In den USA hat das Streben der Menschen nach Glück Verfassungsrang. Auch die Ökonomen sind im Prinzip schon immer auf der Suche nach dem Glück – direkt und indirekt. Allerdings wurde das Glück nicht immer Glück, sondern oftmals Wohlstand oder Wohlfahrt genannt. Und damit fängt das Problem auch schon an: Was ist eigentlich Glück und wie kann es gemessen werden? Dies wurde vor kurzem von Rainer Maurer hier im Ordnungspolitischen Blog diskutiert.
Die gegenwärtige Suche der Ökonomen und Statistiker nach dem Glück schwingt auch in der wieder neu aufgekommenen und breit angelegten Diskussion um die Wohlfahrtsmessung mit. Unter dem Label „Beyond GDP“ werden neue Wege gesucht, um die Wohlfahrt einer Volkswirtschaft besser zu messen, als das mit den bisherigen Mitteln erfolgen kann. Kritische Beobachter dieser Diskussion nennen dabei freilich auch polit-ökonomische Aspekte, wonach einige reife und mit den herkömmlichen Konzepten nicht mehr ganz so dynamisch wachsende Volkswirtschaften gegenüber den aufstrebenden Ländern ins Hintertreffen geraten. Mit neuen Messgrößen lässt sich dann vielleicht die alte Rangordnung wieder herstellen.
Im folgenden Essay geht es nicht um das Glück, sondern um einen wichtigen Bestandteil der herkömmlichen Wohlstandsmessung. Nicht „Beyond GDP“ sondern „About GDP“ ist das folgende Thema. Die Diskussion und die Argumente, dass mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) die Wohlfahrt eines Landes – geschweige denn das Glück – nicht gemessen werden können, sind wahrlich nicht neu. Ökonomen wie Pigou, Hicks, Kuznets und Samuelson hatten sich schon in der ersten Hälfte des vorhergenden Jahrhunderts mit der Frage auseinandergesetzt, ob das BIP ein adäquates Wohlfahrtsmaß ist und überhaupt sein kann.
Was soll mit dem BIP eigentlich gemessen werden? Es soll in erster Linie die sich auf den Märkten entfaltende ökonomische Leistung und die dabei entstehenden Arbeits-, Unternehmens- und Vermögenseinkommen erfassen. Es basiert auf einem in sich konsistenten und international angewendeten System. Als Wohlstandmaß steht es seit jeher aus folgenden Gründen in der Kritik:
- Zum einen sind Größen im BIP enthalten, die wohlstandsmindernd wirken oder die solche Effekte nur ausgleichen.
- Zum anderen sind Größen im BIP nicht enthalten, die den Wohlstand erhöhen.
Einige Beispiele hierzu:
- Das BIP erfasst vorwiegend Marktaktivitäten. Entsprechend, so die BIP-Kritiker, unterschätze es die tatsächliche ökonomische Wohlfahrt eines Landes. Ein oft genanntes Beispiel ist die unentgeltliche Hausarbeit. Bei internationalen Vergleichen kann dies durchaus für eine verzerrte Wahrnehmung der ökonomischen Wirklichkeit sorgen: In fortgeschrittenen Volkswirtschaften werden bestimmte Hausarbeiten nicht mehr selbst erledigt, sondern am Markt gehandelt. Sie sind somit als eine haushaltsnahe Dienstleistung Bestandteil des BIP. In anderen Ländern werden diese Tätigkeiten dagegen nach wie vor innerhalb der „Familie“ erledigt und entziehen sich so der statistischen Erfassung und Wohlfahrtsmessung. Diese Kritik ist berechtigt. Doch beim BIP geht es nun einmal um die Erfassung der ökonomischen Aktivitäten auf den Märkten – bei denen schließlich auch ein Markteinkommen entsteht. Zudem ist die richtige Erfassung von Nichtmarktvorgängen schwierig. Denn für eine Reihe dieser Leistungen fehlen Marktpreise, und somit bestehen erhebliche Bewertungsprobleme.
- Negative Ereignisse wie ein Erdbeben oder andere Katastrophen erhöhen das BIP. Das wird zuweilen als zynisch empfunden. Hier wird seitens der Kritiker aber nicht sauber zwischen Strom- und Bestandsgrößen unterschieden. Das BIP ist eine Stromgröße, um laufende Leistungen auf Märkten und die dabei entstehenden Einkommen zu messen. Unzweifelhaft erhöht es das BIP, wenn die Schäden nach einem Erdbeben beseitigt werden und – ob man es als gut oder schlecht bewertet – es entstehen dabei auch Einkommen. Ob das BIP tatsächlich größer ist als ohne die Schäden, ist allerdings nicht klar, denn die zur Schadensbeseitigung eingesetzten Ressourcen stehen für andere Produktionszwecke nicht mehr zur Verfügung. Außerdem muss sowohl der Schaden (negativ) als auch seine Behebung (positiv) auf dem Vermögenskonto (Bestandskonto) der Volkswirtschaft verbucht werden. Im besten Fall sind nach einer erfolgreichen Schadensbeseitigung der Vermögensbestand und damit die Wohlstandsposition eines Landes so groß wie zuvor.
- Das BIP vernachlässigt die Einkommensverteilung. Dies ist aber keine Kritik am BIP selbst. Die VGR zeigt, welche Einkommen am Markt entstehen. In Satellitensystemen kann die personelle Einkommensverteilung – im besten Fall kompatibel mit den VGR-Markteinkommen – dargestellt werden.
Das BIP als ein Maß für die laufende Marktproduktion und die dabei entstehenden Einkommen ist eine wichtige Komponente des Wohlstands und auch des Glücks, das in einem Land in einem bestimmten Zeitraum entsteht. Eine Umrechnung des BIP zu einem Wohlfahrtsmaß durch Weglassen bestehender Komponenten und Hinzufügen weiterer – möglicherweise statistisch unzureichend abgesicherter – Größen schwächt das BIP für seine eigentlichen Zwecke. Am Ende hätte man ein schlechtes BIP und ein schlechtes Wohlstandsmaß. Vielmehr muss Wert darauf gelegt werden, dass das BIP möglichst gut die marktlichen Aktivitäten in einem Land misst. Wie sonst sollte die ökonomische Leistung einer Marktwirtschaft bewertet werden.
Und genau dieser Aspekt scheint in der Diskussion um das BIP und bei der Weiterentwicklung und den Revisionen des BIP oftmals zu fehlen (vgl. Brümmerhoff und Grömling [2010]). Es gibt eine Reihe von guten Gründen, die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen zu revidieren: Schließlich muss sich die Statistik auch der sich wandelnden Wirtschaftswelt anpassen. Revidierte Daten beruhen oftmals auch auf besseren Ursprungsdaten und nicht zuletzt führen Generalrevisionen dazu, dass moderne und international akzeptierte Definitionen, Klassifikationen und Methoden angewandt werden. Dies erleichtert internationale Vergleiche.
Die meisten VGR-Revisionen – in der Vergangenheit und auch die für das Jahr 2014 anstehende Generalüberholung – führten und führen dazu, dass mehr ökonomische Tatbestände in den VGR aufgenommen werden. Ziel dieser Erweiterung war und ist es, ein besseres und aussagekräftigeres BIP zu bekommen. Dies kann jedoch zum Teil infrage gestellt werden. Mit den Revisionen wurde und wird die Produktionsgrenze, also das, was im Rahmen der VGR als Produktion gilt, immer weiter ausgedehnt. So wurde dem statistisch erfassten Dienstleistungssektor im Zeitablauf immer mehr aufgesattelt. Einerseits war dies richtig und wichtig – etwa im Bereich der unternehmensnahen Dienstleistungen. Andererseits ist dies aber auch höchst fragwürdig, wie zum Beispiel bei den unterstellten Mietwerten für selbstgenutzte Wohnungen. In den VGR wird im Rahmen der Verwendungsrechnung eine Miete für die Selbstnutzung von Eigentümerwohnungen unterstellt. Das bedeutet aber auch, dass im Rahmen der Entstehungsrechnung eine entsprechende Produktion von Dienstleistungen verbucht werden muss, ohne dass es zu einer Arbeitsleistung gekommen ist. Ähnliches gilt für die neue Verbuchung der unterstellten Bankdienstleistungen seit dem Jahr 2005.
Durch diese Verschiebungen der Produktionsgrenze wird das BIP zum einen höher. Die Abbildung zeigt die Auswirkungen der beiden VGR-Revisionen 1999 und 2005 auf das nominale BIP je Einwohner in Westdeutschland im Zeitraum 1970 bis 1991. Die Pro-Kopf-Betrachtung wird gewählt, um die Revisionswirkungen weniger abstrakt aufzuzeigen. Über den gesamten Betrachtungszeitraum gesehen sind die Pro-Kopf-Produktion und mit einer Reihe von Einschränkungen auch das Pro-Kopf-Einkommen nach den beiden Revisionen um durchschnittlich 4,7 Prozent höher. In absoluten Werten entspricht dies am Ende des Revisionszeitraums dem durchaus beträchtlichen Betrag von rund 1.000 Euro je Einwohner und Jahr.
Zum anderen führen diese unterstellten – und in der Regel mit Modellen berechneten BIP-Komponenten – dazu, dass das BIP glatter verläuft. Die Einbeziehung von unterstellten und modellbasierten Komponenten sowie die damit einhergehende relative Zurückdrängung der tatsächlichen Marktkomponenten verringern die BIP-Schwankungen und sie verändert das Konjunkturbild. Vor allem das Ausmaß der konjunkturellen Krisen wird auf Basis der aktuellen Werte nunmehr geringer eingeschätzt, als es die früheren Daten signalisieren. Damit verliert das BIP ein Stück weit an Aussagekraft als Messgröße für die Konjunktur. Diese VGR-Revisionen haben auch in markanter Weise die Verteilungsrechnung verändert und im Ergebnis zu einer deutlich niedrigeren Volatilität bei den Unternehmens- und Vermögenseinkommen geführt. Der stilisierte Fakt rückläufiger Unternehmens- und Vermögenseinkommen in Krisenjahren lässt sich in den heutigen Rechnungen im Gegensatz zu den zeitnahen Veröffentlichungen nicht mehr erkennen.
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Diese Beispiele aus den früheren Revisionen zeigen, welche Folgen die zum Teil auch politisch motivierten Veränderungen in den VGR haben können. Das relative Zurückdrängen marktbasierter ökonomischer Leistungen zugunsten von unterstellten Dienstleistungen schwächt die Aussagekraft der bestehenden VGR. Das BIP ist ein Teil der Wohlstandsmessung und zugleich ist es aber auch die wichtigste Quelle zur Konjunkturbeobachtung, zur Wachstumsanalyse und zur Messung des Strukturwandels. Dies darf bei der Suche nach dem Glück nicht übersehen werden.
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Mir fehlt in dieser Betrachtung die Tatsache, dass kulturelle und künstlerische Aktivität nur dann einen Beitrag zum Inlandsprodukt leistet, wenn sie einen Massenmarkt erschliesst – und das ist, bei allem Respekt, zumeist nicht die bahnbrechendste oder innovativste Kunst und sind nicht die wichtigen und weitreichendsten kulturellen Entwicklungen. Ein Wohlstandsindikator sollte in meinen Augen auch dieses insbesondere berücksichtigen.
Was den Begriff des «Glücks» betrifft, so stehe ich diesem sehr reserviert gegenüber – und halte es, was diesen Begriff betrifft, mit John Stuart Mill, der sagt, er sei «lieber ein unglücklicher Sokrates als ein glückliches Schwein».
Sehr schönes Posting.
Dass selbstgenutztes Wohneigentum zum BIP beiträgt, ist mir zum Beispiel neu. OK, das ist bei einem Vergleich mit der Miete irgendwie logisch herleitbar, allerdings frage ich mich, ob man damit nicht eine Bestandsgröße (und eben keine Stromgröße) zählt. Wenn ich ein Haus baue, ist das eine klare wirtschaftliche Aktivität und damit eine Stromgröße, wenn ich darin wohne, ist es das aber eigentlich nicht.