Gastbeitrag:
Noch einmal davongekommen?

Wer heute einen Artikel über das Thema „Markt und Moral“ schreibt und mit der Überschrift „Noch einmal davongekommen?“ versieht, kann nicht wissen, wie morgen die Aktien stehen, und ob wir nicht längst für einen weltweiten Crash vorgesehen sind. Das kommt davon, daß die Zukunft unter anderem den Nachteil hat, daß sie noch nicht ist, und daß besonders die Ökonomiker sich als Komiker entpuppen, wenn sie einen prognostischen Blick in die Zukunft werfen. Wer sich auf die Zunft der heute tonangebenden Wirtschaftswissenschaftler verläßt, ist bereits verlassen.

Ihre Stärke ist die Obduktion einer Leiche. Aber vorherzusagen, wie der Patient bei völliger Gesundheit so lange krank sein konnte, bis er verblich, ist nicht Sache einer Wissenschaft, die vor lauter Funktionalismus, mathematischen Formeln und ökonometrischen Techniken nicht mehr weiß, was passiert. Es würde sich lohnen, über Nutzen und Nachteil der Wirtschaftswissenschaften – wie sie sich heute überwiegend präsentieren – näher nachzudenken. Robert Farrell, Nestor seines Faches „Technische Marktanalyse“, stellte die Regel auf: „Wenn alle Experten und alle Voraussagen übereinstimmen, entwickeln sich die Dinge ganz anders.“ Dieser Regel können wohl alle Experten zustimmen. Umso schlimmer für die Dinge.

Mir ist noch gut und gern in Erinnerung, wie ein bedeutender Finanzwissenschaftler namens X, der sich stets von der katholischen Sozialtradition distanzierte, bei seinen eigenen Spekulationen über die Wupper ging. Das sollte seinen Studenten eine Warnung gewesen sein. Oder sie zumindest auf jene Ordnungspolitik verwiesen haben, die in Deutschland mit der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft Einzug hielt und die noch ein Mindestmaß moralischer Verantwortung bei allen Marktteilnehmern voraussetzte.

Eine neue Weltwirtschaftskrise scheint einstweilen nur abgewendet werden zu können, wenn die Regierungen Europas und der USA massiv in den Finanzmarkt eingreifen. So massiv, daß man von einer partiellen Verstaatlichung reden kann. Bestätigt sich jetzt die altlinke „Stamokap“-Theorie, wonach der Staat als Reparaturwerkstatt des Kapitalismus zu gelten hat? Wie will da der „freie Westen“ jetzt noch als Lehrmeister Chinas und Rußlands auftreten?

Nun wird uns nicht nur in Deutschland, sondern weltweit eine neue Systemdebatte aufgezwungen. Dabei melden sich Globalisierungsverweigerer wie auch Neo-Neomarxisten besonders laut zu Wort. Hierzulande haben wir bisher aus guten Gründen den Begriff „Kapitalismus“ gemieden. Unser ganzer Stolz war die Soziale Marktwirtschaft. Sie ist sogar noch in ihrer verstümmelten Form sehr erfolgreich gewesen. Überdies ließ sie sich ganz gut vereinbaren mit der naturrechtlichen Eigentumslehre der Katholischen Soziallehre und dem Subsidiaritätsprinzip. Demnach liegt die Ordnungskraft des Privateigentums vor allem in der Verantwortlichkeit der Eigentümer. Der Staat sollte vor allem einen rechtlichen Ordnungsrahmen bilden, innerhalb dessen sich die Initiative der Akteure verantwortlich zu bewähren hat. Was bleibt aber von dieser freiheitlichen Ordnung übrig, wenn die Kapitaleigentümer oder deren Manager die Risiken nicht mehr beherrschen und tragen? Und wenn sie nur Gewinne einstreichen, die Verluste aber auf den Staat abwälzen wollen?

Vergessen ist die alte Einsicht, daß die Marktwirtschaft zwingend Privateigentümer voraussetzt, die bei richtigen Entscheidungen vom Markt (nicht vom Staat) mit Gewinn belohnt, bei falschen mit Verlust bestraft werden. Diese marktimmanente Sanktion muß als Disziplinierung allzu waghalsiger Entscheidungen erhalten bleiben. Sonst bleibt nur noch der Staat, der die „Anreize“ nach Belieben setzt und das politisch gewünschte Verhalten rechtlich erzwingt. Dann ist es aber aus mit der wirtschaftlichen Freiheit. Und vorbei mit wirtschaftlicher Effizienz und Prosperität. Politiker zeichnen sich weder durch tiefere ökonomische Kenntnisse noch durch höhere, den Unternehmern überlegene Moral aus.

Um der verantwortlichen Freiheit der Wirtschaftssubjekte willen pochen wir jetzt verstärkt auf die Moral der einzelnen. Als Moral noch religiös verankert war, trug sie erheblich zur Disziplinierung der Willkür und zur Sinnerfüllung der Freiheit bei. Jetzt, da sie ihre christliche Bodenhaftung weitgehend verloren hat, wird sie oft selber zur Willkür. Immerhin beklagt man nun den Verlust von Werten. Vertrauen und Glaubwürdigkeit werden allenthalben beschworen, vor allem von jenen, die diese Ressourcen leichtsinnig verspielt haben. Die Zehn Gebote werden wieder entdeckt, die Tugenden neu gefordert. Aufregender als Tugenden sind freilich die abschreckenden Laster, die sich auch besser verfilmen lassen. Als Laster, die zur Hypotheken- und Finanzkrise beigetragen haben, wurden von Gerhard Schwarz in der Neuen Zürcher Zeitung genannt: „Gier, Maßlosigkeit, Anmaßung, Eitelkeit, Übertreibung, Unvernunft und Inkompetenz“. Vor sieben ähnlich klingenden Lastern haben uns schon die frühchristlichen Theologen gewarnt, ohne die Rettung der Marktwirtschaft in den Blick zu nehmen.

Der Markt entbindet nicht nur Kräfte der Selbstheilung, sondern auch der Selbstzerstörung. Zur Abwehr destruktiver Potenzen entwickelten die ordoliberalen Vordenker bereits Institutionen und Instrumente, mit denen sich Kartelle und Monopole wirksam bekämpfen ließen. Ein erweiterter Ordnungsrahmen wird die gesamte Weltwirtschaft umfassen und dabei besonders die Finanzwirtschaft ergreifen müssen. Denn der „Marktmechanismus“ – ein antiquierter und irreführender Ausdruck – funktioniert nicht wie eine Maschine. Erst recht verhalten sich Menschen, die sich im Wettbewerb auf dem Markt begegnen, nicht wie Automaten. Als freie Subjekte bleiben sie letztlich unberechenbar. Aber ohne moralische Regeln, die für alle gelten, erreichen sie kein gegenseitiges Vertrauen. Eine für alle geltende Moral läßt sich nur von Gott her denken, also religiös begründen. Merke: Ohne Moral und Religion zerfällt auch das schönste System.

5 Antworten auf „Gastbeitrag:
Noch einmal davongekommen?“

  1. Danke für diese grundsätzlichen Gedanken. Freiheit und Moral entwickeln sich eben nicht im luftleeren Raum, sie sind nicht erzeugbar – weder durch persönliches Wünschen und Wollen noch durch Vorschriften, Gesetze und Strafen. Freiheit, Wohlstand und ein Höchstmaß an moralischem Verhalten sind allein die Früchte einer Gesellschaftsordnung, in der das Eigentum der Mitglieder geachtet und geschützt wird. Auch das private Zusammenleben entwickelt sich aus und folgt den unabänderlichen ökonomischen Gesetzen des freien Handelns und des beidseitigen Nutzens. Wo diese interaktiven Prozesse in welcher Absicht auch immer dauerhaft gestört werden, gehen die Menschen bald auch nicht mehr freundlich miteinander um. Es fehlt die Basis, dieses zu tun. Statt dessen beobachten sie einander argwöhnisch, ob nicht der eine oder andere Vorteile genießt oder Willkürgesetze überschreitet. Das ist das Klima, in dem das Denunziantentum besonders gut gedeiht.
    Es ist wichtig, dieses immer und immer wieder zu betonen.

  2. Ohne die letzten beiden Sätze, ein schöner Beitrag. So hingegen nur ein mittelmäßiger Versuch, überholte Vorstellungen über die Rolle der Religion wieder im Mainstream zu etablieren. Und definitiv überhaupt nicht mit irgendeiner Form des Liberalismus zu vereinbaren. Der Herr Pater sollte sich nicht so offenbar dabei erwischen lassen, momentane Krisen fürs Missionieren zu instrumentalisieren.

  3. Phillip hat recht, in diesem Fall braucht es keine „Moral“ sondern die einfache Tatsache für seine Sachen einstehen zu müssen. Wie ich das so verfolge wird nur eingestanden wenn es gut geht und großzügig drüberweggesehen wenn es halt schief geht. Ob Gier oder nicht ist eigentlich nebensächlich aber diejenigen die den Schlamassel zu verantworten haban (Politiker und Bankster) sind immer noch in Amt und Würden….

    Ganz davon abgesehen wird nicht im Geringsten auf die ungerechten Eingriffe der Politk eingegangen, die von wirtschaftlicher Unwissenheit nur so strotzen.

  4. Danke an Wolfgang Ockenfels für seinen wohl fundierten Artikel.

    Wer die Moral außen vor läßt, der geht in dieser Welt unweigerlich zugrunde. (Fast) alle Religionen dieser Welt sind hauptsächlich geschaffen worden, um ihren Anhängern die wichtigsten Moralgesetze zu vermitteln.

    Ein Zerfall ritueller und geistiger Werte führt automatisch ins Chaos. Wer da meint, er käme ohne diese Werte aus, der mag zwar bis zu einem gewissen Grade tun und lassen können was er will, aber sein Erfolg basiert einzig und allein auf den Moralwerten seiner Mitmenschen, ohne dass er seinen eigenen Beitrag zu einer intakten Welt geleistet hat.

    Wir brauchen in dieser Krise nicht nach den Schuldigen zu suchen, sondern einzig und allein die Taten aller maßgeblich Beteiligten auf ihren moralischen Inhalt zu bewerten. Die Krise ist hauptsächlich durch das Ausserachtlassen jeglicher Moral in den Köpfen der Entscheidungsträger entstanden. Eine Heilung der Krankheit „Finanz- und Wirtschaftskrise“ läßt sich nicht durch Behandlung der Symptome (falsche Entscheidungen) sondern allein durch Beseitigung der Ursachen (unmoralische Entscheidungen) erreichen.

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