„Es wird auch nicht mein Ziel sein, ein ins Einzelne gehendes Programm der Politik zu bieten, sondern vielmehr die Kriterien darzustellen, nach denen beurteilt werden muss, ob sich die einzelnen Maßnahmen in ein System der Freiheit einordnen lassen.“
[Friedrich A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Herausgegeben von Alfred Bosch und Reinhold Veit, Mohr Siebeck, 4. Aufl. 2005, S. 5.]
Einzelne wirtschaftspolitische Instrumente – sagen wir des Arbeitsmarktes – an diesem Kompass zu messen, also daran, dass – wie es bei Hayek heißt – der „Zwang auf einige von Seiten anderer Menschen so weit herabgemindert ist, als dies im Gesellschaftsleben möglich ist“, – dies ist eine höchst komplexe Aufgabe. Ich war eher im Vorfeld dieser Hayek’schen Frage tätig.
Angefangen hat diese Arbeit im Vorfeld bei mir damit, dass wir als Studenten in den Vorlesungen in Köln bei Theodor Wessels und Alfred Müller-Armack eine andere, einfachere Testfrage als die Hayek’sche Frage nach der Einordnung in bezug auf die Freiheit zu hören bekamen, nämlich: „Ist die Maßnahme marktkonform?“ Diese Frage wird heute in Deutschland nicht mehr gestellt – sie ist völlig vergessen. Ohnehin ist das Fach „Wirtschaftspolitik“ mit seiner beachtlichen Tradition inzwischen aus dem Kanon deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Fakultäten weitgehend herausgenommen worden.
Das Studium in Köln hat bei mir eine tiefe Neugier in die Funktionsweise der Marktwirtschaft geweckt, die – neben meinen eher theoretischen Interessen – Antworten verlangte. Eucken und die Freiburger Schule waren uns als Kölner Studenten wohl geläufig; ich war einer unter etwa 5000 Studenten, die Theodor Wessels einen Fackelzug brachten, um ihn zu bewegen, einen Ruf nach Freiburg nicht anzunehmen – und der Fackelzug hatte Erfolg, Wessels wurde kein Freiburger. Mit Karl Popper beschäftigte ich mich dann in Mannheim – beeinflusst durch den Kollegen Hans Albert – , die Auseinandersetzung mit Hayek begann im wesentlichen in Kiel.
Obwohl: Hayek war in vielen Facetten schon vor meiner Kieler Zeit präsent. Dass die Zentralplanung zusammenbrechen musste – davon waren wir als junge Menschen überzeugt. So wurde mir in einem Artikel, den ich im Jahr 1972 im Weltwirtschaftlichen Archiv die Kieler Instituts für Weltwirtschaft über die Kriterien der Arbeitsteilung zwischen sozialistischen Volkwirtschaften veröffentlichte, klar, dass dieser Ansatz einer Arbeitsteilung von oben, die auf der Marxschen Arbeitswertlehre aufbauen wollte, nicht funktionieren konnte. Mit der Institutionen-Ökonomie kamen von Svetozar Pejevitch und Erik Furobotn, – zwei Kollegen, denen ich in meinem Jahr an der Texas &M University begegnete- , und vielen anderen wie Douglas North die Freiburger Ideen von der Ordnung der Wirtschaft in amerikanischer Interpretation über den Atlantik zurück. Die Verknüpfung dieser institutionellen Sicht wirtschaftlicher Strukturen und Prozesse mit der Idee des Allgemeinen Gleichgewichts schärfte den Blick für Interdependenzen, für Zusammenhänge, – also für die Tatsache, dass Marktprozesse letztlich wie ökologische Systeme funktionieren und neue institutionelle Regelungen erst nach langen Fristen, oft nach zehn oder zwanzig Jahren, ihre volle Wirkung entfalten, und sich Eingriffe des Staates an Stellen bemerkbar machen, an denen man partout nicht mit ihnen gerechnet hat.
Gestützt wurde meine skeptisch-distanzierende Betrachtungsweise durch drei Aspekte:
Zum einen durch das Prinzipal Agent Paradigma, gemäß dem ein Prinzipal versucht, einen Vertrag zu schreiben, mit dem er die Verhaltensweise des Agenten beeinflussen will. Ein Beispiel ist der Politiker, der die Regeln für die Marktteilnehmer setzt. Es gibt eine unendliche Schwierigkeit, solche Verträge oder institutionelle Regeln zu konzipieren und die richtigen Anreize zu setzen. Die Arbeitsweise von Gosplan im Verhältnis zu den staatlichen Betrieben war ein schlagendes Beispiel. Zum anderen kam die Vorstellung der rationalen Erwartungen auf, gemäß der aufgeweckte und alerte Marktteilnehmer die Wirkung eines wirtschaftspolitischen Instruments antizipieren, sich darauf einstellen und so oft die Politik ins Leere laufen lassen. Zum Dritten hatte ich früh ein prägendes Erlebnis, als ich als junger Ordinarius in Mannheim bei der Zwischenprüfung eine Klausur für etwa 800 Studenten in Form einer multiplen Auswahl – multiple choice – zu stellen hatte. Prämiert wird dabei die Durchschnitts- und Normalassoziation. Wehe, ein Student dachte an Nebenbedingungen, hatte sozusagen unerlaubte Assoziationen. In der Tat kamen nachher Studenten zu mir und stellten unangenehme, aber berechtigte Fragen.
Da wurde mir klar, dass ich als Fragensteller nicht in der Lage war, alle Assoziationen der Studenten zu antizipieren. Wie sollte dann der auf Regulierungsdetails versessene Wirtschaftspolitiker über hinreichende Information darüber verfügen, wie die Menschen auf seine Maßnahmen reagieren? Was sich ein Schwejk mit Chuzpe, Einfallsreichtum und mit Phantasie, eine „bonne“ Molières mit gesundem Menschenverstand oder ein Faust aus dem Faust II mit Tatendrang bei institutionellen Regeln des Staates denken und wie sie darauf reagieren – das können die Amtstuben und die Parlamente nicht ahnen. Hier sind wir bei dem Punkt angelangt, den Hayek die Anmaßung des Wissens nennt. Bei ihm heißt es „ … dass kein menschlicher Verstand all das Wissen umfassen kann, das das Handeln der Gesellschaft lenkt“. [Op. cit. S. 4.]
Es lag nahe, diese Frage der institutionell definierten Anreize auf den Ausbau des Sozialstaates auszudehnen und zu fragen, welche Anreizwirkungen von den institutionellen Regelungen auf das Verhalten der Menschen ausgehen. Das gab dann den Anstoß zum Kobra-Effekt, der bereits in den neunziger Jahren in meinen Reden vorkam und dann zu einem Buchtitel wurde – ich verdanke die Anekdote meiner Erinnerung nach Tyll Necker. Die Story geht wie folgt:
„ Zu Zeiten der englischen Kolonialverwaltung soll es in Indien einmal zu viele Kobras gegeben haben. Um der Plage Herr zu werden, setzte der Gouverneur eine Prämie pro abgelieferten Kobra-Kopf aus. Die Inder sollten also Kobras einfangen. Wie reagierten sie? Sie züchteten Kobras, um die Prämie zu kasssieren.“
H. Siebert, Der Kobra-Effekt. Wie man Irrwege der Wirtschaftspolitik vermeidet, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart München 2001.
Im Ausbau des Wohlfahrtsstaats sind viele dieser Kobra-Effekte angelegt, und in einzelnen Bereichen hat das Fach bereits die richtigen Begriffe gefunden, wie den Erwartungs- oder Anspruchslohn – den „reservation wage“ –, der durch die soziale Absicherung bestimmt wird und das individuelle Verhalten bei der Suche und bei der Annahme eines Arbeitsplatzes festlegt. Wir können sicher sein, dass die Politik bei der nun geplanten Ausgestaltung des Mindestlohns und – man will es nicht glauben – einer Mindestlohnbehörde weitere Kobra-Effekte in unser System einbaut.
Nun wirft all dies die Frage auf, inwieweit die in unseren institutionellen Regelsystemen enthaltenen Fehlanreize inzwischen so stark geworden sind, dass sie –wenn dieser Konjunkturzyklus wieder vorbei ist – die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft, Arbeitsplätze zu schaffen und die Wertschöpfung zu erhöhen – auf Dauer negativ beeinflussen. Die Beziehung zwischen der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft und der sozialen Absicherung würde dann einer Glockenkurve folgen, bei der ab irgendeinem bestimmten Punkt der positive Zusammenhang aufhört und danach die Kurve eine negative Steigung aufweist: ein Mehr an sozialer Absicherung geht dann mit einem Verlust an Wachstum und Beschäftigung einher.
Man kann einen Schritt weiter gehen und fragen, inwieweit dieser Zielkonflikt in der sozialen Marktwirtschaft zwangsläufig systemendogen ist. Denn die Politik hat in Deutschland über drei und mehr Jahrzehnte die Eigenschaften des Medianwählers, der das Zünglein an der politischen Waage der Wahlentscheidungen ist, markant verändert. Die Parteien setzen dabei Steuergelder ein, um ihre Stimmen zu maximieren. Während die Zahl der Transferempfänger Anfang der siebziger Jahre bei 11,2 Millionen Personen lag und die Zahl der Lohnsteuerzahler bei 20,6 Millionen, hat sich diese Relation mittlerweile mit 30,8 Millionen Transferempfängern und 25,7 Millionen Lohnsteuerzahlern gewaltig verschoben. [Unter Transferempfängern sind dabei die Rentenbezieher, die Empfänger von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sowie die Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu verstehen. Sicherlich sind diese Zahlen von der deutschen Vereinigung, der demographischen Entwicklung, der hinausgeschobenen Einkommensgrenze, ab der Lohnsteuer zu zahlen ist, und vielen anderen Faktoren beeinflusst.] Damit wird deutlich, dass innerhalb der sozialen Marktwirtschaft ein endogener Prozess abläuft, der die politische Nachfrage nach sozialer Absicherung mehr und mehr vergrößert.
Ob diese Entwicklung korrigiert werden kann, hängt davon ab, inwieweit Volkswirtschaften mit ihren institutionellen Regeln lernfähig sind, vor allem, wie sie auf exogene Schocks – wie die zunehmende Integration bevölkerungsreicher Schwellenländer wie China und Indien in die Weltwirtschaft – reagieren, wie sie auf interne Veränderungen – wie die Alterung der Bevölkerung – antworten und inwieweit innovative und korrigierende institutionelle Impulse von regionalen Integrationen wie der Europäischen Integration ausgehen.
Neben dieser Frage nach der Endogenität eines internen Widerspruchs der sozialen Marktwirtschaft enthält die Hayek’sche Definition der Freiheit als
„Zustand der Menschen, in dem Zwang auf einige von seiten anderer Menschen so weit herabgemindert ist, als dies im Gesellschaftsleben möglich ist“
noch reichhaltig Platz für ökonomische Analysen und intellektuelle Debatten, denn in dem Zusatz „…als dies im Gesellschaftsleben möglich ist“ steckt manch intellektueller Sprengstoff. Diese Definition der Freiheit eröffnet die Perspektive auf negative externe Effekte und öffentliche Güter– in der Definition der Ökonomen – bis hin zur globalen Klimaerwärmung und auf die Frage, wie diese Phänomene in das Gedankengut der Ökonomen zu integrieren sind.
Dabei sind jede Menge Anreizprobleme zu lösen. Bis dies alles geschafft ist, werden wir noch viele Irrwege der Wirtschaftspolitik bei uns und in anderen Ländern sehen. Lassen Sie mich deshalb mit einem herrlichen Spruch Erich Kästners schließen:
„Irrtümer haben ihren Wert
Jedoch nur hie und da
Nicht jeder, der nach Indien fährt
Entdeckt Amerika.“
[Rede anlässlich der Verleihung des Publizistik-Preises der F.A. v. Hayek Stiftung .]
Eine Gemeinschaft, die auf dem Mehrheitsprinzip basiert und öffentliche Mittel umverteilt, indem sie den Reicheren Geld wegsteuert und es an die Ärmeren verteilt, ist dann nicht mehr nachhaltig regierbar, wenn eine Mehrheit auf der Empfängerseite steht.
Dann schlägt die Demokratie (als Herrschaft des Volkes) in die Ochlokratie (die Herrschaft des Pöbels) um, wie dies schon in der antiken Staatsformenlehre treffend beschrieben worden ist. Wer den Weg zurück von der Ochlokratie zur Demokratie beschreiten will, muss die Umverteilung zurückfahren. Nur ist dieser Weg der “Rückkehr zum Mass“ in aller Regel nicht mehrheitsfähig.
Das einzige Gegenmittel ist eine auf Non-Zentralismus basierende Staats- und Staatenorganisation in der sich die Minderheit der Reicheren durch Wohnsitzwechsel (“Exit“-Prinzip) vor dem Resultat der Enteignung durch mehrheitsbestimmte Besteuerung (“Vote“-Prinzip) entziehen und so den Teufelskreis unterbrechen können.
Zwei Bemerkungen hierzu:
1. Sie analysieren sehr treffend das Phänomen des STAATSversagens. Wenn Sie nun auch noch das Phänomen des MARKTversagens betrachten würden, kämen Sie der Realität näher. In der realen Welt gibt es nämlich beides und man muss stets VERSUCHEN zu analysieren, ob in einem bestimmten Zusammenhang Markt- oder Staatsversagen teurer wäre. Eine einseitige Betrachtung, wie Sie sie hier vornehmen, führt jedenfalls garantiert zu falschen Ergebnissen.
2. „Während die Zahl der Transferempfänger Anfang der siebziger Jahre bei 11,2 Millionen Personen lag und die Zahl der Lohnsteuerzahler bei 20,6 Millionen, hat sich diese Relation mittlerweile mit 30,8 Millionen Transferempfängern und 25,7 Millionen Lohnsteuerzahlern gewaltig verschoben.“
Interessant: Wir haben (angeblich) 40 Mio. sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, aber nur 26 Mio. Lohnsteuerzahler. Wie erklärt sich die Differenz?
„Die Zahl der Steuerpflichtigen in der Lohn- und Einkommensteuerstatistik 2001 betrug 28,1 Mio. (zusammenveranlagte Ehepaare sind als ein Fall gerechnet)… Aus der Gesamtzahl der unbeschränkt Steuerpflichtigen ergibt sich durch Verdoppelung der Zahl der zusammenveranlagten Ehegatten die Gesamtzahl von rund 40 Mio. Personen, die von der Lohn- und Einkommensteuerpflicht erfasst waren… Von den Steuerpflichtigen (Einzelpersonen bzw. zusammenveranlagte Ehegatten, die gemeinsam als ein Steuerpflichtiger zählen) bezogen im Jahr 2001 24,8 Mio. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, d. h. sie waren lohnsteuerpflichtig. Hinter dieser Zahl stehen 32,0 Mio. Lohnsteuerzahler.“
http://www.zew.de/de/publikationen/dfgflex/lohnstat.html
Also bei korrekter Rechnung: mehr Lohnsteuerzahler als Transfergeldempfänger. Und bezieht man die Lohn- und Einkommensteuer ein (was ja noch korrekter ist) sogar viel mehr. Und der Hauptgrund für diese Verschiebung ist schlicht das Ehegattensplitting, was Anfang der 70er Jahre weniger stark als heute genutzt wurde, weil es eben oft nur einen Verdiener (den Ehemann) gab. Erst seitdem immer mehr Ehefrauen arbeiten wollen bzw. müssen, ist die Bedeutung stark gestiegen.
Vorschlag: Wir schaffen das Ehegattensplitting ab und hätten mit einem Schlag das „Problem“ (mehr Transfergeldempfänger als Lohnsteuerzahler) gelöst. Einverstanden?