Wie kann man die Grundsätze der internationalen Ordnungspolitik aus den Grundsätzen der nationalen Ordnungspolitik ableiten?
Die nationale Ordnungspolitik geht zunächst einmal von zwei Freiheitszielen aus, dem klassischen Freiheitsziel (I) und der Wahlfreiheit im Markt (II). Unter dem klassischen Freiheitsziel verstehe ich mit Wilhelm von Humboldt, dass der einzelne Bürger geschützt werden muss
A) vor Übergriffen anderer Bürger,
B) vor staatlichem Zwang, soweit dieser nicht erforderlich ist, um den einzelnen Bürger vor den Übergriffen anderer Bürger zu schützen.
Unter Wahlfreiheit verstehe ich, dass der einzelne Marktteilnehmer geschützt wird vor Kartellen, privaten und staatlichen Monopolen oder Monopsonen und vor dem Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung.
Dieses zweite Freiheitsziel folgt nicht aus dem ersten. Es ist nicht eine „Freiheit – wovon?“, sondern eine „Freiheit – wozu?“ Es ist die Freiheit des „Free to choose“, des ORDO-Liberalismus.
Was sind nun die internationalen Implikationen des ersten, des klassischen Freiheitsziels? Aufgabe der Staaten ist zunächst einmal der Schutz vor Übergriffen ausländischer Bürger (IA). Dazu gehören:
- der Schutz vor grenzüberschreitender Kriminalität;
- der Schutz internationaler Eigentumsrechte (z.B. Patente, Fischereirechte, Eigentumsrechte für den Abbau maritimer Rohstoffe) und vertraglicher Ansprüche;
- der Schutz vor grenzüberschreitenden Umweltbelastungen.
Aufgabe des Staates ist aber auch der Schutz vor Übergriffen anderer Staaten (IB), also vor ausländischer Aggression. Dazu bedarf es einer internationalen Friedensordnung – eines Sicherheitssystems und/oder internationaler Verteidigungsbündnisse.
Welches sind die internationalen Implikationen des zweiten Freiheitsziels, der Wahlfreiheit (II)?
A) Die Marktteilnehmer müssen davor geschützt werden, dass ihre Wahlfreiheit durch ausländische Marktteilnehmer – d.h. ausländische Kartelle, Monopole/Monopsone und Ausbeuter einer marktbeherrschenden Stellung – beschränkt wird. Notwendig ist also eine internationale Wettbewerbsordnung (oder wie im Falle des Closer Economic Relations Agreements zwischen Australien und Neuseeland die Anerkennung der ausländischen Wettbewerbspolitik). Für die Anwendung der internationalen Wettbewerbsordnung können in erster Instanz die nationalen Wettbewerbsbehörden zuständig sein; die internationale Wettbewerbsaufsicht braucht die Anwendung durch die nationalen Instanzen nur zu kontrollieren.
B) Die Marktteilnehmer müssen davor geschützt werden, dass ihre Wahlfreiheit durch ausländische Staaten – d.h. protektionistische Maßnahmen – beschränkt wird. Die Staaten haben die Aufgabe, die nationalstaatlichen Beschränkungen des internationalen Handels und Kapitalverkehrs über internationale Vereinbarungen oder Organisationen zu beseitigen.
C) Eine internationale Wettbewerbsordnung für Staaten muss die Bürger vor Übergriffen ihres eigenen Staates – d.h. vor Verletzungen der Menschenrechte, Eingriffen in die Vertragsfreiheit (Regulierungen) und exzessiver Besteuerung – schützen. Denn der internationale politische Wettbewerb (exit, yardstick competition) bewahrt die Bürger vor solchen Übergriffen. Obwohl also die Wahlfreiheit (Freiheit II) ganz verschieden vom klassischen Freiheitsziel (Freiheit I) ist, trägt sie doch entscheidend zur Erreichung dieses Zieles bei. Auf europäischer Ebene habe ich zu diesem Zweck die Wahl einer (sehr kleinen) dritten Kammer empfohlen, deren Aufgabe und Befugnis nur darin bestehen würde, Volksabstimmungen abzuhalten, wenn die Regierungen internationale Regulierungs- oder Besteuerungskartelle errichten wollen. Daneben gäbe es die Möglichkeit der Volksinitiative.
Gewährleistet der Schutz der Freiheiten I und II zugleich auch Effizienz? Freiheit I beinhaltet das Verbot negativer (internationaler) Externalitäten, und Freiheit II ist ebenfalls eine Effizienzbedingung. Aber keines der beiden Freiheitsziele impliziert die Internalisierung positiver (internationaler) Externalitäten bis hin zur Produktion (internationaler) öffentlicher Güter – das öffentliche Gut Sicherheit ausgenommen. Verlangt nicht Effizienz auch die Internalisierung der positiven internationalen Externalitäten, z.B. a) der Wissensexternalitäten durch Forschungssubventionen, b) der Mitfreude unter Wohltätern durch multilaterale Entwicklungshilfe, c) der Netzwerkexternalitäten im Verkehr, in der Energieversorgung, im Währungsbereich und im Zivilrecht sowie d) der fiskalischen Externalitäten durch „Sozialtourismus“ (Lothar Späth)?
Es gibt Gründe, nicht alle positiven internationalen Externalitäten internalisieren zu wollen:
- Die Präferenzunterschiede sind auf internationaler Ebene viel größer als auf der nationalen oder lokalen Ebene (vor allem im Bereich der Sozialpolitik und der Entwicklungshilfe).
- Die Internalisierung positiver Externalitäten erfordert generell und besonders auf der internationalen Ebene einen viel größeren Finanzaufwand als die Internalisierung negativer Externalitäten. Die Finanzierung muss über Steuern – also staatlichen Zwang – aufgebracht werden und läuft daher dem klassischen Freiheitsziel zuwider.
- Die Kontrolle internationaler Organisationen durch die Bürger funktioniert noch schlechter als die Kontrolle des Staates auf nationaler Ebene, weil die Informationskosten höher und die Kontrollanreize noch niedriger sind.
Aus diesen Gründen ist es weder freiheitlich noch effizient, jede kleine positive internationale Externalität zu internalisieren. Wenn man überhaupt versucht, positive internationale Externalitäten zu internalisieren, dann sollte man dies nicht über internationale Organisationen tun, die schnell eine Eigendynamik entwickeln, sondern durch intergouvernementale Vereinbarungen, und das heißt – wegen der großen Präferenzunterschiede – nur im Konsens.
Die hier skizzierte internationale Ordnungspolitik entspricht auf der europäischen Ebene der Position der European Constitutional Group. Wir werben dafür, dass die Europäische Union nur für die Gewährleistung der vier Grundfreiheiten und die grenzüberschreitenden Aspekte der Umwelt- und Wettbewerbspolitik zuständig sein sollte. Für die Sicherheitspolitik haben wir bereits die NATO, die als die umfassendere internationale Organisation besser geeignet ist, die internationalen Externalitäten zu internalisieren. Unsere Position entspricht der Empfehlung, die Hayek – wenn auch nicht mit dieser Begründung – in seinem Buch „The Road to Serfdom“ (1944) gegeben hat:
„There must be a power which can restrain the different nations from action harmful to their neighbours, a set of rules what a state may do, and an authority capable of enforcing these rules. The powers which such an authority would need are mainly of a negative kind“ (p. 232). “But this does not mean that … an international authority ought to be given power to direct individual nations how to use their resources“ (p. 231).