Zwei unangenehme Einsichten zum Krieg in der Ukraine

1 Diplomatie versus Waffenlieferungen?

Einer verbreiteten Vorstellung folgend gibt es ein intuitiv einleuchtendes Substitutionsverhältnis zwischen Diplomatie und Waffenlieferung im Ukraine-Krieg. Statt als „Falke“ mit Hilfe von Waffenlieferungen kann man sich demnach als „Taube“ mit Hilfe diplomatischer Bemühungen um eine Beendigung des Konflikts bemühen. Es wundert daher nicht, dass sich viele Politiker als „Tauben“ gefallen und damit verständlicherweise viel Anklang finden. Das Problem ist nur, dass der Gegensatz zwischen Falken und Tauben im Umgang mit aggressiven Despoten nicht existiert. Das liegt daran, dass sich Diplomatie und militärischer Druck in diesen Fällen niemals substitutiv, sondern immer komplementär zueinander verhalten. Übersetzt heißt dies: Diplomatie ohne Einsatz hinreichend starken Drohpotenzials ist so wirkungslos wie ein Windrad ohne Wind.

Um dies in seiner ganzen Tragweite für die Ukraine zu verstehen, müssen wir zunächst folgendes wissen. Die gegenwärtigen Verluste an Kriegsmaterial kann Russland durch Neuproduktion bei weitem nicht auffangen. Man greift daher auf altes Material zurück, das man notdürftig einsatzfähig macht, und es fehlt dabei an allem, insbesondere an technologisch hochwertigen Bauteilen, die auch durch Lieferungen aus China und Iran nur sehr bedingt ersetzt werden können. Umgekehrt stehen den westlichen Staaten aufgrund ihrer überwältigenden ökonomischen, technologischen und militärischen Überlegenheit völlig andere Möglichkeiten offen. Das Problem des Westens ist allein seine mangelnde Entschlossenheit und Einigkeit. Würde er beides mobilisieren, hätte die russische gegenüber der westlichen Rüstungsproduktion bereits über die kommenden zwei bis drei Jahre keine Chance. Putin und erst recht seine Kommandeure wissen das.

2 Die Grundlage

Sehen wir uns vor diesem Hintergrund Abbildung 1 an. Sie illustriert der Reihenfolge nach mögliche Entscheidungen Putins sowie der westlichen Staaten („Westen“). Entscheidet sich Putin im Punkt P1 für „Krieg“ statt „Frieden“, entscheiden anschließend die westlichen Staaten in Punkt W zwischen einem hohen („hoch“) und einem niedrigen („niedrig“) Maß an Waffenlieferungen an die Ukraine. Dabei bedeutet „hoch“ ganz im Sinne der obigen Ausführungen, dass Putin seine Pläne zur Unterwerfung der Ukraine aufgeben müsste – zumindest außerhalb der Nuklearoption, auf die wir später noch zurückkommen. „Niedrig“ bedeutet, dass es dazu nicht hinreicht, wobei „niedrig“ den Grenzfall einschließt, überhaupt keine Waffen zu liefern, so wie es zum Beispiel das Bündnis Sahra Wagenknecht und die AfD fordern und wie es die Bundesrepublik Deutschland und andere westliche Staaten zwischen 2014 und 2022 getan haben und manche immer noch immer tun. Je nach der Entscheidung des Westens findet sich Putin in Punkt P2a oder in Punkt P2b wieder, wo er schließlich zwischen „Verhandlung“ und „Krieg“ entscheiden muss. Tatsächlich ist die ursprüngliche Entscheidung für „Krieg“ in Punkt P1 bereits 2014, spätestens aber am 22. Februar 2022 gefallen.

Am Ende gibt es sechs mögliche Ergebnisse, die wir aus der – wie auch immer wirren – Sicht Putins bewerten. Wenn er von vornherein „Frieden“ wählt, hat er nichts gewonnen und nichts verloren. Das bewerten wir mit einer null. Wenn er „Krieg“ wählt und diesen gewinnt, bewerten wir das mit 1. Alle anderen Ergebnisse sind mit Verlusten für ihn verbunden, die wir mit -a, -b und  -c bewerten, wobei gilt, dass 0 < a <b <c.

Für den Moment nehmen wir an, dass Putin die Option „nuklearer Krieg“ nicht wählen wird, weil sie ein Weltuntergangsszenario und damit auch sein eigenes physische Ende einleiten würde. Wenn das stimmte, dann würde das Fragezeichen hinter der Option „nuklearer Krieg“ eine Ziffer repräsentieren, die noch kleiner ist als -c. Leider können wir uns dessen nicht sicher sein, und das ist der Grund, warum wir auf die Nuklearoption später noch zurückkommen müssen.

Reagiert der Westen mit „hoch“, während Putin in P2a wiederum Krieg wählt, dann ist sein Ergebnis mit  -c das schlechteste denkbare Ergebnis außerhalb der Nuklearoption, weil er den Krieg am Ende verlieren wird. Putin wäre für diesen Fall auch aus seiner Sicht der Welt heraus besser beraten, spätestens im Punkt P2a die Option „Verhandlung“ zu wählen, denn dann wäre sein Ergebnis -b, was immer noch besser ist als -c.

Der entscheidende Aspekt ist nun, dass Putin im Punkt P1 nicht weiß, wie sich der Westen im Punkt W entscheiden wird. Seine wie immer geartete Einschätzung lässt sich mit der Wahrscheinlichkeit  beschreiben, mit der er glaubt, dass der Westen die Option „hoch“ wählt. Ob seine Einschätzung richtig ist oder nicht, spielt für unsere Überlegungen keine Rolle. Wichtig ist nur: Mit der von ihm eingeschätzten Wahrscheinlichkeit  wählt der Westen die Option „hoch“ und mit der 1 – PR Wahrscheinlichkeit  wählt er die Option „niedrig“.

Daraus ergibt sich nun ein „Erwartungswert“ des Ergebnisses für Putin für den Fall, dass er in P1 „Krieg“ wählt, und zwar wie folgt: Wenn der Westen am Punkt W die Option „hoch“ wählt, wird Putin die Option „Verhandlung“ vorziehen, weil er damit ein Ergebnis von -b statt des noch schlechteren -c erzielt. Dieses Szenario tritt mit der Wahrscheinlichkeit PR ein. Mit dieser Wahrscheinlichkeit muss Putin das Ergebnis -b gewichten, und das ergibt -b mal PR. Wählt der Westen dagegen die Option „niedrig“, würde Putin die Option „Krieg“ der Option „Verhandlung“ vorziehen, weil er mit „Krieg“ mit 1 das beste Ergebnis hat, während er mit „Verhandlung“ nur -a hätte. Dieses Szenario tritt mit der Wahrscheinlichkeit 1-PR ein. Mit dieser Wahrscheinlichkeit muss Putin das Ergebnis 1 gewichten, und das ergibt wiederum 1-PR. Durch Addition der beiden Szenarien ergibt sich der Erwartungswert:

-b mal PR + 1-PR.

Wählt Putin in Punkt P1 statt „Krieg“ die Option „Frieden“, hat er gemäß Abbildung 1 ganz sicher ein Ergebnis von null. Also ist es für ihn dann und nur dann am besten, die Option „Krieg“ zu wählen, wenn:

-b mal PR + 1 – PR > 0

Nach  PR aufgelöst, ergibt das:

PR < 1/(1+b).

Das besagt: Putin wird am Punkt P1 die Option „Krieg“ wählen, wenn er die Wahrscheinlichkeit, dass der Westen darauf mit einer hohen Unterstützung der Ukraine reagiert, hinreichend klein einschätzt (also kleiner als 1/(1+b). Wie viel das in der Realität ist, spielt für uns keine Rolle. Denn das, worauf es ankommt, bleibt immer gleich und lautet: Putin wählt umso eher die Option „Krieg“, je kleiner er die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass der Westen die Ukraine mit einem hohen Maß an Waffenlieferungen unterstützen wird.

Um dieses Ergebnis noch etwas zu verallgemeinern, stellen wir uns die Illustration in Abbildung 1 in immer neuen Durchgängen vor, in denen das Erreichen von Punkt P2b einer Endlosschleife folgend identisch ist mit dem abermaligen Erreichen von Punkt P1.[1] Dann hätte Putin fortlaufend die Beobachtung zwischen „hoch“ und „niedrig“ aus den vergangenen Durchläufen durch Punkt W im Blick und zöge daraus Schlüsse auf die künftige Entscheidung des Westens für den Fall, dass er sich im „alten“ Punkt P2b und zugleich im „neuen“ Punkt P1 erneut für die Option „Krieg“ entscheidet. In diesem sehr realistischen Szenario wird Putin kontinuierlich seine Wahl zwischen „Krieg“ und „Verhandlung“ überprüfen. Aus Abbildung 1 folgt aber noch etwas: Sobald Putin realisiert, dass er den Krieg wegen hoher Waffenlieferungen verlieren wird, ist es für ihn umso besser, je früher er die Option „Verhandlung“ wählt.

3 Erste Einsicht: Wie man den Krieg verlängert

Alles das können wir zu unserer ersten unangenehmen Einsicht zusammenfassen: Je geringer unsere militärische Unterstützung und je unsicherer sie für die Zukunft ist, desto länger wird dieser Krieg und desto mehr Menschenleben und Zerstörung werden wir zu beklagen haben. Das ist der Preis, den die Ukrainer für Olaf Scholz‘ „umsichtige“ Politik jeden Tag zahlen. Von dieser ersten unangenehmen Einsicht gibt es nur eine einzige Ausnahme: dass die Unterstützung nämlich so klein wird, dass der ukrainische Widerstand bald kollabiert und Russland die Ukraine unterwirft. Denn dann wäre es besser, den Menschen wenigstens den Krieg zu ersparen. Umgekehrt gilt: Je mehr Waffen wir zu liefern bereit sind, je uneingeschränkter wir sie – im Rahmen des Völkerrechts – der Ukraine zur Verfügung stellen und je glaubwürdiger wir Putin versichern, dass wir alles das im Zweifel über Jahre hinweg werden durchhalten können und wollen, desto weniger wird von all dem eingesetzt werden müssen, desto kürzer wird der Krieg und desto weniger Verlust an Menschenleben, Infrastruktur, Wohnhäusern und so weiter werden wir beklagen müssen. Dies verdeutlicht, dass die Tauben im Ergebnis nicht das sind, was sie scheinen, worin sich eine der vielen Varianten davon manifestiert, dass nichts allein schon deshalb gut ist, weil es gut gemeint ist. Denn bei näherer Betrachtung erweist sich der vermeintliche Gegensatz zwischen Tauben und Falken als Irrtum.

Putin selbst unterliegt zwar vielen Irrtümern, diesem Irrtum aber nicht. Das erkennt man daran, dass er bereits lange vor seinem 2022er Überfall systematisch daran gearbeitet hat, die Einigkeit und Entschlossenheit des Westens zu untergraben. Deshalb versucht er, die westlichen Länder untereinander ebenso zu spalten wie die Bevölkerung innerhalb der Länder. Deshalb beobachten wir seit langem die Cyberangriffe, die Desinformation, die Bots und die bezahlten Journalisten. Deshalb auch verbreitet Putin die intuitive, aber falsche Vorstellung von der Substitutionsbeziehung von Diplomatie und Waffenlieferungen ebenso wie die Lüge von der Bedrohung der russischen Sicherheitsinteressen, die vor dem 22. Februar 2022 von vielen Journalisten und Politikern geglaubt und von nicht ganz wenigen bereitwillig weiterverbreitet wurde. Genau deshalb sehen wir uns schließlich Putins fortlaufenden Drohungen ausgesetzt. Alles das dient nämlich nur dem einem Zweck, die westlichen Länder davon abzuhalten, in vereinter Entschlossenheit ihre ökonomische, technologische und militärische Überlegenheit der Ukraine vorbehaltlos zur Verfügung zu stellen. Denn Putin weiß, dass dies das Ende seines Projekts der Unterwerfung der Ukraine wäre. So, und nur so, sind daher auch seine wiederholten Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen zu verstehen.

4 Zweite Einsicht: Die atomare Bedrohung

Wäre das alles nur wahr, sofern Putin die Nuklearoption nicht hätte? Tatsächlich ist ihm alles zuzutrauen, leider auch der Einsatz von Atomwaffen und auch um den Preis eines Weltuntergangsszenarios. Deshalb ist es bittere Wahrheit, dass wir ein solches mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, niemals ganz ausschließen können. Das Einzige, womit wir Putin von der Nuklearoption abhalten können, folgt der zynischen Regel: Wer zuerst schießt, stirbt eine halbe Stunde später.

Vor deren Hintergrund kann man Putins Drohung wieder mit Hilfe von Abbildung 1 beurteilen. Dann finden wir: Wenn sich hinter dem Fragezeichen neben der Option „nuklearer Krieg“ eine Ziffer verbirgt, die größer ist als -b, dann ist eine im Zeitpunkt P2a ausgesprochene Drohung im strikten Sinne glaubwürdig. Denn dies kennzeichnet den möglichen Fall, dass Putin das Weltuntergangsszenario inklusive seines eigenen Endes immer noch lieber wäre als der Verlust der Ukraine.

Leider ist Putin irre genug, damit man ihm so etwas zutraut – umso mehr, als er nicht mehr jung und ihm das Schicksal noch so vieler anderer Menschen völlig egal ist. Aus Sahra Wagenknechts häufigen Warnungen vor der Provokation der russischen Atommacht folgt vor diesem Hintergrund übrigens, dass ausgerechnet sie Putin für einen Irren halten muss. Unabhängig davon gilt: Sofern er nicht irre genug ist, bleibt seine Drohung leer und damit unbedeutend – aber leider nur dann.

Letzteres könnte in der Tat ein Grund dazu sein, ihn lieber nicht vor die Wahl zwischen Weltuntergang und Anerkennung einer freien Ukraine zu stellen. Dann aber sollte man ihm die Ukraine besser gleich überlassen, denn damit würde man den Menschen zumindest das Leid eines weiteren Krieges ersparen. So denkt Sahra Wagenknecht und mit ihr viele andere. Bevor wir ihnen aber folgen, müssen wir zunächst prüfen, was in einem solchen Fall als nächstes geschieht. Dann finden wir: Mit derselben atomaren Drohung wie heute könnte Putin sich womöglich als nächstes Moldau einverleiben und dann das Baltikum; und wenn das alles funktioniert hat, warum nicht Polen, Ungarn oder noch mehr? Sein Instrument wäre immer das gleiche: Er muss uns nur davon überzeugen, irre genug zu sein, um lieber den Weltuntergangsknopf zu drücken als auf seine Forderungen zu verzichten.

So uneingeschränkt gilt dies aber nur unter einer Bedingung: Das Weltuntergangszenario muss ihm nicht nur weniger schlimm erscheinen als ein Verzicht auf die Ukraine, sondern im nächsten Schritt auch weniger als ein Verzicht auf Moldau, dann auch weniger als der Verzicht auf das Baltikum und so weiter. An jeder Stelle gilt: Sobald ihm der Verlust seines jeweiligen Kriegsziels weniger schlimm erscheint als das Weltuntergangsszenario, verliert seine atomare Drohung ihre Glaubwürdigkeit.

Aber welcher Verlust ist für ihn weniger schlimm? Jener der Ukraine? Der Moldaus? Der des Baltikums? Der Polens? Wir wissen es nicht, und das ist ein Vorteil für ihn. Denn es kostet ihn nichts, uns in jedem Einzelfall mit der atomaren Drohung zu konfrontieren. Welche davon jeweils glaubwürdig ist, wissen wir nicht. Wir wissen nur: Sobald wir ihm glauben, geraten wir auf eine abschüssige Ebene. Denn wenn wir an irgendeiner Stelle die zunächst sicher erscheinende Option des Nachgebens wählen, lernt Putin etwas über uns: dass wir ihm im Zweifel nämlich nachgeben. Das ist ein Anreiz zu weiteren Erpressungsversuchen, denn es kostet ihn ja nichts. Spätestens, wenn unsere eigene Existenz bedroht ist, gelangen wir aber – wie bereits die Ukraine – an den Punkt, ab dem wir nicht mehr nachgeben können; und dann werden uns wir der Einsicht stellen müssen, dass wir zwar große Teile des freien Europas bereits verloren, aber nichts an Sicherheit gewonnen haben.

Daher lautet unsere zweite unangenehme Einsicht: Wenn wir Putins atomarer Drohung nachgeben, sind wir vor seinen Atomwaffen ebenso wenig sicher, als wenn wir ihr nicht nachgeben. Die Wahrheit ist: Solange wir uns Putins Willen nicht vollständig unterordnen, sind wir niemals davor sicher, weil er uns bei jedem weiteren Konflikt erneut damit drohen kann. Viele Gegner konsequenter Waffenlieferungen befürchten, dass wir mit ihnen auf eine schiefe Ebene gelängen, entlang derer wir immer tiefer in die Logik von Aufrüstung und Gewalt rutschten. Richtig ist im Gegenteil: Wir befinden uns längst auf einer schiefen Ebene, mit immer mehr Gewalt, Zerstörung, systematischem Terror und immer drastischeren Drohungen – aber nicht, weil wir inzwischen Waffen liefern, sondern weil wir die Ukraine eigentlich schon 2008, ganz sicher aber – in beschämender Weise – seit 2014 im Stich gelassen hatten, und weil wir sie selbst seit 2022 nur zögerlich mit Waffen unterstützen, oft begleitet von abenteuerlichen Diskussionen, über die sich keiner mehr freut als Wladimir Putin. Wieviel Leid und Zerstörung den Menschen in der Ukraine hätte erspart bleiben können, wenn wir ihm rechtzeitig Einhalt geboten hätten, muss man jeden Tag mit neuem Entsetzen beobachten.


[1] Noch einmal für Spieltheoretiker: Alle Ergebnisse in der Abbildung beziehen sich nur auf einen einmaligen Durchlauf.

Thomas Apolte
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