Wachstumsbremse: Dienstleistungen in Europa

Finanzmarktkrise verstärkt Wachstumsbremse im Dienstleistungshandel

Zu befürchten ist, daß die gegenwärtige Finanzmarktkrise mindestens zweierlei hervorbringt: Erstens eine mittelfristig fühlbare Abschwächung des Wachstumspotentials in Europa und weltweit sowie zweitens neue Rufe nach Kapitalverkehrsbeschränkungen. Staatsregulierung und Protektion gewinnen allenthalben an unreflektierter Sympathie. Diese Wirkungen der Finanzmarktkrise paaren sich mit der Protektionsentwicklung, wie sie sich auf den europäischen Dienstleistungsmärkten in signifikantem Ausmaß bereits seit Jahren mit höchstrichterlichem EU-Segen wachstumshemmend herausgebildet hat. So verstärkt die Finanzmarktkrise die schon bestehende Wachstumsbremse, wie sie von den Protektionswirkungen im europäischen Dienstleistungshandel ausgehen, die hier im Fokus stehen sollen.

Der europäische Binnenmarkt mit seinen angestrebten vier Freiheiten der Bewegungen von Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital stellt ohne Zweifel die zentrale Basis für die Wohlstandsentwicklung innerhalb der Europäischen Union (EU) dar. Der Grund liegt darin, daß diese Freiheiten internationale Spezialisierungsgewinne generieren und den dynamischen Wettbewerb im EU-Integrationsraum ermöglichen.

Die noch immer unvollständige Realisierung des EU-Binnenmarktprogramms zeigt sich vor allem im Dienstleistungssektor in der Gemeinschaft. Obwohl der Anteil der Dienstleistungen am BIP in den Mitgliedstaaten rund 65 % und der im Dienstleistungssektor Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung etwa 70 % beträgt, werden von den meisten Dienstleistungssektoren nicht mehr als 5-7% aller erfaßten Dienstleistungen innerhalb der EU grenzüberschreitend gehandelt. Daraus kann auf hohe Barrieren geschlossen werden, die den Dienstleistungsverkehr im EU-Integrationsraum noch immer außerordentlich stark behindern.

Der Lissabon-Prozeß war es mit dem im März 2000 verkündeten ehrgeizigen Ziel, die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, der zu der Anfang 2006 verabschiedeten Dienstleistungsrichtlinie führte. Diese Richtlinie hat in detaillierter Form die immer noch bestehenden Behinderungen eines freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs in der EU aufgezeigt und deren Beseitigung durch die grundsätzliche Anwendung des – dem Ursprungslandprinzip im Warenhandel entsprechenden – Herkunftslandprinzips postuliert, also der für den Dienstleister einzig relevanten Rechtsvorschriften desjenigen Landes, in dem dieser domiziliert. Allerdings muß gesagt werden, daß zugleich eine Vielzahl von Ausnahmen kodifiziert worden ist, die das Herkunftslandprinzip außer Kraft setzen, was aus ökonomischer Sicht unbefriedigend ist, weil damit dem Wettbewerbsgedanken und seinen gewünschten Wirkungen grundsätzlich entgegengewirkt wird.

Um die Spezifika des Dienstleistungssektors in der EU einzufangen, bedarf es eines Blickes auf Art. 60 EGV, der Dienstleistungen als Leistungen gegen Entgelt definiert, die nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Die Dienstleistungsfreiheit ist mithin als eine Art Auffangtatbestand umrissen, der nur relevant ist, wenn keine anderen Grundfreiheiten in Frage kommen und der sich insbesondere auf gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten bezieht. Da Dienstleistungen im Verkehrssektor und im Kapitalverkehr der Banken und Versicherungen ausgenommen und gesondert geregelt werden, beziehen sich die Vorschriften über die allgemeine Dienstleistungsfreiheit in der EU in der Tat nur auf einen begrenzten Teil der im ökonomischen Sinn eigentlich umfassend definierten Dienstleistungen.

Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit

Die Dienstleistungsfreiheit kann nun Beschränkungen unterliegen, die entweder vom Sitzstaat des Erbringers oder des Empfängers der Dienstleistungen oder gar von beiden ausgehen. Dafür gibt es in der EU eine Vielzahl konkreter Beispiele, die sich im übrigen auch in der Rechtsprechung des EuGH niedergeschlagen haben und in vielen Einzelfällen als diskriminierende Beschränkungen klassifiziert und aufgehoben wurden.

Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit sind nach EGV allerdings zulässig – und hier beginnen die protektionsrelevanten Probleme – für alle Tätigkeiten, die in den Mitgliedstaaten mit der Ausübung öffentlicher Gewalt, der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit verbunden sind. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH können zudem „Sonstige Beschränkungen“ erlaubt werden, die – wie es heißt – aus „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ in einem Mitgliedstaat geboten sind. Aus Sicht des EuGH gehören dazu z. B. die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Schutz der Verbraucher, der Schutz der Arbeitnehmer, die Kohärenz des Steuersystems, das Ansehen der Kapitalmärkte, kulturpolitische Belange, Anliegen der Sozialpolitik, die Betrugsbekämpfung, das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit, die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege u. a.

Aus ökonomischer Sicht handelt es sich hier um einen Katalog von Ausnahmetatbeständen, der eines der zentralen Dilemmata der Nichtrealisierung der vollen Binnenmarktfreiheit im Dienstleistungssektor der EU mitverursacht: die enumerative Auflistung von in ihrer Definition an Unbestimmtheit leidenden Tatbeständen, die beachtlichen politischen Begründungsspielräumen für nationale Protektion bietet und diese zudem höchstrichterlich absegnet.

Was sind „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“, und wer interpretiert sie? Und was soll man z. B. unter dem „Ansehen der Kapitalmärkte“ oder den „Anliegen der Sozialpolitik“ konkret verstehen? Zeigt nicht gerade die gegenwärtige Finanzkrise, wie lebenswichtig eine nicht national-protektionistische Handhabung der Krisenbewältigung ist? Zudem unterliegt diesem Katalog offensichtlich ein Staatsverständnis, das dem Organstaatsprinzip entspricht, demgemäß der Nationalstaat hierarchisch über den Bürgern steht und dessen Definitionsmonopol („zwingende Gründe des Allgemeininteresses“) aus nicht näher spezifizierten „externen“ Bewertungsmaßstäben abgeleitet wird, die von den Präferenzen der Bürger weitgehend losgelöst sind oder sein können. Das organische Staatsverständnis impliziert einen staatlichen Paternalismus, der in der Definition vermeintlich öffentlicher Güter von der prinzipiellen Eigeninteressiertheit der staatlichen Handlungsträger, von Lobbyismus und der damit verbundenen Prinzipal-Agent-Problematik im Verhältnis zwischen Bürger und Staat realitätsfern abstrahiert.

Auf der Basis verfassungsökonomischer Staatsauffassung dagegen, die den Staat an die Bürgerpräferenzen im Sinne des normativen Individualismus bindet und sich zudem mit den Konzepten des fiskalischen Föderalismus und vor allem des Subsidiaritätsprinzips eng verknüpft, kann der vom EuGH abgesegnete Katalog von Ausnahmetatbeständen für legitimierte nationale Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit in der EU allerdings schwerlich gerechtfertigt werden. Denn der konstitutionenökonomische Staat bindet die staatliche Handlungsvollmacht im wesentlichen strikt an die genuin öffentlichen Güter mit ihrer Eigenschaft der doch ziemlich präzise definierbaren Ausschlußunmöglichkeit privater Nutzer.

Rechtfertigungsgründe für die Freiheitsbeschränkung?

Der vom EuGH abgesegnete Rechtfertigungskatalog für die Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit basiert dagegen offensichtlich auf Ad-hoc-Definitionen für Dienstleistungen, die von nationalen Regierungen einfach zu öffentlichen Gütern deklariert werden. Dies widerspricht auch und insbesondere dem Subsidiaritätsprinzip, einem der tragenden Handlungsmaximen des EU-Vertrages, weil dieses Prinzip als primäre Zuständigkeitsvermutung für ökonomisches Handeln zunächst stets die private Dienstleistungsproduktion evaluativ ins Auge fassen muß und erst danach, wenn der private Sektor z. B. wegen der öffentlichen Gutseigenschaft, die sich auf die Ausschlußunmöglichkeit privater Nutzer bezieht, nicht infrage kommt, die staatliche Ebene – von unten beginnend – in sekundärer Zuständigkeitsvermutung in den Handlungsfokus nimmt.

Ein ergänzendes Argument dafür, daß der Staat regulierend und marktfreiheitsbeschränkend handeln müsse, wird oft dann genannt, wenn grenzüberschreitende Dienstleistungen mit dem Begriff des Marktversagens verbunden werden. Allgemein wird dabei unterstellt, daß Marktversagen bei Dienstleistungen sehr viel häufiger anzutreffen sei als beim Warenhandel. Damit wird dann die vom Staat vorzunehmende Korrektur bzw. Verhinderung eines Marktversagens als öffentliches Gut angesehen.

Marktversagen verbindet sich hier vor allem mit externen Effekten, die grenzüberschreitende Dienstleistungen auslösen, also mit Externalitäten, die von Land A auf Land B einwirken, ohne daß sie über den Markt internalisiert werden, d. h. daß im Fall negativer Externalitäten ein Dienstleistungsnachfrager in Land B durch den Anbieter in Land A entschädigt wird. Nun existiert über die Internalisierungsmöglichkeiten negativer externer Effekte eine beachtliche Literatur, die zeigt, daß es keineswegs nur und vor allem staatliches Eingreifen sein muß, um Marktversagen zu verhindern oder zu korrigieren. Denn die Staatshandelnden müssen ja – damit ihre Regulierung nicht überschießt – präzise Kenntnis besitzen über tatsächliche Existenz, Richtung und Ausmaß der speziellen Dienstleistungsexternalitäten in den einzelnen Sektoren sowie auch über die genauen Wirkungen ihrer eigenen Marktfreiheit beschränkenden Regulierungen.

Diese Kenntnis besitzen sie grundsätzlich nicht. Deshalb wäre es prinzipiell besser, den Internalisierungsprozeß über private Kooperation der jeweils am Dienstleistungshandel Beteiligten selbst abzuwickeln, die in dieser Kenntnis komparative Vorteile haben. Wenn der Staat dabei institutionell helfen kann, um die Transaktionskosten zu senken, ist das zu begrüßen. Begrenzte Ausnahmen lassen sich allerdings identifizieren, wenn grenzüberschreitende Externalitäten im Spiel sind, die z. B. durch Epidemien ausgelöst werden. Damit aber das hier relevante Gesundheitsargument für nationalstaatliche Beschränkungen nicht als Vorwand für eine ganz andere, nämlich national interessengebundene und lobbygetriebene Protektion mißbraucht wird, ist die Regelung zur Notwendigkeit der Zustimmung der Gemeinschaft, also der Kommission, sinnvoll.

Ein weiteres bedeutendes Marktversagensargument wird für die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit ins Feld geführt: die Informationsasymmetrie auf Dienstleistungsmärkten. Wir kennen diese Asymmetrie z. B. bei der Autoreparatur, bei der der Dienstleistungsnachfrager gegenüber dem Anbieter ökonomisch im Nachteil ist, weil letzterer einen Informationsvorsprung über den wahren Motorzustand des Autos besitzt, den er gegenüber dem Nachfrager durch eine überhöhte Inrechnungstellung ausbeuten kann. Im Gesundheitssystem liegen die Dinge ähnlich, weil der Arzt gegenüber dem Patienten einen Informationsvorsprung in bezug auf dessen Gesundheitszustand und die tatsächlich angemessene Behandlung besitzt, den er zu seinen Gunsten gestalten kann, z. B. durch eine angebotsorientierte überhöhte Nachfrage nach seinen eigenen Leistungen – zu monetären Lasten des Patienten bzw. seiner Krankenversicherung. Weitere Informationsasymmetrien finden wir bekanntlich auf Märkten für Versicherungen, Auktionen und vielen anderen Dienstleistungen.

Marktversagen aufgrund derartiger Informationsasymmetrien kann sich in mindestens zweifacher Weise dokumentieren: in Form von Moral hazard, bei dem der Anbieter als der besser informierte Marktteilnehmer einen zu geringen Anreiz hat, die Qualität seiner Dienstleistung zu verbessern, und in Form von adverser Selektion, bei der Dienstleistungen von überdurchschnittlich hoher Qualität aus dem Markt genommen werden.

Auf dieser Basis könnte das Argument für staatliche Beschränkungen der grenzüberschreitenden Dienstleistungsfreiheit lauten, daß der Staat für mehr Qualität sorgen müsse, die der Markt offensichtlich nicht bereitstelle. Es läßt sich aber auch hier wieder nicht vermeiden, auf den konstitutionellen Wissensmangel der Staatsakteure in bezug auf das, was denn die marktrelevante optimale Qualität bestimmter Dienstleistungen sei und wie demgemäß die optimalen Freiheitsbeschränkungen aussehen müßten, zu verweisen und ebenso wiederum auf die prinzipielle Eigeninteressiertheit der staatlichen Agenten mit der Implikation, aus der Anmaßung höheren Wissens gegenüber den Privaten einen politischen Nutzen zu generieren.

Beide Eigenschaften tragen entscheidend zur Erklärung des empirisch höchst relevanten Tatbestands des Lobbyismus bei: Gut organisierte Interessengruppen setzen staatliche Regulierungen der Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch, um den Marktzutritt für andere Wettbewerber zu erschweren oder unmöglich zu machen. Dabei bedienen sie sich häufig genug öffentlich genau der hier vorgetragenen theoretischen Argumente des Marktversagens, um sich selbst in angeblich gesamtwirtschaftlichem Interesse Monopolrenten zulasten Dritter zu sichern, zu denen zumeist auch die inländischen Konsumenten zählen.

Eigeninteressierte Staatsakteure, die primär den kurzfristigen Horizont der Wiederwahl und also den Medianwähler im Auge haben, sind bekanntermaßen die Anbieter von Lobbydienstleistungen, die auf dem Markt für Lobbyismus den lobbynachfragenden Interessengruppen – wie z. B. heimischen Dienstleistungsanbietern, die sich die ausländischen Wettbewerber vom Halse halten wollen – entgegenkommen und damit durch nationale Protektion die Freiheit der grenzüberschreitenden Dienstleistungen wohlfahrtsmindernd einschränken. Mit dieser polit-ökonomischen Tatbestandsanalyse des internationalen Lobbymarktes, die vielfach mit der protektionsbegründenden These des „raising the rivals`costs“ verbunden wird, erscheint ein signifikanter Teil der empirisch beobachtbaren wohlstandsmindernden Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit in Europa erklärbar.

Grundsatz der wechselseitigen Anerkennung

Was ist zu tun? Hier ist zunächst einiges Grundsätzliche zu klären. Wenn man in der EU die Idee des Wettbewerbs als des besten Verfahrens zur Stimulierung von Dynamik und Wohlstand sowie zur Begrenzung von ökonomischer und politischer Macht tatsächlich ernst nimmt, dann muß das Binnenmarktprogramm vor allem über die Ausweitung der grenzüberschreitenden Dienstleistungsfreiheit seiner Vollendung zugeführt werden, weil dort noch die größten Freiheitsdefizite aufgrund von Wettbewerbsbeschränkungen bestehen.

Seit der Cassis de Dijon-Entscheidung des EuGH von 1979 bildet das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung bekanntlich den Grundsatz bei der Gütermarktintegration in Europa, der als zentraler Kern für einen effizienten Wettbewerbsmechanismus für grenzüberschreitenden Handel angesehen wird. Jede Abweichung von diesem Grundsatz gilt als Einschränkung des Wettbewerbs zugunsten einer nationalstaatlichen Regulierung, die protektionsäquivalente Wirkungen hat.

Dies gilt für das Bestimmungslandprinzip, das den Anbieter des Bestimmungslandes vor dem Wettbewerb von außen schützt. Allerdings greift das Prinzip der wechselseitigen Anerkenntnis in der EU nur, wenn das Kriterium der „Äquivalenz der Ziele und Wirkungen“ der konkreten Regulierungen in den relevanten Mitgliedstaaten erfüllt ist. Hier gibt es wiederum einen erheblichen politischen Interpretationsspielraum, was denn damit im konkreten Fall gemeint ist, wodurch auch durch dieses Kriterium ein Unsicherheitsbereich in der Rechtsprechung eröffnet wird. Für den Fall, daß die Nichtäquivalenz festgestellt wird (von wem eigentlich und nach welchen Kriterien?), sind nationale Beschränkungen des grenzüberschreitenden Handels legalisiert, und das Bestimmungslandprinzip gilt. Ausgeblendet wird dabei, daß auch nationale „Ziele und Wirkungen“ dem Systemwettbewerb grundsätzlich unterstellt werden können und sollten, ihre Nichtäquivalenz also gerade Bestandteil dieses Wettbewerbs und Ausdruck heterogener nationaler Präferenzen und Ausstattungen ist.

Werden nun unter dem Prinzip der wechselseitigen Anerkennung Dienstleistungen grenzüberschreitend gehandelt, so gibt es grundsätzlich keinen Raum für nationale Regelungen, die die Dienstleistungsfreiheit beschränken. Und dies sollte prinzipiell auch für die Fälle gelten, die von den nationalen Regierungen in unterschiedlicher Weise unter die Rubrik der öffentlichen Güter subsumiert werden. Denn auch bei öffentlichen Gütern kann es den grenzüberschreitenden Wettbewerb der Regierungen hinsichtlich ihrer Regulierungen geben, der als Entdeckungsverfahren herausfinden soll, ob es sich in den einzelnen Ländern tatsächlich um genuin öffentliche oder vielleicht doch um privat anzubietende Güter handelt und ob die jeweilige Regierung im Falle genuin öffentlicher Güter diese tatsächlich effizient bereitstellt. Ein solcher Regulierungswettbewerb unterwirft sich nicht politisch-paternalistisch deklarierten Ausnahmeregelungen auf der Basis „zwingender Gründe des Allgemeininteresses“, vielmehr testet er diese auf ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Grundsatz der freien Wahl von Rechtsregeln

Das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung kann nun allerdings nicht als die einzige Norm zur Gewährleistung des freien grenzüberschreitenden Dienstleistungshandels gelten, denn dieser könnte noch intensiver durch den Grundsatz der freien Wahl von Rechtsregeln garantiert werden. Dieser Grundsatz erlaubt neben den Konsumenten auch den Produzenten die freie Wahl zwischen nationalen Rechtsregeln, ohne daß letztere eine Standortverlagerung vornehmen müssen. Damit wird dann die im Prinzip der wechselseitigen Anerkennung enthaltene Restriktion für die inländischen Anbieter, keine Wahl zwischen regulatorischen Arrangements zu haben, aufgehoben, wodurch der wohl intensivste regulatorische Wettbewerb realisiert wird. In bezug auf das hier im Fokus stehende nicht ausgeschöpfte Potential grenzüberschreitender Dienstleistungen in der EU kann das Arrangement der freien Wahl von Rechtsregeln mithin als das theoretisch überzeugendste Arrangement zur maximalen Potentialausschöpfung und damit zur Wachstumsstimulierung in der EU über den Dienstleistungshandel betrachtet werden.

Allerdings gibt es auch Gegenargumente: Freie Wahl von Rechtsregeln impliziert hohe Informationskosten und Kosten der Kontrolle, die durch Zertifizierung, Labeling und Signaling möglicherweise nicht in dem Ausmaß reduzierbar sind, wie es nötig wäre, um die positiven Wettbewerbseffekte per Saldo zu realisieren. Das aber ist eine empirische Frage.

Die vor allem aus dem polit-ökonomischen Kontext stammende Skepsis gegenüber dem Grundsatz der freien Rechtsregel-Wahl hat etwas mit dem ihr innewohnenden regulatorischen Machtverlust der Regierungen zu tun, wie er im übrigen auch schon bei der Einführung des Prinzips der wechselseitigen Anerkennung von den Regierungen nach dem Cassis-Urteil des EuGH von 1979 beklagt wurde.

Fazit

Aus all diesen Argumenten heraus verwundert es nicht, wenn Ökonomen aus der Vielzahl der Richtlinien, die die Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs in der EU unterstützen sollen, einige als kontraproduktiv kritisieren. Herausgehoben sei hier die Entsenderichtlinie von 1996, die es den Mitgliedstaaten erlaubt zu verhindern, daß der Wettbewerb unterschiedlicher Arbeitsmarktbedingungen durch Dienstleistungsunternehmen mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten bei vorübergehender Tätigkeit im Inland nicht stattfinden darf. Das deutsche Entsendegesetz ist Protektion in Reinkultur und verkörpert das absolute Gegenteil von Dienstleistungsfreiheit, denn diese paßt – wie ausgeführt – nur zu den Prinzipien der wechselseitigen Anerkennung und der freien Wahl von Rechtsregeln, nicht aber zum Bestimmungslandprinzip.

Das enorme wohlstandsmehrende Potential des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs in der EU kontrastiert mit der Begrenzung seiner Ausschöpfung durch national-politisch induzierte Freiheitsbeschränkungen, die trotz ihrer protektionistischen Wirkungen EU-rechtlich abgesegnet werden. Das erklärt u. a. auch den gegenüber den USA geringeren Produktivitätsfortschritt in Europa. Die Tatsache, daß das Ziel des „unverfälschten Wettbewerbs“ aus der Präambel des neuen EU-Reformvertrags gestrichen wurde, deutet darauf hin, daß die Ausschöpfung dieses Potentials offensichtlich nicht ganz oben auf der EU-Agenda steht. Die Finanzmarktkrise wird dazu beitragen, daß sich diese Sicht der Dinge wachstumsbremsend verfestigt.

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