Die Corona-Kontroverse (1)
Lockdowns im internationalen Vergleich

Fast alle Staaten der Welt haben während der letzten Wochen Abwehrmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus ergriffen, wie es sie nie in der Geschichte gegeben hat. Die Debatten um die Berechtigung dieser Maßnahmen halten an und sind notwendig, da man allerorten darüber nachdenkt, wie lange die Beschränkungen beibehalten und wann sie gegebenenfalls wiederholt werden. Dieser Beitrag unternimmt eine Zwischenevaluation mit vorläufigen Zahlen und Hypothesen.

Kurz nach Inkrafttreten der beispiellosen Eingriffe in Grundrechte, Wirtschaft und Freiheit habe ich untersucht, ob die Maßnahmen in ausgewählten Ländern effektiv waren, Homburg (2020). Hierbei ergab sich zweierlei: Erstens wurden Lockdowns in allen betrachteten Ländern erst zu einem Zeitpunkt wirksam, als sich die meisten Infektionen bereits ereignet hatten. Zweitens hinterließ der Lockdown in Italien, dem europäischen Vorreiter, keine Spuren in den späteren Sterbezahlen. Mit neueren Daten lässt sich das letztere Ergebnis nunmehr auf Deutschland übertragen: Die Corona-Sterbezahlen zeigen drei bis vier Wochen nach Inkrafttreten des deutschen Lockdown am 24. März 2020 keineswegs einen abrupten Einbruch, sondern folgen dem gewohnten Verlauf einer epidemiologischen Kurve, unterbrochen durch ärgerliche Meldeverzögerungen vor allem an Wochenenden und Feiertagen:[1]

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Eine andere Forschungsstrategie, die diesem Beitrag zugrunde liegt, besteht darin, die Wirkung der Intensität der Beschränkungen auf die Virusverbreitung abzuschätzen. Um die Auswahl zu objektivieren, werden im weiteren alle EU-Mitgliedstaaten mit mehr als zehn Millionen Einwohnern betrachtet. Diese Auswahl ist dadurch motiviert, dass EU-Mitgliedstaaten einander ähneln und kleine Staaten einen Vergleich durch Ausreißer erschweren; so steht San Marino weltweit an der Spitze der Corona-Sterbefälle pro Einwohner. Mit Stand vom 7. Mai 2020 stellt Tabelle 1 die Corona-Sterbefälle in Prozent der Wohnbevölkerung sowie die Eingriffsintensitäten synoptisch dar.[2] Die Staaten sind nach abnehmender Sterblichkeit gereiht:

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Unter den betrachteten Ländern hat Schweden als einziges auf harte Beschränkungen verzichtet und dem internationalen Druck gleichzuziehen widerstanden; in der Tabelle ist diese Politik durch ein (-) gekennzeichnet. In den meisten Ländern, darunter Deutschland, wurde die Wirtschaftstätigkeit umfassend heruntergefahren, wobei nur systemisch wichtige Branchen ausgenommen waren (+). Frankreich, Griechenland, Italien und Spanien haben zudem Ausgangssperren verhängt und die Gesamtbevölkerung einem Regime unterworfen, das einer Inhaftierung mit Freigang ähnelt (++).

Die Tabelle zeigt nicht den erwarteten negativen Zusammenhang zwischen Corona-Sterbefällen und Eingriffsintensität, sondern legt eher eine positive Korrelation nahe. An umgekehrter Kausalität kann dies kaum liegen, da die scharf beschränkenden Staaten überwiegend früh reagierten, zu Zeitpunkten, da Ausmaß und Verlauf der Coronakrise noch nicht ansatzweise erkennbar waren. Auch die Erklärung, dass die Sterbefälle nicht durch die Krankheit verursacht werden, sondern durch die Beschränkungen selbst, scheidet aus, da die Tabelle nicht die Gesamtsterblichkeiten darstellt, sondern lediglich die Corona-Sterbefälle. Mögliche Zunahmen der Gesamtsterblichkeit insbesondere durch Suizide zeigen sich in der Tabelle nicht, ebenso wenig Sterbefälle in Italien als Folge der Schließung fast aller Arztpraxen, die erwartungsgemäß eine Überlastung der Krankenhäuser nach sich zog. Schließlich erscheint auch die Vermutung abwegig, dass Regierungen, die scharfe Beschränkungen verhängten, diese Maßnahmen nachträglich durch Hochfrisieren der Sterbezahlen legitimiert haben. Solche Täuschungen fliegen früher oder später auf, weil es zu viele Beteiligte gibt; die „griechischen Statistiken“ gemahnen daran.

Festzuhalten ist jedenfalls, dass die staatlichen Beschränkungen die Sterblichkeiten keinesfalls systematisch gesenkt haben. Insofern waren die Lockdowns verfehlt.

Jedem Finanzwissenschaftler drängt sich bei Betrachtung von Tabelle 1 eine ganz andere Vermutung auf. Bekanntlich gilt eine Schuldenstandsquote über 90 Prozent als kritischer Wert, bei dessen Überschreitung ein Staatsbankrott zumindest dann drohen kann, wenn die Verschuldung in Fremdwährung erfolgte. Markiert man alle betrachteten Staaten, deren Schuldenstandsquote am Ende des Vorjahres 90 Prozent überstieg, mit einem (+) und die übrigen mit einem (-), ergibt sich folgendes Bild, das Ansatzpunkt für vertiefte Forschungsarbeit sein könnte:[3]

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Hiernach besteht ein fast perfekter Zusammenhang zwischen finanzwirtschaftlicher Ausgangslage und Eingriffshärte. Alle Staaten, die die härtesten Beschränkungen verhängt haben, waren vor der Coronakrise relativ überschuldet – zwar nicht insolvent, aber in einer hoffnungslosen Situation. Dies mag eine Scheinkorrelation sein, wobei schlechte Regierungskunst sowohl der Überschuldung als auch den übertriebenen Maßnahmen als gemeinsame Ursache unterliegt. In Betracht kommt auch, dass überschuldete EU-Staaten auf finanzielle Hilfe Dritter hoffen und insofern mit einer Externalisierung der Lockdownkosten rechnen. Um dies zu klären, sind weitere Daten und weitere Forschung erforderlich. Sicher werden über dieses größte Regierungsversagen der Nachkriegsgeschichte noch viele Dissertationen geschrieben werden.

Literatur                         

Homburg, S. (2020) Effectiveness of Corona Lockdowns: Evidence for a Number of Countries. The Economist’s Voice (im Druck). Als Diskussionspapier vorab verfügbar unter https://ideas.repec.org/p/han/dpaper/dp-671.html.

[1]      Quelle: https://www.worldometers.info/coronavirus/country/germany/

[2]      Quelle: https://www.worldometers.info/coronavirus/#countries

[3]      Schuldenstandsquoten Ende 2019. Quelle: Eurostat.

Stefan Homburg

10 Antworten auf „Die Corona-Kontroverse (1)
Lockdowns im internationalen Vergleich“

  1. Gehe ich hier richtig der Annahme, dass Herr Homburg eine politische Agenda hinter den Maßnahmen vermutet, die daraufhin Umverteilung rechtfertigen bzw. einen europäischen Superstaat als neue höhere Autorität legitimieren soll? Auch wenn der Zusammenhang mit Corona reine Spekulation ist, so lässt sich die Tatsache, dass Europa weiter zentralisiert werden soll (um alle EU-Länder einheitlich Top-Down steuern und kontrollieren zu können), nicht leugnen. Diese Erkenntnis findet sich in allerlei offiziellen EU-Papieren wieder.

  2. Herr Homburg, wäre der Gedanke aus Ihrer Sicht so fernliegend, dass Länder wie Italien und Spanien GENAU DARUM einen harten Lockdown verhängt haben, weil sie von Covid-19 sehr hart betroffen waren?

    Vielleicht trügt mich mein Erinnerungsvermögen, aber mir kommt es so vor, als ob es aus Madrid oder der Lombardei eine ganze Reihe dramatischer Bilder gab, und ein tatsächlich dramatisches Epidemiegeschehen, das Gegenmaßnahmen nicht als absurd da stehen lässt.

    Wäre es darüber hinaus auch denkbar, dass so genannte Lockdowns einen messbaren Einfluss darauf ausüben, wie stark und wie schnell eine Epidemie nach ihrem zwischenzeitlichen Höhepunkt abflacht?

    Wenn wir hier einmal nur die „Anzahl der aktiven Fälle“ heran ziehen, die den epidemiologisch relevanten Verlauf besonders gut zeichnen (und auch Rückschlüsse auf den Verlauf des künftigen Sterbegeschehens zulassen, dann sieht es für die „Lockdown-Verweigerer“ Schweden und USA doch eher schlecht aus, oder?

    Schweden hat hier ein Plateau gebildet (mit rund 17.000 bis 18.000 aktiven Fällen), während sich das Niveau in den USA (mit Ausnahme von New York und Jersey) immer weiter aufbaut.

    Richtig?

    Umgekehrt hat Österreich, als Beispiel für einen besonders „harten“ bzw. besonders konsequenten Lockdown einen dramatischen Turnaround geschafft, von 9334 aktiven Fällen im Höhepunkt zu nunmehr gerade einmal 1290 Fällen. Dahinter verblasst auch Merkel-Deutschland mit einem Rückgang von 72865 aktiven Fällen auf nunmehr 20475 aktive Fälle, was aber immer noch einen drastischer Rückgang darstellt. In Spanien (mit einer deutlich weniger folgsamen Bevökerung) beträgt der Rückgang immer noch 40 Prozent, in Italien rund 50 Prozent (wobei hier die Trendparameter gerade sehr günstig aussehen), und in Frankreich wiederum ein sehr deutlicher Rückgang auf 28814 aktive Fälle nach rund 80000 in der ersten Aprilwoche.

    Länder mit einem besonders „soften“ bzw. löcherigen Lockdown wie die Niederlande, Belgien oder GB liegen hier zwischen den „Lockdown-Verweigern“ und den „harten Lockdownern“ – und weisen darüber hinaus einen deutlich weniger positiven Trend bei der Entwicklung der Sterbefälle auf.

    Im Übrigen weist Schweden sehr deutliche Züge eines „Eigen-Lockdowns“ der Bevölkerung auf, bestimmte Versammlungsverbote (alle Versammlungen oberhalb von 50 Personen sind verboten) gibt es dort auch, und für Restaurants gelten verschärfte Abstandsregeln, die polizeilich überwacht werden. Gleichwohl ist es in Stockholm schon jetzt zu einer massiven Übersterblichkeit gekommen, die deutliche Zweifel an den offiziellen Covid-19-Zahlen in Schweden begründet.

    Aber wer weiß, falls es im Herbst/Winter zu einem erneuten Ansteigen der Erkrankungszahlen bei uns kommen wird, diesmal aber in der besonders tödlichen Doppelinfektion mit Grippe, vielleicht wünschen wir uns dann, wir hätten den schwedischen Weg gewählt, auch wenn dieser sich zur Zeit, besonders in Stockholm, in eine Art des Massensterbens unter älteren Personen zeigt.

    Was sagen Sie dazu, Herr Homburg?

  3. In einem hat Stefan Homburg vermutlich recht: Es werden noch sehr viele Dissertationen zu dem Thema geschrieben werden. Allerdings werden diese wohl ganz anders aussehen, als er es sich vorstellt. Das Narrativ ist längst formuliert und wird vor allem von Politikwissenschaftlern verbreitet: Der Neoliberalismus und die ordoliberalen Austeritätsforderungen aus Deutschland haben die Sozialsysteme von Ländern wie Frankreich, Griechenland und Italien so sehr unter Sparzwang gesetzt, dass diese auf die sich ausbreitende Pandemie nicht ausreichend vorbereitet waren. Weil dadurch die Gefahr bestand und sich teilweise auch realisierte, dass die Krankenhäuser kollabieren würden, mussten die Länder besonders harte Lockdown-Maßnahmen ergreifen. Schon die Eurokrise wurde so interpretiert und nun eben auch die Corona-Krise – in Verkehrung von Homburgs Moral Hazard-These. Wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass die politikwissenschaftliche Sichtweise stimmen könnte, sollte man das resultierende Endogenitätsproblem dann nicht auch in der empirischen Analyse erfassen…?

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