Der politische Prozeß in Demokratien zeichnet sich dadurch aus, daß sich die Politiker als Anbieter um die Gunst der Wähler bemühen, der Sanktionsmechanismus der Wahl jedoch nur eingeschränkt wirkt. Diese verhaltene Wirkung des Sanktionsmechanismus Wahl resultiert zunächst aus institutionellen Besonderheiten Zum einen führt das Sanktionsinstrument Wahl insbesondere zu einer zeitlichen und funktionellen Undifferenziertheit, die sich darin äußert, daß
- die Repräsentanten für mehrere Jahre gewählt werden. Eine Abberufung innerhalb der Legislaturperiode ist in der Regel nicht möglich. Somit ist der Wähler nicht in der Lage, eine kurzfristige Korrektur seiner Entscheidung vorzunehmen.
- der Wähler nur zwischen Bündeln von geplanten politischen Entscheidungen (Wahlprogrammen) wählen kann (Breton 1974). In jedem dieser Bündel können sich neben Elementen, die den Bedürfnissen des Wählers uneingeschränkt entsprechen, auch Vorhaben befinden, denen der Wähler keinesfalls zustimmen würde, wenn er die Möglichkeit hätte, lediglich über diesen Sachverhalt zu entscheiden.
Daneben wird die Gefahr potentieller Konkurrenz durch institutionelle Marktzutrittsschranken sehr stark vermindert (Tullock 1965) So muß beispielsweise in Deutschland eine Partei mindestens 5 % der gesamten Stimmen auf sich vereinigen – sieht man einmal von der Ausnahmeregelung bei drei Direktmandaten ab.
Zudem vermindern die Anbieter durch die Bildung von Parteien und die Standardisierung von Wahlalternativen die Breite des Angebots (Knappe 1980). Durch die Bildung von Parteien verschärft sich die funktionale Differenzierung Indem für alle Kandidaten einer Partei verbindliche Parteiprogramme formuliert werden, die die Rolle einer Richtschnur für das politische Wirken der der Partei angehörenden Repräsentanten einnimmt, vermindert sich für den Wähler die Anzahl der zur Wahl stehenden Alternativen. Nicht jeder Kandidat um einen Repräsentantenposten wartet nun mit eigenen Lösungsvorschlägen auf, sondern die Lösungsvorschläge werden durch die Existenz der Parteien normiert und ihre Anzahl begrenzt.
Schließlich beschränken Parteien durch Kartellabsprachen die Inhalte des Parteiprogramms (Daumann 1998). So lassen sich dadurch einzelne Problemlösungen gänzlich ausschließen, wodurch sie für den Wähler auch nicht wählbar werden. Derartige Absprachen über den Inhalt von Tabuthemen führen somit zu einer negativen Standardisierung der Wahlprogramme und damit wiederum zu einer Einschränkung der Wahlfreiheit.
Diese Eigenschaften des politischen Prozesses und die Einsicht, daß die Möglichkeiten eher gering sind, den Ausgang der Wahl mit der eigenen Stimme zu beeinflussen, führen dazu, daß der Wähler sich allenfalls selektiv über die Parteiprogramme informieren wird oder gar gänzlich der Wahl fern bleibt (Politikverdrossenheit).
Eine These könnte daher lauten Durch die Aufhebung des Verbots, Wählerstimmen zu kaufen oder zu verkaufen, wird der Wähler sich intensiver informieren und damit die Effektivität der Wahl als Sanktionsinstrument verbessern.
In den meisten demokratischen Staaten wird der Markt für Wählerstimmen durch entsprechende strafbewehrte Verbote verhindert (in der Bundesrepublik Deutschland etwa durch § 108b StGB). Begründet wird ein derartiges Verbot regelmäßig mit drei Argumentationssträngen (Hasen 2000; Neeman & Oorosel 2006)
- Stabilisierung der Demokratie Wahlen werden nach diesem Argumentationsstrang als Institutionen angesehen, die die Gesellschaft stabilisieren und deshalb notwendig zum Erhalt der Gesellschaft sind. Das Wählen ist demzufolge als demokratische Pflicht anzusehen und weist für den Wähler einen Wert an sich auf. Die Etablierung eines Wählerstimmenmarktes würde diesen Wert zerstören (Okun 1975, 13).
- Egalitarismus Ein Wählerstimmenhandel würde die reicheren Wählergruppen unfair bevorzugen, da die ärmeren Wähler tendenziell eher ihre Stimmen veräußern würden. Auf diese Weise würden die reichen Wähler politische Macht konzentrieren, die eigentlich gleichmäßig verteilt sein sollte (Tobin 1979, 269).
- Inneffizienz eines Marktes für Wählerstimmen Ein Stimmenhandel würde die Wohlfahrt verringern, da der Preis einer einzelnen Stimme nicht deren „wahren Wert“ reflektiere (Neeman 1999, 698–699) bzw. der Markt für Wählerstimmen Unvollkommenheiten aufweise (Buchanan & Tullock 1962, 272; Epstein 1985). Diese Argument ist jedoch sehr umstritten Nach McCloskey (1982, 198–199) sei eben gerade ein Markt für Wählerstimmen effizient, da “… Voting without vote trading enriches the winners at the expense of the losers; voting with vote trading compensates the losers at the expense of the winners…If politics is transformed into a market, it works like a market efficiently.“ Als problematisch könnte sich jedoch insbesondere erweisen, daß die Stimmenkäufer sich zu Lasten der Allgemeinheit bereichern könnten, indem sie die Staatskassen plündern (Epstein 1985, 987–988).
Hinterfragt man die Angemessenheit dieser Argumente nicht, so wäre eine Zulassung des Wählerstimmenhandels an die folgenden Bedingungen zu knüpfen
- Parteien sind zu verpflichten, vor der Wahl ein detailliertes Wahlprogramm aufzustellen und dieses auch bei siegreicher Wahl exakt so umzusetzen. Damit wäre zumindest einem Teil des Ineffizienz-Arguments Rechnung getragen, da ein entsprechender Ausbeutungsversuch bereits vor der Wahl offenkundig würde.
- Jeder Wähler erhält eine Stimme und kann anschließend entscheiden, ob er selbst zur Wahl geht, seine Stimme verfallen läßt, diese verkauft oder andere Stimmen kauft. Durch diese Regelung würden zum einen zumindest im Vorfeld „egalitäre“ Verhältnisse hergestellt Jeder Wähler hat eine Stimme und kann über diese vollständig verfügen. Ebenso könnte jeder Wähler auf diese Weise den Wert, den die Wahl für ihn hat zum Ausdruck bringen (Stabilisierungsargument). Würde also dem Wahlvorgang an sich ein hoher Wert beigemessen, so würde sich dies auch darin widerspiegeln, daß Wählerstimmen kaum verkauft oder gekauft würden.
Damit verbleibt als wesentliche Frage, ob durch die Zulassung eines Wählerstimmenhandels tatsächlich reiche Bevölkerungsgruppen die Wählerstimmen aufkaufen und ihre politischen Vorstellungen, die sie nach der ersten Bedingung jedoch bereits ex ante fixiert haben müssen, umsetzen können. Es zeigt sich jedoch, daß dem unter den genannten Voraussetzungen nicht der Fall ist (Daumann & Wassermann 2009) Bei rationalem Verhalten der Wähler würden diese nach dem Parteidifferential, also der individuellen Nutzendifferenz zwischen den verschiedenen Parteiprogrammen, entscheiden. Wähler würden also die Partei wählen, die ihnen den höchsten Nutzen verspricht. Bei einem Wählerstimmenhandel würde sich der individuelle Grenzpreis des Wählers als Verkäufer am Erwartungswert seiner Stimme orientieren. Der Erwartungswert ist in diesem Fall das Produkt aus der subjektiven Wahrscheinlichkeit, mit seiner Stimme den Wahlausgang zu beeinflussen, und dem Parteidifferential (als Beispiel Bei der Partei A würde die Steuerbelastung für einen bestimmten Wähler 7.000 Euro per anno betragen, bei der Partei B 10.000 Euro. Damit wäre das Parteidifferential dieses Wählers 3.000 Euro. Vermutet der Wähler, daß er mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,1 Prozent die Wahl entscheidet, dann ergibt sich daraus ein Grenzpreis von 3 Euro. Er würde also seine Stimme – Transaktionskosten einmal vernachlässigt – an jemanden verkaufen, der ihm mehr als 3 Euro bietet.). Ähnliche Überlegungen wird ein Käufer von Stimmen anstellen Er wird für sich den Wert einer zusätzlichen Stimme bemessen. Dieser Wert ist wiederum sein Parteidifferential multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, mit der zusätzlich gekauften Stimme die Wahl zu entscheiden. In den Preisüberlegungen wird darüber hinaus noch eingehen, ob der Verkäufer weiß, an wen er die Stimme verkauft bzw. der Käufer Informationen darüber hat, von wem er die Stimme kauft. So hat natürlich die Stimme für einen Käufer, der die Partei A bevorzugt, einen höheren Erwartungswert, wenn er diese einem potentiellen Wähler der Partei B abkauft (dies beeinflußt wiederum die Wahrscheinlichkeit mit der betreffenden Stimme, die Wahl zu entscheiden).
Berücksichtigt man diese Sachverhalte, so kann man zum einen zeigen, daß durch die Erlaubnis, Wählerstimmen zu handeln, sich ein entsprechender Wählerstimmenmarkt konstituieren wird. Zum anderen wird dieser Wählerstimmenhandel beispielsweise in einem Zweiparteiensystem, in dem in der Ausgangssituation beide Parteien identische Gewinnchancen haben, und bei einer realistischen Verteilung des Einkommens, also mit der größten Bevölkerungsschicht im mittleren Einkommensbereich, dazu führen, daß regelmäßig die Partei die Wahl gewinnen wird, die in ihrem Wahlprogramm größere Umverteilungsvorhaben hat, die also von den Bevölkerungsschichten mit geringerem Einkommen präferiert wird. Es würde also nicht die Partei der besserbetuchten Wähler gewinnen, wie eigentlich zu vermuten wäre.
Damit liegen die Folgen eines Wählerstimmenmarktes klar auf der Hand Mehr Wähler würden sich intensiver mit den politischen Alternativen auseinandersetzen und ein Gutteil der Politikverdrossenheit könnte abgebaut werden. Ob ein derartiger Reformvorschlag tatsächlich eine Verbesserung brächte hängt maßgeblich davon ab, ob die Prämissen realistisch umgesetzt werden könnten. Daran dürfte es aber scheitern, denn wie sollten Parteien gezwungen werden, ein Programm exakt umzusetzen, wenn „Sachzwänge“ auftreten, mit denen ein Abweichen vom Wahlprogramm jederzeit begründet werden kann.
Literatur
Breton, A. (1974), The Economic Theory of Representative Government, Chicago.
Buchanan, J. M., & Tullock, G. (1962). The calculus of consent. Ann Arbor.
Daumann, F. (1998), Interessenverbände im politischen Prozeß, Tübingen.
Daumann, F. & Wassermann, A. (2009), Does trading votes in national elections change election outcomes, Public Choice, Online First, erhälich hier.
Epstein, R. A. (1985), Why restrain alienation, Columbia Law Review, 85(5), 970–990.
Hasen, R. L. (2000), Vote buying, California Law Review, 88, 1323–1371.
Knappe, E. (1980), Einkommensumverteilung in der Demokratie. Der Beitrag der ökonomischen Theorie der Demokratie zur Analyse der Verteilungspolitik, FreiburgBr.
McCloskey, D. N. (1982), The applied theory of price, New York, London.
Neeman, Z., & Orosel, G. O. (2006), On the efficiency of vote buying when voters have common interests, International Review of Law and Economics, 26(4), 536–556.
Okun, A. M. (1975), Equity and efficiency the big trade-off, Washington.
Tobin, J. (1970), On limiting the domain of inequality, The Journal of Law and Economics, 13(2), 263–277.
Tullock, G. (1965), Entry Barriers in Politics, American Economic Review, 55, 459 – 471.
- Wählerstimmenkauf ermöglichen - 20. April 2009
„Bei rationalem Verhalten der Wähler würden diese nach dem Parteidifferential, also der individuellen Nutzendifferenz zwischen den verschiedenen Parteiprogrammen, entscheiden“
1. Ich kenne keinen einzigen Wähler, der alle möglichen (bzw. zumindest die 5 entscheidenden) Wahlprogramme der politischen Parteien nebeneinander legt und sie unter dem Gesichtspunkt persönlicher Nutzenmaximierung begutachtet. Und dieses Verhalten rational zu nennen, kommt der Komplexität der Entscheidungsvorgänge in ihrer Gesamtheit nicht einmal ansatzweise nahe.
Aber den Ansatz finde ich schon in seiner Machart sehr interessant. Sie versuchen nicht die Realität in ihren Prämissen eingehen zu lassen, sondern setzen erst einmal (recht abwegige) Prämissen selbst und glauben danach an eine Ökonomisierung eines wie auch immer gearteten Stimmenmarktes der ex post ihre Prämissen erfüllen könnte.
Bitte seien Sie mir nicht böse, aber so ein Ansatz, der die Realität in ein extrem komplexitätsreduziertes Reißbrettmodell verwandeln soll, ist einfach nur grotesk.