Javier Milei (1)
Aus der Sicht von Adam Smith

Argentinien gehört ins Guinness Buch der Rekorde

„Argentinien war bis Anfang der 1950er Jahre eines der reichsten Länder der Erde und hatte ein Wohlstandsniveau vergleichbar mit dem anderer Einwanderungsländer wie Kanada und Australien“ (Wikipedia, Wirtschaft Argentiniens). “Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen reichte nahe an die USA heran. Das Land verfügte über fruchtbares Agrarland, große Bodenschätze und eine gut ausgebildete Bevölkerung. Traditionell war die Wirtschaft durch die Landwirtschaft geprägt, so dass Argentinien bis in die 1950er Jahre überwiegend Agrarprodukte exportierte“ (Marius Kleinheyer, Günther Schnabl 2024, S.1).und Industrieprodukte importierte.

Spiegelbild zu dieser Erfolgsbilanz sind die Negativrekorde oder Medaillen: Was die Anzahl von Staatspleiten anbelangt, landet Argentinien nach Frankreich und zusammen mit Deutschland auf Platz zwei (Wikipedia, Staatsbankrott). Argentinien ist mit zwei Militärdiktaturen (1966-1972, 1976-1982) Spitzenreiter in Südamerika. Chiles Junta regierte von 1973-1988, die Junta in Peru von 1968-1979 (Wikipedia, Diktatur). Auslöser der für Argentinien fatalen Prozesse war Juan Domingo Peron mit seiner Politik der Importsubstitution, die die Industrialisierung des Landes einläuten sollte. Da Argentinien hierbei keinen komparativen Kostenvorteil hatte, waren hohe Subventionen und Handelsbarrieren erforderlich. Damit kam eine sich immer schneller drehende Interventionsspirale in Gang (Näheres ebenda). Auch die historischen Nachfahren Perons, vor allem Nestor Kirchner und Cristina Fernandez de Kirchner, haben solche eskalierenden Prozesse geschürt.

Ausufernder Wohlfahrts- und Interventionsstaat muss bekämpft werden

„Unkontrollierte Staatsausgaben und hohe Staatsschulden haben in der Vergangenheit immer wieder zu Inflation…geführt…Die hohe Staatsverschuldung wurde in Argentinien in der Vergangenheit immer wieder schmerzhaft durch hohe Inflation entwertet“ (ebenda, Mayer und Schnabl 2022, S. 8 und S. 13). In Argentinien hat sich ein Wohlfahrts- und Interventionsstaat etabliert, dem die Metamorphose zu einer Krake oder einer Hydra gelungen ist. Was liegt da näher, als zu einer Kettensäge zu greifen, um diese Monster zu zerstören? So gesehen erscheint Javier Milei als Retter in höchster Not. Seinen Kenntnisstand in Sachen Marktwirtschaft würde Adam Smith sicherlich mit der Note 1 mit Stern bewerten. Javier Milei ist ein profunder Kenner der „Österreichischen Schule“ der Ökonomie. Nicht umsonst ist ihm am 22.6.2024 von der Hayek-Gesellschaft die Hayek-Medaille überreicht worden; Stefan Kooths als Vorsitzender der Gesellschaft hat ihn als „Glücksfall für Argentinien“ bezeichnet (Frankfurter Allgemeine vom 22.6.2024).

Gleichwohl stellen sich ein paar kritische Fragen.

Kritisches zum Politikstil Javier Mileis

Bedarf es unbedingt der Tarzan- oder Djiango-Kostüme, um die marktwirtschaftlichen Werbebotschaften überzeugend rüberzubringen? Oder wäre nicht der Habitus des weisen und gütigen Planers à la Samuelson geeigneter, um möglichst viele Wähler für sich zu gewinnen? Wäre nicht eine zweite Aufklärung der Bevölkerung über die Fehlsteuerungen aufgrund von falschen Staats- und Wirtschaftsphilosophien und eine allgemein verständliche Darstellung der übergreifenden Systemzusammenhänge anstelle von sound-and-light-Politshows vonnöten? Ist der sofortige Entzug von staatlichen Subsidien die richtige Maßnahme, um die zerstörten marktwirtschaftlichen Anreizsysteme wiederzubeleben? Oder bedarf es vielmehr eines langfristig angelegten, verbindlichen und behutsam dimensionierten Reformprogramms nach dem Vorbild der „Rasenmäher-Methode“ (Alfred Boss und Astrid Rosenschon 2011), das den betroffenen Wirtschaftssubjekten Zeit und Ressourcen für nötige Anpassungen lässt?

Sind Zweifel an der moralischen Integerness von Xavier Milei berechtigt oder nicht?

Vier Gründe sprechen für die erste Variante der soeben gestellten Fragen:

  1. Zahlreiche namhafte Medien berichteten darüber, dass Javier Milei die für die Armenspeisung gedachten Lebensmittel, die kurz vor dem Verfallsdatum standen, konfisziert und in staatlichen Lagerhallen gebunkert hat (siehe beispielsweise die Neue Züricher Zeitung vom 5.6.2024, wonach Javier Milei 5000 Tonnen Lebensmittel gehortet haben soll)
  2. Bekannt geworden ist auch, dass Javier Milei staatliche Ausgaben gestrichen hat, die zuvor für Gedenkstättenmitarbeiter und die Pflege der Gedenkstätten für die Opfer der Militärdiktaturen gewährt worden sind (siehe beispielsweise die Süddeutsche Zeitung vom 1. September 2024).
  3. Nicht zuletzt hat Javier Milei die staatliche Institution abgeschafft, die für nachträgliche Kompensationsversuche der Leiden zuständig war, die die beiden Militärdiktaturen noch lebenden Personen zugefügt haben (siehe beispielsweise die Heinrich Böll Stiftung vom 18. Juni 2024).
  4. Und schließlich stimmt die Nähe von Javier Milei zu Personen wie etwa Donald Trump oder Elon Musk bedenklich (siehe beispielsweise Thetimes vom 11.3.2024, ZEIT ONLINE vom 13. April 2024). So sagte Javier Milei zu Donald Trump: „Sie waren ein großartiger Präsident“ (SPIEGEL vom 25.2.2024).

Adam Smiths Urteil ist klar. Er würde nicht nur die sinnlose Vergeudung knapper Lebensmittel anprangern, sondern auch Javier Milei einen Mangel an ethischer Fundierung attestieren. Wer dies anders sieht als der große schottische Moral- und Universalphilosoph sowie geistige Vater der Volks- oder besser; Weltwirtschaftslehre, der mag dies gerne anders sehen.

Wie würde Adam Smith die ordnungstheoretischen Kenntnisse von Javier Milei beurteilen und bewerten?

Zunächst würde Adam Smith den Stern hinter der Note 1 für Javier Mileis Kenntnisse in Sachen Marktwirtschaft wieder streichen. Denn „die Biologie, nicht die Mechanik – geschweige denn die (fast zum Selbstzweck verkommene?) Wirtschaftsmathematik, A.R.- ist das Mekka der Ökonomen“ (Alfred Marshall). Dass Javier Milei ein brillanter Kenner der mathematischen Ökonomie ist, ist hinlänglich bekannt (vergleiche dazu etwa das ZEIT ONLINE-Interview mit dem argentinischen Historiker Pablo Stefanoni). In diesem Kontext ein kurzer Einschub aus Wikipedia zu Javier Milei als „Titularprofessor an der Universidad de Belgrano und der Universidad Argentina de la Empressa. Dort soll Milei Prüfungen so schwierig gestaltet haben, dass sie oft nur ein einziger Student oder gar keiner bestand. Was jedoch letztendlich zu seiner Entlassung führte, waren sein instabiles Temperament und seine Neigung, Studenten herabzuwürdigen“ (de.m.wikipedia.org, Stichwort „Berufliche Laufbahn“)

Javier Mileis ordnungstheoretischer Horizont endet bei der Marktwirtschaft. Er bekennt sich zum „Anarchokapitalismus“ à la Murray Rothbard (1962/2001). Bei der von Adam Smith und der ökonomischen Klassik entwickelten Ordnungstheorie geht es aber nicht allein um dieses System, sondern letztlich um natürliche, miteinander harmonierende und sich gegenseitig bedingende und befruchtende Komplementaritäten oder Subsysteme im Rahmen eines höheren Gesamtsystems. Gemeint ist die von Adam Smith begründetet Trilogie „Markt, Staat und Ethik“, die der profunde Smith-Kenner Horst Claus Recktenwald umfassend gewürdigt hat (Adam Smith 1977 und 2018, Horst Claus Recktenwald 1978 und 1985, Astrid Rosenschon 2024).

Es geht nicht darum, den Staat zu zerstören, wie Javier Milei dies mit seiner Kettensäge vorhat. Es geht darum, die Rollen der drei „player“ richtig zu verteilen. Man muss jedem die Aufgabe zuteilen, bei der er den komparativen Vorteil hat (David Ricardo 1817). Zweifelsohne ist der Markt bei der Produktion privater Güter der kompetenteste unter den drei „playern“. Und zweifelsohne ist die Rolle des neutralen und unbestechlichen Schiedsrichters, Regelsetzers, Bereitstellers des nötigen ordnungspolitischen Rahmens und Beschützers vor inneren und äußeren Gefahren am besten in den Händen des Staates aufgehoben. Oder sollten Organisationen wie die Mafia oder private Milizen das alleinige Sagen haben? Entsprechen Lynchjustiz und „Ehrenmorde“ tatsächlich dem höchsten Gerechtigkeitsideal? Auch ist zweifelsohne die Ethik oder Religion gefragt, damit kriminelle Handlungen minimiert werden.

Wende zum Besseren? Oder Neuauflage des Peronismus? Oder zweifelhafter Vorfrühling?

„Das Reformkonzept, auf das Javier Milei setzt, ist wirtschaftliche Freiheit. Die internationalen Finanzmärkte haben positiv auf die Ankündigungen von Milei reagiert…Der Wechselkurs hat sich stabilisiert, der Börsenindex hat zugelegt, die internationalen Ratingagenturen haben das Länderrisiko abgesenkt und der Zinsspread zu US-Anleihen ist deutlich gesunken“ (Kleinheyer, M. und G. Schnabl (3.6.2024), S. 24). Zudem konnte Javier Milei mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ein Kreditprogramm in Höhe von 44 Mrd. Dollar aushandeln (SPIEGEL vom 11.1.2024).

Man braucht kein Prophet zu sein, um zu prognostizieren, dass bald Elon Musk und Co. ein neues Imperium auf argentinischem Staatsboden einrichten werden (etwa eine Stätte für die Produktion von Lithium-Elektroautos). Dies mag sich in kurzfristigen BIP-Impulsen widerspiegeln. Ob sich daraus ein nachhaltiger Aufschwung entwickelt, ist jedoch zu anzuzweifeln. Keinesfalls ist zu vermuten, dass zuströmende Mittel für Abgabesenkungen verwendet werden und/oder in den Agrar- und/oder den Bildungs- und/oder den Gesundheitssektor fließen und/oder für allgemeine Grundlagenforschung verausgabt werden. Dies wären die strategischen Ansatzpunkte für eine Politik, die auf eine dauerhafte Erhöhung des Produktionspotentials abzielt. In diesem Zusammenhang sind zusätzliche Informationen aus Wikipedia interessant: „Zwischen 2008 und 2021 arbeitete Milei für Eduardo Eurnekian, einen der reichsten Unternehmer in Argentinien und Besitzer der Corporacion America Airports, des größten privaten Flughafenbetreibers weltweit. Mit Unterstützung dieses Unternehmers schaffte Milei den Sprung in die Politik“ (de.m.wikipedia.org, Stichwort „Berufliche Laufbahn“).Dass Aerolineas Argentinas auf der Privatisierungsliste von Javier Milei mit ganz vorne steht, verwundert in diesem Kontext nicht. Im Übrigen erscheinen im Kontext der für diesen Abschnitt gewählten Überschrift so manche Reformvorhaben in einem neuen Licht.

Appendix: Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik

Bei wohlwollender Interpretation ist Javier Milei in die Kategorie der Gesinnungsethiker einzureihen, vor denen bereits Herbert Giersch ausdrücklich gewarnt hat (Herbert Giersch 1986, S.13). Er plädierte zusammen mit Max Weber für Verantwortungsethik. Demnach soll man Menschen nicht anhand der hehren Ziele, die sie zu verfolgen trachten, beurteilen und bewerten. Vielmehr kommt es auf die segensreichen Wirkungen an, die vom tatkräftigen Handeln und den geistigen Höchstleistungen vieler oder mancher Menschen ausgehen. Freilich ist Herbert Giersch nicht der „Erfinder“ des Gegensatzpaares „Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik“. Vielmehr hat er dieses von Max Weber entwickelte Gegensatzpaar in die ökonomische Debatte eingebracht (Max Weber 1992. Näheres zur Verantwortungsethik bei Herbert Giersch findet der interessente Leser im Internetportal der Herbert Giersch Stiftung). Max Weber war sowohl Nationalökonom als auch Soziologe als auch empirisch orientierter Religionswissenschaftler. Und bereits Adam Smith erkannte, dass von jenen, die vorgeben, im Dienste der Allgemeinheit zu handeln, noch nie etwas Gutes gekommen ist.

LITERATUR

Boss, A. und A. Rosenschon (2011). Subventionsabbau in Deutschland. Gutachten im Auftrag der INSM-Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft GmbH. Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel Prognose-Zentrum. Kiel.

Frankfurter Allgemeine vom 22.6.2024. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/javier-milei-bekommt-hayek-medaille-ein-gluecksfall-fuer-argentinien-19803344.html.

Giersch, H. (1986). Die Ethik der Wirtschaftsfreiheit, in: R. Vaubel und H. D. Barbier (Hg), Handbuch der Marktwirtschaft. Pfullingen.

Heinrich Böll Stiftung vom 18. Juni 2024. https://www.boell.de/de/2024/06/18/argentinien-kehrtwende-bei-der-erinnerungskultur-unter-javier-milei

Herbert Giersch Stiftung. http://www.herbert-giersch-stiftung.de/

Kleinheyer, M. und G. Schnabl (3.6.2024).Argentinien: Die Reformagenda von Javier Milei aus theoretischer und politischer Sicht. https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/.

Mayer, T. und G. Schnabl, Gunther (2022). How to Escape from the Debt Trap. Lessons from the Past, in: The World Economy 46, 4, 991-1016.

Neue Züricher Zeitung vom 5.6.2024. https://www.nzz.ch/international/haelt-milei-lebensmittel-fuer-armenkuechen-in-argentinien-zurueck-ld.1833597

Recktenwald, H. C. (1985). Ethik, Wirtschaft und Staat. Darmstadt.

Recktenwald, H. C. (1978). An Adam Smith Renaissance Anno 1976? The Bicentenary Output? A Reappraisal of His Scholarship. Journal of Economic Literature 1, pp. 56-83.

Ricardo, D. (1817). The Principles of Political Economy and Taxation. John Murray.London.

Rosenschon, A. (2024).Markt, Staat und Ethik als Trilogie. Ein Plädoyer für eine Adam-Smith-Renaissance, in: https://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/.

Rothbard, M. N. (1962/ 2001): Man, Economy and State, Ludwig von Mises Institute: Auburn, Alabama.

Smith, A. (2018). Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Übersetzt von H. C. Recktenwald. München.

Smith, A. (1795). Essays on Philosophical Subjects. London.

Smith, A. und W. Eckstein(1977). Theorie der ethischen Gefühle. Hamburg.

SPIEGEL vom 11.1.2024. https://www.spiegel.de/wirtschaft/iwf-erzielt-einigung-mit-argentinien-zur-fortfuehrung-des-schuldenprogramms-a-3c725614-cbf4-400a-9bd7-ee191a6769b9

SPIEGEL vom 25.2.2024. https://www.spiegel.de/ausland/javier-milei-umschmeichelt-donald-trump-sie-waren-ein-grossartiger-praesident-a-2d31de09-522f-4f2e-9399-ff9c773c02e9

Süddeutsche Zeitung vom 1.9.2024. https://www.sueddeutsche.de/politik/argentinien-diktatur-gedenken-milei-verschwundene-lux.4m5XSkSgKsVBKk4BL2foSnF

Thetimes vom 11.3.2024.https://www.thetimes.com/world/us-world/article/argentina-javier-milei-president-donald-trump-social-media-dgxqvdds3?id=20410123333&gad_source=5&gclid=EAIaIQobChMIgr-pkaDqiAMVrgCiAx0O-ROMEAAYAiAAEgIkbfD_BwE. Argentina´s Javier Milei channels Donald Trump on social media.

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ZEIT ONLINE vom 29,3.2024. https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-03/javier-milei-argentinien-praesident-dozent-demokratie

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