentlichen Debatten zur Lage in Ost und West das Trennende oft im Vordergrund – zuletzt etwa bei den Europa-Wahlen und ganz aktuell auch mit Blick auf die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Für die meisten Menschen in ganz Deutschland ist Erwerbstätigkeit der wichtigste Faktor für den eigenen Lebensstandard. Einen Arbeitsplatz zu haben, hat ebenso wie dessen Ausgestaltung großen Einfluss auf das Selbstwertgefühl, die Einschätzung der Lebensqualität und nicht zuletzt auf das Zugehörigkeitsgefühl und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage, wie es aktuell um die Arbeitsmärkte in Ost und West bestellt ist, besonders relevant.

Das im August 2024 erschienene Papier der Bertelsmann Stiftung „Entwicklung und Zukunft des ostdeutschen Arbeitsmarkts“ (Thode und Wink 2024) zeichnet auf Basis aktuell verfügbarer Indikatoren ein aussagekräftiges Bild über die Arbeitsmarktlagen in Ost und West. Dieser Beitrag blickt auf die zentralen Ergebnisse.

Enormer Aufholprozess in Ostdeutschland

Der Arbeitsmarkt in Ostdeutschland hat sich seit Mitte der 2000er Jahre in wesentlichen Bereichen sehr positiv entwickelt. So ist die Arbeitslosenquote ausgehend von ihrem Höchststand mit 18,7 Prozent im Jahr 2005 nahezu durchgängig gesunken und betrug im Jahr 2023 nurmehr 7,2 Prozent (Abbildung 1). Auch wenn die Quote in Westdeutschland mit 5,3 Prozent noch knapp zwei Prozentpunkte geringer ausfällt, ist das ein enormer Erfolg. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen liegt mittlerweile in beiden Landesteilen sogar gleichauf – wenn auch auf weiterhin hohem Niveau (34,4 Prozent im Osten gegenüber 34,9 Prozent im Westen).  

Spiegelbildlich zum Rückgang der Arbeitslosigkeit ist die Erwerbstätigkeit stark angestiegen. So liegt die Erwerbstätigenquote mit 76,7 Prozent inzwischen auf demselben Niveau wie in Westdeutschland (77,3 Prozent). Die Zunahme der Erwerbstätigkeit verteilt sich dabei auf alle Gruppen. Beispielsweise sind auch die Unterschiede bei den älteren Arbeitskräften zwischen 55 und 64 Jahren nur noch marginal. Die Erwerbstätigenquote der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in dieser Altersgruppe beträgt in Ostdeutschland 59,6 Prozent, während sie im Westen mit 58,8 Prozent leicht darunter liegt. Eine bewusste Politik, das Arbeitsangebot zu verknappen, um damit der hohen Arbeitslosigkeit Herr zu werden, hat es also in den letzten 20 Jahren nicht mehr gegeben.

Auch die hohe Abwanderung aus dem Osten in den Westen, die sich bis weit in die 2010er Jahre vollzogen hat, taugt nicht, um die Arbeitsmarkterfolge zu schmälern.  Es sind vor allem jüngere, gut ausgebildete Menschen mit günstigen Beschäftigungsperspektiven in den Westen gezogen. Damit lag der Schwierigkeitsgrad für Ostdeutschland, so viele Menschen in Arbeit zu bringen, eher noch höher. Seit 2017 sind netto mehr Menschen in den Osten gezogen und haben das Arbeitskräfteangebot erhöht. Abermals umgekehrt hat sich der Wanderungsstrom im Jahr 2023 und es gab – auf Basis vorläufiger Daten – per saldo einen Wegzug aus dem Osten, allerdings auf einem geringen Niveau von knapp 3.000 Personen (Statistisches Bundesamt 2024).

Der Arbeitsmarktaufschwung wurde auch nicht durch steigende Ungleichheit erkauft. Im Gegenteil: Lag der Anteil der Niedriglohnbeschäftigung im Jahr 2011 mit 39,9 Prozent noch beinahe auf dem doppelten Niveau von Westdeutschland (20,7 Prozent), war er bis 2021 auf 26,7 Prozent gesunken. Der Abstand zum Westen hat sich auf 6,5 Prozentpunkte verringert. Auch der Anteil der so genannten Aufstocker an allen Beschäftigten, also derjenigen, die zum geringen Arbeitseinkommen ergänzend Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhalten, hat sich erheblich reduziert: von mehr als 3 Prozent im Jahr 2015 auf weniger als 1,5 Prozent im Jahr 2023. Westdeutschland liegt mit 1,1 Prozent noch etwas darunter. Nicht zuletzt hat sich auch die Ungleichheit der Haushaltsmarkteinkommen seit 2005 merklich reduziert.

Arbeitsmarktposition von Frauen im Osten deutlich stärker

In einer anderen Dimension von (Un-)Gleichheit hat der Osten dagegen die Nase vorn, nämlich bei der Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt. Im östlichen Landesteil ist die Arbeitsmarktteilhabe von Frauen deutlich ausgeprägter. Zwar ist die Erwerbstätigenquote von Frauen im Osten nur minimal höher als im Westen (75,1 zu 74,3 Prozent). Doch sind sie in weit höherem Umfang auf dem Arbeitsmarkt aktiv. Während im Osten zwei von drei Frauen in Vollzeit tätig sind, ist es im Westen nur jede Zweite. Hinzu kommt, dass Frauen im Osten häufiger in komplexen Tätigkeiten auf Spezialistenniveau oder in hochkomplexen Expertentätigkeiten arbeiten. Auf diesen beiden höchsten Anforderungsniveaus der vierstufigen Skala der Bundesagentur für Arbeit, die mindestens einen Bachelor-, Techniker- oder Meisterabschluss bzw. einen universitären Master-Abschluss erfordern, beträgt der Frauenanteil 47 bzw. 46,7 Prozent. Der Anteil ihrer Geschlechtsgenossinnen im Westen liegt mit 37,3 bzw. 36,7 Prozent deutlich darunter.

Der unbereinigte Gender Pay Gap, der einfach die durchschnittlichen Bruttostundenverdienste von Frauen und Männern gegenüberstellt, ist im Osten mit 7 Prozent erheblich geringer als im Westen mit 19 Prozent. Erst wenn man die Unterschiede berücksichtigt, in welchen Berufen, Branchen und auf welchen Anforderungsniveaus Männer und Frauen arbeiten, reduziert sich die so bereinigte geschlechtsspezifische Lohnlücke im Westen auf 6 Prozent, während sie im Osten weiterhin bei 7 Prozent liegt. Auch andere Indikatoren wie etwa die Anteile an typischen Frauen-, Männer- und Mischberufen zeigen, dass sich die Geschlechter in den Arbeitsmarktmerkmalen im Osten einander erheblich mehr ähneln als im Westen.

Anhaltender Rückstand bei Löhnen und Produktivität

Bei so viel Licht auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt gibt es in einigen Bereichen auch anhaltenden Schatten. Dazu gehört in erster Linie das weiterhin deutlich geringere Lohnniveau. Das mittlere Entgelt (Median), das alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in eine Hälfte mit höherem und eine Hälfte mit geringerem Einkommen teilt, betrug in Ostdeutschland im Jahr 2022 3.157 Euro, während es im Westen bei 3.752 Euro lag. Das entspricht einem Lohnrückstand von fast 16 Prozent. Auch wenn die Lohnlücke Ende der 90er Jahre noch bei 26 Prozent lag und die Bruttomonatsentgelte seither deutlich stärker gestiegen sind als im Westen, ist der Abstand auch heute noch erheblich. Ein erster Erklärungsfaktor dafür liegt im unterschiedlichen Ausmaß der Tarifbindung, denn tarifgebundene Unternehmen zahlen im Schnitt besser als nicht-tarifgebundene. Der Anteil der tarifgebundenen Unternehmen beträgt im Osten 45, im Westen noch 52 Prozent.

Ein weitaus grundlegenderer Erklärungsfaktor dürften fortbestehende Unterschiede in der Produktivität der Unternehmen sein, gemessen an der Bruttowertschöpfung pro Arbeitsstunde. Im Bereich vom Bergbau, Energie und Wasser sowie bei öffentlichen und sonstigen Dienstleistungen inklusive Erziehung und Gesundheit liegt der Osten auf Westniveau. Im Bereich von Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei ist die Arbeitsproduktivität im Osten sogar um ein Viertel höher als im Westen. In den anderen Wirtschaftszweigen gibt es allerdings weiterhin Rückstände, die bei Finanz-, Versicherungs- und Unternehmensdienstleistungen (inkl. Grundstücks- und Wohnungswesen) sowie im verarbeitenden Gewerbe besonders ausgeprägt sind. In beiden Bereichen erreicht die Arbeitsproduktivität nur etwas mehr als drei Viertel des Westniveaus. Weitere Diskrepanzen bestehen – wenn auch weniger ausgeprägt – im Baugewerbe und im großen Bereich von Handel, Gastgewerbe, Verkehr, Information und Kommunikation.

Was aber erklärt die weiterhin bestehenden Produktivitätsunterschiede im Verarbeitenden Gewerbe? Ein wesentlicher Grund liegt bis heute in den unterschiedlichen Betriebsgrößenstrukturen in Ost und West. Größere Betriebe können ihre Beschäftigten unter sonst gleichen Umständen produktiver als kleinere oder mittlere Betriebe einsetzen (Müller und Neuschäffer 2019). Nach dem weitreichenden Zusammenbruch des verarbeitenden Gewerbes in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung war die Größenstruktur der Unternehmen im Osten von wenigen Großbetrieben und zahlreichen Kleinbetrieben gekennzeichnet. Daran hatte sich bis in die 2010er Jahre hinein wenig geändert. In den letzten Jahren hat sich die Verteilung der Beschäftigten auf die Betriebsgrößenklassen zwischen Ost und West allerdings deutlich angeglichen. So waren noch im Jahr 2014 in Westdeutschland 31 Prozent der Arbeitskräfte in Großbetrieben mit 250 Beschäftigten und mehr tätig, im Osten dagegen lediglich 22 Prozent (Bechmann et al. 2015). Bis zum Jahr 2021 war der Wert für Westdeutschland nur noch leicht auf 32 Prozent angestiegen, während er im Osten 28 Prozent erreichte (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz 2022). Auf der anderen Seite ist der Anteil von Arbeitskräften in Kleinstbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten in Ostdeutschland mit 17 Prozent etwas größer als in Westdeutschland mit 14 Prozent. Ein ähnlicher Unterschied zeigt sich beim Anteil der Kleinstbetriebe an allen Betrieben. Im Osten haben 71 Prozent aller Betriebe weniger als zehn Beschäftigte, während der entsprechende Wert im Westen 66 Prozent beträgt.

Zahlreiche weitere Faktoren wirken auf die Produktivität von Betrieben ein. Dazu zählt wiederum die Tarifbindung und auch die betriebliche Mitbestimmung, für die in empirischen Studien regelmäßig ein positiver Effekt auf die Produktivität beobachtet wird. Ebenfalls positiv wirken eine höhere Exportintensität, eine günstigere Branchenstruktur innerhalb des verarbeitenden Gewerbes, der Modernitätsgrad der technischen Anlagen, der Sitz der Firmenzentrale in der jeweiligen Region oder auch ein hoher Anteil qualifizierter Beschäftigter. Im Durchschnitt sind diese Faktoren im Westen häufiger oder ausgeprägter zu finden als im Osten. Alle diese Aspekte zusammen können dennoch nicht vollständig die Produktivitätslücke zwischen Ost und West beleuchten (Ragnitz 2024, Bachmann et al. 2022).

Fazit und Schlussfolgerungen

Der Arbeitsmarkt in Ostdeutschland hat seit Mitte der 2000er Jahre eine bemerkenswert positive Entwicklung vollzogen. Arbeitslosigkeit und Ungleichheit sind stark gesunken, während die Erwerbstätigkeit insgesamt und über alle Gruppen hinweg enorm gestiegen ist. Größte Baustelle ist nach wie vor der Rückstand bei den Löhnen, die auch im Jahr 2022 noch um ein Sechstel geringer als im Westen waren. Die Diskrepanz wird durch die geringeren Lebenshaltungskosten nicht ausgeglichen. Unterschiede in der Produktivität der Unternehmen dürften dafür der größte Erklärungsfaktor mit einer Vielzahl von zugrundeliegenden Ursachen sein. Die Zeit, sich auf den bisherigen Erfolgen auszuruhen, ist also noch nicht gekommen.

Andauernde Unterschiede in den Löhnen können auch eine Rolle dafür spielen, dass die Menschen in Ostdeutschland die wirtschaftliche Gesamtlage und ihre eigene Situation schlechter einschätzen als die Menschen im Westen und auch schlechter, als es die Arbeitsmarktsituation erwarten ließe. Neben den Lohnunterschieden können auch die Erfahrungen aus den schwierigen Zeiten nach der Wiedervereinigung weiterhin Gewicht haben, und zwar nicht nur im individuellen oder kollektiven Gedächtnis. Die negativen Entwicklungen von damals können auch heute nachwirken, etwa wenn lange Phasen der Arbeitslosigkeit heute in geringer Rente oder gar Altersarmut resultieren. Oder wenn im Zuge der Abwanderung auch die öffentliche Daseinsvorsorge immer mehr ausgedünnt wurde und heute z. B. lange Wege in Kauf genommen werden müssen, um Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen zu können.

Es gibt keine einfachen Rezepte, um den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland weiter voranzubringen. Der Produktivitätsrückstand im verarbeitenden Gewerbe ließe sich durch eine veränderte Branchenstruktur und eine Betriebsgrößenstruktur mit mehr Groß- und weniger Kleinbetrieben voranbringen. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Ansiedelung einzelner „Leuchttürme“ wie Tesla in Grünheide oder Intel in Magdeburg in die richtige Richtung zu gehen. In dem Maße, wie sich um diese Produktionsstätten herum ein Geflecht aus unternehmensnahen Dienstleistungen, Handel und anderen Branchen bildet, können hochproduktive und gut bezahlte Arbeitsplätze in größerer Zahl entstehen. Theoretisch können sich darüber auch die hohen Subventionen, die in der Vergangenheit häufig für solche Ansiedelungen gewährt wurden, bezahlt machen. Ob das Kosten-Nutzen-Verhältnis in der Realität jemals positiv wird, hängt allerdings von zahlreichen Faktoren ab, die schwer zu beziffern sind.

Ein weiterer Punkt dürfte in Zukunft noch wichtiger werden als heute: Ostdeutschland muss für Zuwanderung attraktiver werden, um dem Fachkräftemangel entgegenwirken zu können. Schon heute übersteigt etwa der Stellenüberhang in Sachsen, in Thüringen, aber auch in Mecklenburg-Vorpommern die entsprechenden Arbeitskräfteknappheiten in Hessen, Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein. Und das „demografische Echo“ der Abgewanderten früherer Jahrzehnte findet seinen Widerhall in einer nochmals schwächeren Bevölkerungsentwicklung in der Zukunft. Ohne substantielle Zuwanderung drohen die erzielten Arbeitsmarkterfolge in sich zusammenzufallen.

Literatur

Bundesagentur für Arbeit (2024). Statistik der Bundesagentur für Arbeit. https://statistik.arbeitsagentur.de

Bachmann, R., Bayer, C., Stüber H. und Wellschmied F. (2022): Monopsone machen Unternehmen nicht nur klein, sondern auch unproduktiv: Warum die Wirtschaft Ostdeutschlands nicht konvergiert ist, in: ifo Dresden berichtet 2022(29)5, 9–12.

Bechmann, S., Dahms, V., Tschersich, N., Frei, M., Schwengler, B. und Möller, I. (2015). Wandel der Betriebslandschaft in West- und Ostdeutschland. Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2014. IAB Forschungsbericht 9/2015. https://doku.iab.de/forschungsbericht/2015/fb0915.pdf

Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (Hrsg.) (2022). Betriebspanel Ostdeutschland. Ergebnisse der 26. Befragungswelle 2021. Berlin.

Kalina, T. (2024), Niedriglohnbeschäftigung 2021. IAQ Report 2024 03. https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00081204/IAQ-Report_2024_03.pdf

Müller, S. und Neuschäffer, G. (2019). Ostdeutscher Produktivitätsrückstand und Betriebsgröße, Wirtschaft im Wandel 25 (03), S. 53–56.

Ragnitz, J. (2024). Der Produktivitätsrückstand Ostdeutschlands: Eine unendliche Geschichte. Ifo Dresden berichtet, 2024, 31, Nr. 01, 3–9.

Statistisches Bundesamt (2024). Wanderungsbewegungen in Ost- und Westdeutschland. https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/Aspekte/demografie-wanderungen.html

Thode, E. und Wink, R. (2024). Entwicklung und Zukunft des ostdeutschen Arbeitsmarkts. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). Gütersloh.

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