Javier Milei (2)
Zu Mileis Verteidigung

Während die Mehrheit der Libertären Mileis Eintritt in die Politik und seine Maßnahmen als Präsident mit Wohlwollen betrachtet, teilen nicht alle Libertären diese Ansicht. Oscar Grau zum Beispiel hat einige kritische Artikel[1] geschrieben, in denen er die Innen- und Außenpolitik von Milei analysiert. In Bezug auf Ersteres hat Grau argumentiert, dass Mileis Ansatz interventionistisch ist und den Privatsektor bei gleichzeitigem rhetorischem Festhalten an Freiheit und freien Märkten erdrückt. Was den zweiten Punkt betrifft, so kommt Grau zu dem Schluss, dass der argentinische Präsident nur ein weiterer neokonservativer Politiker des Establishments sei. In Anbetracht des oben Gesagten folgert Grau, dass Milei ein „Betrüger“, „Etatist“, „Neokonservativer“ sei, und beschuldigt seine Anhänger, opportunistische Verräter zu sein.

Die Bedeutung der Conjectural History und des Verstehens

Obwohl wir in einigen Einsichten mit Grau übereinstimmen, lässt seine Kritik eine Reihe wesentlicher Punkte außer Acht. Daher ist seine Schlussfolgerung, dass Libertäre sich sowohl intellektuell als auch persönlich von Milei distanzieren sollten, ungerechtfertigt. Vier Fragen müssen im Hinterkopf behalten werden: Wie war die Situation, bevor Milei an die Macht kam? Was war die Alternative in Argentinien? Was hat er bisher erreicht? Wohin zielt sein Programm?

Die Kontextualisierung ist unerlässlich, um das Umfeld zu verstehen, in dem Milei gezwungen war, zu arbeiten. Zwänge sind ebenso wie Chancen kontextbezogen und setzen die Grenzen, innerhalb derer der Akteur zu jedem Zeitpunkt seine Erwartungen und Urteile über den Grenznutzen und die Grenzkosten alternativer Handlungsoptionen bildet. Darüber hinaus kann man das, was Montesquieu „Mutmaßliche Geschichte“ (conjectural history) nannte, nicht vermeiden und muss damit ein interpretatives Verständnis (das, was Weber „Verstehen“ nannte) anwenden, wenn man die Relevanz des Phänomens Milei und das Ausmaß, in dem er sein Land in die richtige Richtung bewegt, einordnet.

Die Katastrophen des Kirchnerismus

Das erste, was Grau unterschätzt, sind die Situation und die Schwierigkeiten, mit denen Milei konfrontiert war, als er an die Macht kam. Abgesehen von einigen Kommentaren zum inflationären Trend des Pesos widmet Grau der katastrophalen Politik wenig Aufmerksamkeit, die in Argentinien seit dem Ende der Konvertibilität (1992-2001) verfolgt wurde, beginnend mit Nestor Kirchner (2003-2007) und dann unter Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015), Mauricio Macri (2015-2019) und vor allem Alberto Fernández (2019-2023). Das Desaster dieses Sozialismus des 21. Jahrhunderts argentinischer Prägung spiegelte sich in den fiskalischen und monetären Ungleichgewichten wider, mit denen Milei konfrontiert war, als er in die Casa Rosada einzog. Mit einer Staatsverschuldung von mehr als 400 Milliarden Dollar und Importschulden in Höhe von fast 60 Milliarden Dollar stand der argentinische Staat am Rande des Zahlungsausfalls, des zehnten Zahlungsausfalls seit der Unabhängigkeit (1816). Zu diesem Zeitpunkt bilanzierte die argentinische Zentralbank zudem negative Dollarreserven.

Die Verantwortung für diese Ungleichgewichte lag in den Händen der bis dahin amtierenden politischen Klasse. Was die Dollarknappheit anbelangt, so war es die Entscheidung, einen festen Kurs für den Peso einzuführen, der den Peso überbewertete im Verhältnis zu Devisen und Rohstoffen, was die typischen Auswirkungen aller Preiskontrollen hervorrief. Als die Menschen sich beeilten, ihre Pesos abzustoßen, folgte ein Run auf den Dollar, ein Mangel an Devisen und ein Zahlungsbilanzdefizit, das die heimische Produktion belastete. Anstatt das Problem zu lösen, indem sie den Wechselkurs an ein markträumendes Niveau anpassten, die öffentlichen Ausgaben drosselten und die Druckerpresse zügelten, wirkten die Kirchneristas diesen Folgen mit weiteren monetären Interventionen in Form von Kapital- und Devisenkontrollen (cepo und control de cambios) entgegen. Da die Exporteure gezwungen waren, sich von ihren Dollareinnahmen zum festen Wechselkurs und damit unter den Marktkursen zu trennen, wurden sie faktisch enteignet. Gleichzeitig wurden privilegierte Importeure subventioniert und der Zugang des Landes zu den internationalen Rohstoff- und Finanzmärkten eingeschränkt. Als Milei sein Amt antrat, gab es 18 verschiedene Dollar-Kurse. Dieses Szenario befeuerte die politische Vetternwirtschaft, verschärfte das Wechselkursrisiko und das Chaos bei der Wirtschaftsrechnung.

 Die Hauptursache für diese Ungleichgewichte waren die riesigen Staatsausgaben. Dem Motto Evita Perons folgend: „Wo ein Bedürfnis ist, da entsteht ein Recht“, wurden die Sozialprogramme vervielfacht und der Wirkungsbereich des öffentlichen Sektors drastisch erweitert. Bald folgten erdrückende Steuern, belastende Arbeitsmarktgesetze und labyrinthische Handelsbeschränkungen. Der Reichtum wurde buchstäblich privatisiert und auf eine kleine Gruppe von Auserwählten begrenzt, die nicht in die soziale Arbeitsteilung integriert waren und sich darauf spezialisiert hatten, die Ressourcen anderer Menschen heimlich und rücksichtslos auszugeben. Die Kehrseite der Privatisierung des Wohlstands war die Sozialisierung des Elends. Bis November 2023 stieg die Armutsquote auf 55 Prozent, die Quote extremer Armut erreichte 17,5 Prozent.

Die Währungs- und Finanzkrise

Da die Regierung weder in der Lage war, den privaten Sektor mit weiteren Abgaben zu belasten, ohne Einnahmen zu verlieren, noch Anleihen auf den internationalen Kreditmärkten zu platzieren, monetarisierte die Zentralbank die Haushaltsdefizite. Seit 2002 nutzten die argentinischen Politiker die Inflation als Mittel, um den öffentlichen Konsum und die Verschwendung über die Grenze auszudehnen, die ihnen durch die Steuereinnahmen gesetzt war, und wälzten die Kosten ab auf (Geld-)Sparer, Gläubiger, Eigentümer festverzinslicher Wertpapiere und Geringverdiener. Darüber hinaus druckten die etatistischen Eliten weitere Pesos, um das sogenannte quasi-fiskalische Defizit zu finanzieren. Dieses quasi-fiskalische Defizit resultierte daraus, dass die Zentralbank den Geschäftsbanken dafür Zinsen zahlte, dass sie einen Teil der emittierten Pesos bei der Zentralbank parkten. Da der effektive annualisierte Zinssatz im Einklang mit dem geometrischen Trend der Preisinflation stieg und bis November 2023 253 % erreichte, stellten diese Zahlungen an die Geschäftsbanken eine endogene Geldschöpfungsquelle in Höhe von 10 % des BIP dar. Was als Maßnahme zur Eindämmung der umlaufenden Geldmenge begann, entwickelte sich zu einer der Hauptursachen für eine galoppierende Inflation. Zwischen 2011 und 2023 stieg die Geldbasis im weiteren Sinne, die die unvergütete monetäre Basis als auch die vergüteten Verbindlichkeiten der Zentralbank (Leliqs und Pases) umfasst, um den Faktor 116, wobei der deutlichste Anstieg während der letzten Präsidentschaft zu verzeichnen war. Unter Alberto Fernández hat die Zentralbank in vier Jahren die erweiterte Basisgeldmenge um umgerechnet 32 % des BIP erhöht, wobei alleine im letzten Jahr 13 % emittiert wurden.

Als Milei die Regierung übernahm, befand sich Argentinien in einer Wirtschafts-, Währungs- und Finanzkrise. Die verhängnisvollen Folgen einer mehr als zehn Jahre andauernden Politik des geld- und fiskalpolitischen Expansionismus waren dramatisch: eine Inflationsrate von 1 % pro Tag, die auf Jahresbasis gerechnet eine Inflationsrate von 3700 % ergibt, ein doppeltes Haushaltsdefizit von 15 % des BIP (5 % in der Staatskasse und 10 % in der Zentralbank) und eine 12 Jahre lange Periode der wirtschaftlichen Stagnation. Angesichts der Tatsache, dass Argentinien in den letzten zwei Jahrzehnten in einer staatlich-institutionellen Anomie gelebt hatte, waren für Milei viele Türen verschlossen.

Die Doppelstrategie des libertären Politikers

Als Milei die Präsidentschaft Argentiniens übernahm, war er sich bewusst, dass er unabhängig von seinen akademischen Qualifikationen ab diesem Zeitpunkt Politiker geworden war. Und ein Politiker, auch ein Libertärer, muss die spezifischen Umstände von Zeit und Ort berücksichtigen, wenn es ihm gelingen will, die Wählergunst zu halten und auszubauen. Der libertäre Politiker muss manchmal Kompromisse eingehen, ohne jemals in die falsche Richtung zu steuern. Nach Jesús Huerta de Soto sollte der libertäre Politiker eine doppelte Strategie fahren. Er sollte die theoretischen Prinzipien des Libertarismus studieren und die breite Öffentlichkeit über diese Prinzipien und ihre Implikationen aufklären, indem er sich an der Verbreitung libertärer Ideen beteiligt. In diesem Sinne werden keine Kompromisse eingegangen.

Im Bewusstsein seiner langfristigen Ziele sollte der libertäre Politiker auch nach möglichen Übergangsplänen hin zum libertären Ideal Ausschau halten, die nicht gegen libertäre Prinzipien verstoßen. Wenn es unmöglich ist, einem kurzfristigen Kompromiss auszuweichen, kann der libertäre Politiker einen solchen Kompromiss eingehen, solange dieser Kompromiss in die richtige Richtung geht. In keinem Fall dürfen Maßnahmen getroffen werden, die insgesamt zu einer Entfernung von einer libertäreren Gesellschaft führen. Die Einschränkungen und Limitationen, die Politiker und der bürokratische Apparat (oder der Tiefe Staat) dem libertären Politiker entgegenstellen, sind der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt. Der libertäre Politiker muss von seinem spezifischen Wissen über Zeit und Raum Gebrauch machen, indem er die realen Einschränkungen und Limitationen bewertet, die das reale politische Leben bietet, und in jedem historischen Moment das Maximum des Ideals verwirklichen, das die Umstände zulassen.

Nur mit dieser Doppelstrategie kann man jene beiden Extreme vermeiden, die Murray Rothbard als schädlich für die Förderung der Freiheit ansah: den „rechten Opportunismus“ und das „linke Sektierertum“. Während es sich bei ersterem um eine Politik ohne Prinzipien handelt, die nicht in der Lage ist, dem politischen Handeln eine nicht-willkürliche Grundlage zu geben, so ist letzteres ein Prinzip ohne Politik, das die konkrete Verfolgung des bestmöglichen Wohls verhindert.

Milei als libertärer Politiker

Milei folgt dieser Beschreibung eines libertären Politikers. Auch wenn Grau ihn als schlichten Neoklassiker darstellt, hat Milei libertäre und österreichische Ideen eingehend studiert. Abgesehen davon, dass er sich 2014 nach der Lektüre des 10. Kapitels von Rothbards „Man, Economy, and State“ zur Österreichischen Schule ‚bekehrte‘, las Milei dreimal Human Action und machte sich mit den Werken von Hayek, Hazlitt, Kirzner und vielen anderen vertraut. Milei hat in seinem Gedankengut zwar immer noch einige monetaristische Überbleibsel, ihn aber als mathematischen und neoklassischen Ökonomen zu bezeichnen, ist im besten Fall unpräzise. Kein Monetarist hat sich je für die Abschaffung der Zentralbank, die Entnationalisierung des Geldes und die Preisdeflation ausgesprochen, wie es Milei immer wieder tut. Darüber hinaus hat er Bücher geschrieben, in denen er die neoklassischen Ansichten und die Lehren der Chicago Schule über Monopole, Marktversagen und Kartellrecht kritisiert.

Darüber hinaus popularisiert er diese Ideen, wann immer er kann. Nicht nur mit seiner Rhetorik ‚der Bürger gegen die Elite‘, sondern auch durch die Aufklärung der Öffentlichkeit über die moralische, wirtschaftliche und sogar ästhetische Überlegenheit einer marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung konnte Milei fast 56 Prozent der Wähler auf sich vereinen. Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen: Im Jahr 2021, kurz nach seinem Sieg bei den Vorwahlen im September, begann Milei auf den Plätzen von Buenos Aires eine Reihe von sechs Open-Air-Vorträgen über die Österreichische Schule der Nationalökonomie zu halten. Am Ende dieser Vorlesungen verteilte er Exemplare des Buches „Economics in one Lesson“ von Henry Hazlitt. Seine bekannten öffentlichen Reden in Davos (Weltwirtschaftsforum), Rom (Quarta Repubblica – Mediaset), Washington (CPAC), Madrid (Vox – Viva24) und vor der UNO sind ein Beweis dafür, dass er diese Ideen auch nach seinem Amtsantritt weiter populär gemacht hat.

Inflation, Defizite und die Qualität des Geldes

Für den zweiten Teil der Doppelstrategie gilt eine ähnliche Argumentation. Während des Wahlkampfes trat Milei mit einem Sparprogramm an und versprach Kürzungen bei den Ausgaben des öffentlichen Sektors und eine generelle Senkung von Steuern und Regulierungen. Seine Priorität war jedoch die Beendigung der Inflation, ein Thema, das er in einem seiner jüngsten Bücher mit eben diesem Titel „El fin de la Inflacion“ („Das Ende der Inflation“) ausführlich ausarbeitete. Die Idee hinter seinem Dollarisierungsplan war es nicht, einem von der FED dominierten Finanzsystem beizutreten, sondern war getrieben von dem Wunsch, die Druckerpresse aus der Reichweite der argentinischen Politkaste zu entfernen und den produktiven Klassen zu ermöglichen, frei mit jener Währungseinheit zu tauschen, zu sparen, zu planen und zu kalkulieren, die sie angesichts ihrer Stabilität und Unabhängigkeit bevorzugten. Und diese Währungseinheit war in Argentinien der US-Dollar.

Um seine Ziele zu erreichen, entwarf Milei einen Übergangsplan mit verschiedenen Phasen, wobei er sich im Großen und Ganzen an seine Versprechen hielt. In dem Wissen, dass er nicht über die parlamentarische Mehrheit verfügte, um Strukturreformen voranzutreiben, wurde die Vermeidung einer hyperinflationären Krise und eines weiteren Zahlungsausfalls zu Mileis Priorität. Aus heutiger Sicht betrachtet, ist Milei diese Probleme ziemlich erfolgreich angegangen. Als Milei im Dezember die Macht übernahm, stiegen die Verbraucherpreise mit einer Rate von 25,5 % pro Monat, während die letzten Inflationsmessungen im August dieses Jahres eine monatliche Rate von etwa 4 % meldeten. Laut Grau wurde die Senkung der Inflation durch eine Mischung aus etatistischen Manövern erreicht, die darauf abzielten, die Menschen daran zu hindern, sich auf den Dollar zu stürzen und seinen Preis in die Höhe zu treiben. Nun sind Preis- und Devisenkontrollen aus libertärer Sicht sicherlich nicht zu verteidigen. Nichtsdestotrotz waren sie bereits vorhanden, als Milei sein Amt antrat, so dass sie kein signifikanter ursächlicher Faktor sein können. Was Grau ignoriert, ist, dass die Preisinflation als Ergebnis von zwei ineinandergreifenden Phänomenen gezähmt wurde: dem langsamen, aber stetigen Rückgang der Geldemission und der Zunahme der Qualität des Geldsystems.

Veränderungen in der Qualität eines Geldsystems beeinflussen, ceteris paribus, die Qualität des Geldes, die Geldnachfrage und damit die Kaufkraft des Geldes. In der Tat hat Milei das argentinische Geldsystem erheblich verbessert, indem er innerhalb des ersten Monats seiner Amtszeit einen Haushaltsüberschuss erzielte und erklärte, dass die Beseitigung des Haushaltsdefizits nicht verhandelbar sei. Auf diese Weise etablierte er einen festen monetären Anker. Als die Notwendigkeit, endlose Haushaltsdefizite durch das Drucken von Geld zu finanzieren, verschwand, sanken die Inflationserwartungen. Vor kurzem hat die Regierung erklärt, dass die Geldbasis nicht mehr wachsen wird („emisión cero„), was die Qualität des Geldsystems noch weiter verbessert. Wie Rothbard überzeugend feststellte, ist eine wichtige Determinante der Geldnachfrage in einem Fiat-Standard das Vertrauen der Öffentlichkeit in die „Lebensfähigkeit der emittierenden Behörden“. Da ein Fiat-Geld indirekt von der Regierung ausgegeben wird, wird die Zahlungsfähigkeit des Staates zu einem wichtigen Faktor für die Kaufkraft des Geldes. In Anbetracht der Tatsache, dass die Zahlungsfähigkeit des Staates durch Abzinsung künftiger primärer Haushaltsüberschüsse auf die Gegenwart beurteilt wird, haben Mileis Sparmaßnahmen nicht nur die zukünftige Geldmenge verankert, sondern auch die Geldnachfrage angekurbelt. Ebenso wurde die Qualität des Geldsystems durch die Umstrukturierung der Zentralbankbilanz verbessert. Verzinste Verbindlichkeiten wurden eliminiert und ein größerer Teil der Geldbasis wurde durch Devisenreserven gedeckt, die von negativen 10,5 Milliarden Dollar auf 27,4 Milliarden Dollar stiegen. Obwohl diese Maßnahmen in Graus Beobachtungen völlig fehlen, waren sie dafür verantwortlich, sowohl die Preisinflation als auch die Zinssätze zu senken.

Eine geringere fiskalische Belastung

Man könnte zu Recht argumentieren, dass ein Libertärer die Idee eines Staatsbankrotts positiv einordnen sollte. Von Thomas Jefferson bis Murray Rothbard war die orthodoxe libertäre Position zu den öffentlichen Finanzen sowohl aus normativen als auch aus positiven Gründen eindeutig: Default bei den Staatsschulden. Allerdings muss man auch die politischen Kosten berücksichtigen, die mit einer Ablehnung der Staatsschulden verbunden sind, was durchaus kritisch sein könnte, insbesondere in einem Land wie Argentinien, das so oft zahlungsunfähig wurde, ohne sich jemals wirklich davon erholt zu haben.

Angesichts dieser politischen Kosten beschloss Milei, den Plan zur Eliminierung des Staatsdefizits und zur Anhäufung von Haushaltsüberschüssen fortzusetzen. In Anlehnung an Rothbard gibt es drei Möglichkeiten, wie eine Regierung ihre Finanzen in Ordnung bringen kann: Steuererhöhungen, Senkungen der Staatsausgaben und Privatisierung von Staatseigentum. Oder eine Mischung aus den oben genannten. Während der erste Weg sowohl schädlich als auch illegitim ist, sind der zweite und dritte Weg gesunde und völlig legitime Wege. In dieser Hinsicht kann ein Libertärer zwar zu Recht die Erhöhung bestimmter Steuern (impuesto pais, Treibstoffsteuer und Steuer auf Gehälter) durch die Regierung Milei kritisieren, aber der größere Teil der Haushaltsüberschüsse kam durch Kürzungen bei den Staatsausgaben zustande, die real um fast 35 % gesunken sind. Mileis Regierung hat in Argentinien einen neuen Rekord aufgestellt: Sie hat in den ersten sieben Monaten seiner Amtszeit die höchste Zahl von Beamten entlassen. Laut dem letzten Bericht über die öffentlichen Angestellten, der vom Instituto Argentino de Analisis veröffentlicht wurde, wurden 30.936 Staatsbedienstete von Milei während der ersten sechs Monate seiner Amtszeit entlassen.

Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem Milei von Anfang an wichtige Fortschritte gemacht hat, ist die Deregulierung. Beginnend mit seinem Decreto de Necesidad y Urgencia hob Milei mehr als dreihundert Verordnungen auf, die seit den Tagen des Diktators Ongania (1966-70) die Wirtschaft erstickt hatten, von der Mietpreiskontrolle bis hin zum Zahlungsmittelgesetz. Der wichtigste Teil dieses Deregulierungsdekrets, das Grau nicht erwähnte, war die Änderung von Artikel 958 des Zivil- und Handelsgesetzbuches, mit dem die Regierung nun dem in Verträgen zum Ausdruck gebrachten Willen der Vertragsparteien gegenüber staatlichen Normen Vorrang einräumt. Da Inflation und Regulierung eine Steuer sind, in dem Sinne, dass sie beide es der Regierung ermöglichen, eine substanzielle Kontrolle über die Ressourcennutzung in der Gesellschaft zu erlangen, wurde die Gesamtsteuerlast durch Milei drastisch gesenkt.

Steuersenkungen und Liberalisierung am Horizont

Da sein Reformplan (Ley Bases) letztlich von beiden Kammern angenommen wurde, zeichnet sich eine Privatisierungswelle am Horizont ab. Dies wird den Teil des Haushaltsüberschusses erhöhen, der sowohl auf legitime als auch auf sparsame Methoden der Umsetzung von Austerität zurückzuführen ist. In einem nächsten Schritt sind zudem weitere Deregulierungen angedacht, die mit zunehmenden Steuersenkungen einhergehen. In gewisser Weise hat dieser Prozess bereits begonnen.  Anfang August 2024 erließ die Regierung das Dekret 697/2024, mit dem die Steuern auf alle Rindfleischteile im Zusammenhang mit Rindern und den Steuerabzug bei der Ausfuhr von Schweinefleisch abgeschafft wurden. Darüber hinaus sieht das Dekret eine 25-prozentige Reduzierung der Steuern auf alle tierischen Proteine und eine dauerhafte Abschaffung der Ausfuhrzölle auf Milchprodukte vor, wodurch insgesamt schätzungsweise 130 Millionen Dollar in die Taschen der Produzenten zurückfließen.

In der Zwischenzeit hat die Regierung Milei die Steuer auf Gewinne aus Unternehmensverkäufen abgeschafft. Darüber hinaus senkte Milei die Einfuhrsteuer (impuesto pais) auf 7,5 % und kündigte an, dass sie bis Dezember 2024 abgeschafft werden soll, was den Handel erheblich erleichtern wird. Nun kann man argumentieren, dass die Liberalisierung nicht schnell genug geht, aber man kann nicht leugnen, dass sie in die richtige Richtung geht. Und ja, Milei musste Kompromisse eingehen, zumal er keine Mehrheit im Parlament hat. La Libertad Avanza hat nur 15 Prozent der Sitze im Repräsentantenhaus und 10 Prozent im Senat. Die meisten seiner Parteimitglieder sind zudem bloße politische Verbündete, die keine wirkliche Ahnung von der Ökonomik der Österreichischen Schule und Libertarismus haben. Die Ziele Mileis sind jedoch klar und wurden im Juli mit der Unterzeichnung des Pacto de Mayo zwischen dem Präsidenten und den Gouverneuren bestätigt. Zu den zehn Grundprinzipien dieses Pakts gehörten „die Unverletzlichkeit des Privateigentums“, „die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben auf 25% des BIP“ und die Umsetzung einer Reform, die „die Steuerlast senkt und das Leben der Argentinier vereinfacht und den Handel fördert“.

Milei ist kein Neokonservativer

Während Grau der Außenpolitik große Aufmerksamkeit widmet, sollte der Positionierung Mileis in der internationalen Politik realistischerweise nicht so viel Bedeutung beigemessen werden, da Argentinien auf dieser Ebene praktisch keinen Einfluss hat. Die Unterstützung und der Blockwechsel, den Milei vollzogen hat, impliziert keine Abkehr vom Ideal in Bezug auf die vorherige Situation. Seine außenpolitische Haltung ist in der Praxis lediglich ein Lippenbekenntnis. Darüber hinaus gibt es in vielen südamerikanischen Ländern nur zwei wirkliche Alternative, und so sehen auch die Bürger die Angelegenheit, entweder steht man auf der Seite der USA und ihrer Verbündeten (Israel und EU-Länder) oder auf der Seite der Sozialisten und ihrer ‚Freunde‘ (Russland, Iran, China). Die jüngsten Ereignisse rund um die betrügerische Wiederwahl des sozialistischen Diktators Venezuelas, Nicolas Maduro, die von Putin, Xi Jinping und den Ayatollahs anerkannt wurde, bestätigen dies. Darüber hinaus ist es nach fast zwei Jahrzehnten des ständigen Flirtens seitens der Kirchneristas mit diesem östlichen Block und mit offensichtlichen Fällen von Korruption und Misswirtschaft (man denke zum Beispiel an die von A. Fernández während der Covid-Pandemie durchgeführte Operación Moscú, die die privilegierte, massenhafte Verteilung des Impfstoffs Sputnik V in Argentinien ermöglichte) verständlich, dass Milei als Teil seiner Reaktion auf die andere Seite des Spektrums blickt.

Was auch immer man von Argentiniens Verflechtung in internationalen Angelegenheiten halten mag, Milei ist kein Neokonservativer im traditionellen Sinne des Wortes.  Kein Neokonservativer hat ausdrücklich erklärt (und tut dies auch weiterhin bei jeder Gelegenheit und bei jedem öffentlichen Auftritt), wie Milei es tut, dass der Staat (das schließt den Staat in Israel und der Ukraine ein) „ein Haufen Gauner“ ist und dass er den Staat zutiefst „hasst“. Kein Neokonservativer tut das. Darüber hinaus verteidigen die Neokonservativen eine interventionistische Außenpolitik als Teil einer allgemeinen Unterstützung des Wohlfahrtsstaats. William Buckley war nicht nur ein antisowjetischer Militarist, sondern auch ein Unterstützer der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Irving Kristol plädierte für einen „konservativen Wohlfahrtsstaat“, der den Bürgern Selbstaufopferung und tugendhaftes Verhalten einflößen würde. Milei hingegen ist ein glühender Kritiker staatlicher Interventionen, von Antidiskriminierungspolitik, Bevormundung und des Wohlfahrtsstaats. Er gehört einer anderen Liga an. Wie traditionelle klassische Liberale und Libertäre, von Montesquieu bis Bastiat, von Cobden bis Mises, sieht Milei im freien Markt das Vehikel für friedlichere internationale Beziehungen und im Abkommen vom Freihandel die Voraussetzung für den Krieg.

Milei betreibt die Popularisierung österreichisch-libertärer Ideen, die dem Etatismus und Neokonservatismus diametral entgegengesetzt sind. So zitiert und regt er zum Beispiel immer wieder zur Lektüre libertärer Autoren an, von „Murray Rothbard“ bis zum „großen Hans-Hermann Hoppe“. In diesem Sinne entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Grau Milei als Neokonservativen denunziert und ihn gleichzeitig dafür kritisiert, dass Milei Trump unterstützt und mit ihm verbündet ist, während Trump die am wenigsten interventionistische Außenpolitik aller US-Präsidenten der letzten beiden Jahrzehnte geführt hat. Und schließlich, wenn man Milei nur wegen seiner geopolitischen Sympathien und seiner Pro-NATO-Haltung zum Neokonservativen erklären möchte, was würde man dann von Mises sagen, der mit Blick auf das Nachkriegseuropa für die Errichtung einer „permanenten und dauerhaften Union“ zwischen den westlichen Demokratien und für die „Übertragung aller Macht in die Hände einer neuen supernationalen Autorität“ plädierte, um die Unterwerfung unter den Totalitarismus ein für alle Mal zu vermeiden? Man könnte sagen, dass Mises‘ Beobachtungen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte gemacht wurden und nur unter diesen Umständen gelten sollten. Das klingt vernünftig. Aber warum sollten dann Mileis Position und Aussagen so unterschiedlich behandelt werden?

Schlussbetrachtung

Der Libertarismus verlangt nach einer realistischen Strategie. Die Vorstellung, dass man sich intellektuell und persönlich von einer Person distanzieren sollte, weil sie das volle libertäre Ideal nicht umsetzen könnte, steht nicht nur im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand, sondern wird auch von Murray Rothbard selbst abgelehnt, der diese Haltung 1990 mit dem „katastrophalen und verrückten Weg des orthodoxen Randianismus“ assimilierte. Während man von Milei erwarten, wünschen und ihn dazu einladen mag, mehr und schneller zu tun, während man ihn für diesen oder jenen Kompromiss kritisieren mag, kann man nicht übersehen, dass er Argentinien in die richtige Richtung bewegt hat und dass sein Eintritt in die Politik einen Paradigmenwechsel für die Verbreitung und Umsetzung libertärer Ideen bedeutet hat. Wie Jesús Huerta de Soto bemerkt hat, ist es dank Milei und seinen politischen Erfolgen üblich, in Buenos Aires und in anderen argentinischen und lateinamerikanischen Städten Menschen  mit Human Action unter dem Arm herumlaufen zu sehen. Eine der jüngsten Umfragen von DC Consultores zeigt, dass etwa 70 % der Argentinier glauben, dass der Peronismus mit Alberto Fernandez gestorben ist und dass mit Milei eine neue Ära begonnen hat. Mileis Paradigmenwechsel ist also keine Rhetorik, sondern eine historische Realität, die uns Hoffnung für die Zukunft geben sollte. Ideen bewegen die Welt, nicht umgekehrt. ¡Viva la libertad, carajo!

[1] Z. B. „Milei’s Political Game“ und „Milei’s Monetary Conundrum

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Hinweis: Dieser Beitrag ist am 10. September 2024 auf der Website des Mises Institute, Auburn, Alabama (USA) unter dem Titel „In Defense of Milei“ erschienen, mit dem redaktionellen Vermerk, dass das Mises Institute keine bestimmten Kandidaten, politischen Strategien, politischen Koalitionen oder politischen Parteien unterstützt und dieser Artikel die Ansichten der Autoren widerspiegelt und keine Befürwortung von Javier Milei durch die Redaktion oder das Mises Institute bedeutet. Ins Deutsche übertragen vom Co-Autor Philipp Bagus.

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