Das Gespenst des Neoliberalismus

Wollte man ein neoliberales Manifest schreiben, man bräuchte den ersten Satz des kommunistischen Manifests 160 Jahre später nur leicht abwandeln: ,Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Neoliberalismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen das Gespenst verbündet’.

Geisterseher gibt es genug unter den „Sozialisten in allen Parteien“ (ihnen widmete Friedrich von Hayek schon 1944 sein Buch: der „Weg zur Knechtschaft“). Besondere seherische Fähigkeiten bewies jüngst der SPD-Vorsitzende Kurt Beck, als er bei der CDU einen „in der Luft hängenden“ Neoliberalismus erspürte (FAZ vom 11.Juni 2007). Oskar Lafontaine wiederum sieht die SPD und überhaupt alle westlichen Industriestaaten von Neoliberalen beherrscht, und rief ausgerechnet Walter Eucken und Franz Böhm als Geisterheiler zur Hilfe, um seine Beschwörungsformel „Freiheit durch Sozialismus“ gegen den neoliberalen Ungeist in Stellung zu bringen (FAZ vom 9. Juli 2007). Der „konservative“ französische Sozialist und Staatspräsident Jacques Chirac wiederum ließ am 16. März 2005 den Figaro wissen, daß der Neoliberalismus, wenn er nicht (wie in Frankreich) erfolgreich bekämpft werde, „ebenso desaströs wäre wie der Kommunismus“!

Handelt es sich nur um geistige Verwirrung oder politisches Kalkül? Ich denke, Letzteres erfreut sich Ersterem. Wie konnte „Neoliberalismus“ zur politisch derart vernichtenden Karikatur werden? Wohl genau deshalb, weil kaum einer weiß, was er bedeutet. Und weil sich gleichzeitig kaum einer offen anti-liberal nennen möchte. Dazu war die Geschichte des Liberalismus mit seinem Kampf für Rechtsstaat, gleiche Bürgerrechte, Demokratie und eben: persönliche Freiheit, doch allzu prägend und zumindest als politisch-korrekter verfassungskonformer „common sense“ nur noch schwer offen kritisierbar.

Die Erfindung des „Neoliberalismus“ als Schreckgespenst wirkt wohl vor allem deshalb, weil er als flüchtig, beliebig und anonym dargestellt und wahrgenommen wird. Als Voodoo entfaltet er wahrhaft erstaunliche politische Magie. Kommunisten und Neonazis, Kirchen und Gewerkschaften, Grüne, Rote und Schwarze, nicht nur in Deutschland, bekämpfen tapfer diesen ominösen „Neoliberalismus“. Da wurde es vor der letzten Bundestagswahl auch der modebewußten FDP so mulmig, daß sie sich mit dem wärmenden Adjektiv „neo-sozial“ meinte schmücken zu müssen.

Dennoch glauben hier viele, es „herrsche“ der Neoliberalismus allerorten! Wahrhaft gespenstig mutet es an, wenn von fast allen politischen und gesellschaftlichen Mächten des alten Europa eine Hegemonie des Neoliberalismus (oder kurz: „des Marktes“) beklagt wird – und dies bei einer Staatsquote stabil nahe der Höchststände von knapp 50%! 50:50: ist das nicht halb Staats- und halb Marktwirtschaft? Halb Sozialismus, halb Liberalismus? Wo bleibt eigentlich der Siegeszug des „Neoliberalismus“; wo sind seine Bataillone? Keiner, jedenfalls, will’s gewesen sein: die Gegner des Neoliberalismus finden deshalb auch kaum einen, mit dem sie sich auseinandersetzen könnten – nur Gespenster. Ihre Kritik speist sich eher aus einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber Umständen, die ihnen unangenehm und unheimlich sind – gerade weil diese Umstände sich scheinbar dem planenden Zugriff des Staates und dem packenden Zubiß der Intellektuellen feige entziehen.

Wer hat das Ganze geplant, wer hat das gemacht? Die ehrliche Antwort ist: Niemand. Das hat in der Tat etwas „Gespenstisches“. Ein Großteil unserer freiheitlichen Zivilisation, aber auch des noch für unsere Großeltern völlig undenkbaren Lebensstandards ist zwar das „Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs“, wie der schottische Moralphilosoph Adam Ferguson schon 1767 nüchtern feststellte. Gleiches gilt freilich auch für das scheinbar oder wirklich Ungerechte dieser Welt. Hiergegen revoltiert, verständlicherweise, unser moralischer Instinkt: Muß nicht für das Gute auch eine gute Absicht und für das Böse eine hinterlistige Verschwörung verantwortlich sein?

Gut und Böse verstehen wir besser als gut oder böse gemeintes und gewolltes Ergebnis menschlichen, politischen, Entwurfs. Dies ist denn auch der Humus, auf dem die Neoliberalismus-Kritik ebenso empirisch falsche wie politisch wirksame Verschwörungstheorien düngt. Wenn man schon keine Menschen und Absichten für die „Ungerechtigkeit der Welt“ verantwortlich machen kann, dann eben Anthropomorphismen: „das Kapital“ herrscht, „der Markt“ bestimmt, „der Wettbewerb“ ist unbarmherzig und „die Ökonomie“ verbreitet Angst und Schrecken. Kapital, Markt, Wettbewerb, Ökonomie: das scheinen die gespenstischen Autoren eines „neoliberalen Manifests“ zu sein, vor dem sich viele ängstigen, obwohl es keiner je gelesen und niemand je geschrieben hat.

Und doch gab es leibhaftige Autoren explizit neoliberaler Gesellschaftsentwürfe. Es handelt sich freilich nicht um Guido Westerwelle, Bill Gates, Josef Ackermann oder Peter Hartz (I-IV). Die Geschichte des Begriffs „Neoliberalismus“ ist wohl so gut wie keinem derer bekannt, die ihn permanent als Kampfbegriff nutzen. Sie beginnt ironischerweise in Paris; noch dazu im ahnungsvollen Jahr 1938. Damals kamen 26 liberale Sozialwissenschaftler zu einem Kolloquium zusammen. Der Zweck: die Suche nach einem neuen Liberalismus, der dem Kollektivismus und Totalitarismus in roten wie braunen Uniformen entgegengestellt werden könnte. Und: ein Liberalismus, der sich vom alten „laissez-faire“-Liberalismus und einer „zu engen ökonomischen Perspektive“ deutlich abheben wollte!

Es lohnt sich, die Diskussionen dieses „Colloque Lippmann“ genauer anzusehen. Herausgegeben von einem „Centre international d’études pour la rénovation du libéralisme“; als erste und letzte Veröffentlichung. Es war zu spät: ein Jahr später machte der Krieg dem internationalen Bemühen um eine Neubestimmung und Neubesinnung des Liberalismus ein brutales Ende. Die Teilnehmer (unter anderen): die französischen Intellektuellen Raymond Aron und Louis Baudin, die aus Wien emigrierten Ökonomen Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises, die aus Deutschland vertriebenen Willhelm Röpke und Alexander Rüstow, der Brite Michael Polanyi, der amerikanische Publizist Walter Lippmann.

Letzterer war es, der sich 1937 ernste Gedanken über die Gründe des globalen Niedergangs des klassischen Liberalismus machte und diesem ein neues Fundament geben wollte. Deutlich zu erkennen war: die alten Neoliberalen (mit Ausnahmen, vor allem im Falle des gegen Rüstow und Röpke polemisierenden Ludwig von Mises) fielen ab vom Glauben an eine „prästabilisierte Harmonie“, eine in jedem Falle für alle Bürger stets segensreiche „unsichtbare Hand“ des Marktes. Die meisten in Paris versammelten „Neoliberalen“ waren sich einig, daß die marktwirtschaftliche Ordnung eines rechtlichen und moralischen Rahmens bedarf; und daß das freie Spiel der Kräfte staatlichen, privilegienfreien Spielregeln und gesellschaftlichen, ethischen Fairneßnormen unterworfen sein muß. Genauso dachten zur gleichen Zeit die (zunehmend in Widerstandskreise involvierten) „Ordoliberalen“ der Freiburger Schule oder die sich selbst als „Neoliberale“ verstehenden antifaschistischen Emigranten Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow. Ohne die Disziplin des Leistungswettbewerbs, der Eigenverantwortung und Haftung gerate der Markt zu einem Unterdrückungsapparat in den Händen wirtschaftlicher Machtgruppen (Monopole, Kartelle, Lobbygruppen).

Einer interventionistischen „Verstaatlichung der Gesellschaft“ müsse der Neoliberalismus deshalb ebenso entschieden entgegentreten wie einer korporatistischen „Vergesellschaftung des Staates“, so später der neoliberale Jurist Franz Böhm. Nur in der Kombination deutlich und rechtlich unterscheidbarer Sphären von Rechtsstaat und Privatrechtsgesellschaft, von Politik und Markt, von Kollektiv und Person, ließe sich Freiheit, Gerechtigkeit und Moral aus neoliberaler Sicht verteidigen. Das Gleiche vertrat Walter Eucken, den Oskar Lafontaine (s.o.) zusammen mit Franz Böhm als anti-neo-liberalen Geisterseher zu vereinnahmen sucht, um ausgerechnet seine Vision von „Freiheit durch Sozialismus“ (Verstaatlichung von Kapitalverkehr, Strom, Gas, Wasser, Energie; dazu die Aufforderung zum politischen Generalstreik) zu untermauern. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht politisch wirksam wäre!

Ohne die Trennung von (Rechts-) Staat und (Privatrechts-) Gesellschaft gibt es keine Freiheit. „Neoliberalismus“ oder „Ordo-Liberalismus“ läßt sich deshalb auch kurz als „Anti-Totalitarismus“ beschreiben und historisch belegen. Auch Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft, das sogenannte „Wirtschaftswunder“, wie auch das Grundgesetz, wurden nicht von Geisterhand erschaffen. Die Bundesrepublik Deutschland war ein in entscheidenden Teilen neo-liberales Projekt! Wer die Soziale Marktwirtschaft gegen Angriffe des „Neo-Liberalismus’“ denkt verteidigen zu müssen, hat entweder den Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ oder den des „Neo-Liberalismus’“ nicht verstanden oder heimlich umgedeutet.

Gleichheit vor dem Gesetz, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Haftung, Geldstabilität, Wettbewerb; der demokratische Rechtsstaat als Garant eines Ordnungsrahmens für die Wirtschaft, als Hüter allgemeiner Regeln gerechten Verhaltens: das ist, im Kern, „Neoliberalismus“, wie er tatsächlich einmal definiert wurde. Wer das weiß, darf mit Recht fragen: ,Gespenst, wo ist Dein Schrecken?’ Sind wir nicht alle Neoliberale? Heute scheint sich aber die psychologische Ausgangslage – nicht nur unserer Intellektuellen – stark verändert und erschwert zu haben. Das Gespenst des Kommunismus haben „wir“, oder besser, haben mutige „Neoliberale“ im Neuen Europa, meist erfolgreich vertrieben. Westliche „progressive“ Intellektuelle sahen dadurch ihre sozialistischen Visionen eher verwirkt als verwirklicht. Dem Rest des alten Europa ist durch diese – im Kern „neoliberale“ – Befreiung ein fast schon liebgewordenes, einen liberalen Grundkonsens des Westens oberflächlich stärkendes, Schreckgespenst abhanden gekommen: der kalt kriegende Kommunismus.

Wo bleibt nun der Antagonist, anhand dessen wir uns definieren können? Gebt uns neue Gespenster! So schien die alte Linke und Rechte des alten Europa verzweifelt zu rufen … bis sie als Neo-Phobie die entfesselte Dynamik des globalen Kapitalismus entdeckte. Kapitalismus und Globalisierung sind zwar nicht „neo“; es gibt sie schon seit Jahrhunderten. Aber jetzt, da Kommunismus und Nationalismus gescheitert sind, blieben wenig -ismen, an denen es sich reiben ließ, ohne dabei auf sozialistische und nationalistische Instinkte und Denkschablonen gänzlich verzichten zu müssen.

Plötzlich waren Estland oder Irland attraktiver für Direktinvestoren als Deutschland oder Frankreich. Ein Skandal! Neoliberalismus! Indien wächst stärker als wir. Skandal, Neoliberalismus! In Nordkorea hungern die Arbeiter? Vielleicht auch ein Skandal – aber im Zweifel auch wegen des Neoliberalismus… „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Neoliberalismus“. Oder sollte man sagen: es geht um die Angst des alten Europa vor Menschen aus bald aller Welt, die den Geist „unseres“ liberalen Kapitalismus mit Begeisterung aufgreifen, um uns mit unseren eigenen, von uns selbst vernachlässigten und verunglimpften Mitteln zu schlagen?

Gerade im „alten Europa“ grassiert die Angst vor einer neuen Freiheit in ehemals kolonialisierten und danach kalt-kriegerisch ummauerten Teilen der Welt. Gekonnt nebulösierende Verschwörungstheorien feiern Wahl- und Publikationserfolge. Dabei verrät man den universalistischen Freiheitspathos eines Kant und Schiller, eines Montesquieu und Constant, und beruft sich gleichwohl auf ein Europäisches „Modell“ – das Europa eines Beck oder Sarkozy. Deutschland und Frankreich sind denn auch die stärksten Bastionen des neoliberalismus-feindlichen „Old Europe“. In den denkmalgeschützten Verließen kauert die Angst, von jungen Mitgliedstaaten der EU oder aufsteigenden Ländern Asiens eine Lektion in dynamischem Kapitalismus und leidenschaftlichem Liberalismus erteilt zu bekommen. Dieser ökonomisch nicht unbegründeten Angst versucht man nun etwa durch feierliche Beschwörung des „Europäischen Sozialmodells“ zu begegnen, das es notfalls mit protektionistischen Notverordnungen zu verteidigen gelte. So will man vergessen machen, daß der Sozial- und Obrigkeitsstaat bismarckscher oder napoleonischer Tradition in seiner heutigen Form als Wohlfahrtstaat weder europäisch, noch sozial, noch modellhaft ist und sein kann. Aber das ist ein anderes Thema (demnächst hier).

Dagegen sollte man sich vielleicht daran erinnern: Es gibt ein Sozialmodell, das sich schon hier einst bewährt hat und nun eben anderswo reüssiert: Und das Modell kann man „Neoliberalismus“ nennen, in dem Sinne, wie er

  • 1938 von einigen wenigen versprengten Liberalen in Paris formuliert,
  • ab 1948 als Politik des „Wirtschaftswunders“ in Deutschland zu einigen Teilen realisiert,
  • ab spätestens 1968 von sozialistischen Visionen überlagert,
  • und später zwar gefeiert, aber zunehmend verwässert wurde; und schließlich
  • ab etwa 1990 dem Exorzismus durch verwirrte Geisterseher anheim fiel.

Wenn demnächst jemand versucht, Sie als „neoliberal“ zu beschimpfen – nehmen Sie es als (ungewolltes) Kompliment! Neoliberalismus ist im Kern Anti-Totalitarismus. Man darf freilich den meisten Gegnern des Neoliberalismus zu ihren Gunsten unterstellen, daß sie das nicht wissen (wollen). Denn was wäre sonst Anti-Neoliberalismus? Wenn nicht totalitär, so doch gefährlich. Denn die Gegner eines in diesem Sinne historisch verstandenen Neoliberalismus untergraben, wohl oft unwillentlich, die institutionellen, moralischen und materiellen Grundlagen der freien Welt. Ein wenig pathetisch kann man deshalb auch die beiden letzten Sätze des kommunistischen Manifests auf den aktuellen Stand bringen:

„Mögen die herrschenden Klassen vor einer neoliberalen Revolution zittern. Die Bürger haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Neoliberale aller Länder, vereinigt euch!“

10 Antworten auf „Das Gespenst des Neoliberalismus“

  1. Ein sehr guter Artikel. Er erklärt die Ideale und Werte, die ein richtig verstandener Neoliberalismus verkörpert und zeigt auch die Motive derjenigen auf, die sich beharrlich weigern, die Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft zuzugestehen. Allerdings glaube ich, daß die FDP im Wahlkampf 2005 sich des Begriffes „Neo-Sozialistisch“ bediente und sich nicht etwa, wie hier angedeutet, als „neo-sozial“ profilieren wollte.

    Auf jeden Fall werde ich mich in Zukunft gerne als Neoliberaler „beschimpfen“ lassen, wenn das meine Überzeugung unterstreicht, daß der Staat dem Bürger endlich wieder mehr Freiheitsrechte zugestehen muß.

    Alles Gute, Christoph

  2. Herr Wolgemuth, nehmen Sie für sich und ihre Kollegen in Anspruch, Neoliberale im Sinne des Colloque Lippmann zu sein?

    Das ist interessant

    Gleichzeitig empfehlen Sie, die Werke der Neoliberalen zu lesen, bieten also an, Anspruch und Wirklichkeit zu vergleichen.

    Ein vorzüglicher Rat.

    Das sollte man tatsächlich tun, es sind durchaus anregende bereichernde Werke.

    Es wäre schön, wenn das zwischen 1930 und 1965 Erdachte und Durchdachte verwirklicht worden wäre oder sich verwirklichen liesse.

    Die Frage ist, inwieweit waren die Grenzen der Verwirklichung nicht vorhersehbar? Einige Neoliberale dachten über den historischen Liberalismus kritisch nach, suchten die Ursachen der Fehlentwicklung nicht nur im Weg zur Knechtschaft, sondern auch im Weg zur Freiheit. Andere waren bedenkenloser.

    Kein Wunder, daß sich unter dem Label Neoliberal Menschen versammeln, die sich zutiefst uneinig waren, die mehr ungesellig statt gesellig waren und nicht die ungesellige Geselligkeit pflegten.

    Das Label Neoliberal verdeckte gravierende Meinungsverschiedenheiten und persönliche Feindschaften zwischen den Protagonisten, von denen die wenigsten in ihrem Sinne neoliberal waren. Viele waren schlicht und einfach Altliberale. Voll abgestandenes Denkens, das sich vom neuen Label einer Wiederbelebung erhoffte. Des Kaisers neue Kleider, ein Segeln unter falscher Flagge.

    Sind die heutigen Liberalen Neoliberale?

    Wohl eher nicht, sie stehen auch nicht in der Tradition eines Richard Cobden.
    Champions der Armen? Champions der Unfreien?

    Was bleibt von den Neoliberalen?

    Alexander Rüstow mahnte, den Neoliberalismus durch die Soziologie zu bereichern. Wilhelm Röpke sprach von säkularen Gemeinden und säkularen Heiligen.

    Was vor allem bleibt, sind interessante Fragen und Beobachtungen in den Büchern von Walter Lippmann, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, die auf Antworten warten.

    Die Antworten, die die Genannten anbieten, hat Nawroth kritisch bewertet. Sie führen erneut zu den alte Fragen.

    Ist das Bild vom Menschen und das Bild von der Gemeinschaft der freien Menschen der Neoliberalen geeignet, eine freie Gesellschaft aufzubauen und zu erhalten?

    Ich glaube es nicht, vieles wird sehr vom Endzustand, dem angestrebten Zustand, dem Land der Wünsche, dem liberalen Paradies durchdacht. Der Weg, ihn zu erreichen, der Weg zur Freiheit wird selten kritisch durchdacht.

    Es ist nicht nur ein Durchdenken des angestrebten, des reifen Zustandes, es ist auch eine Gesellschaft der reifen Menschen. Als reifer Mensch wird der Mensch nicht geboren. Die meisten sterben nicht einmal als reife Menschen. Dies fröhlich und naiv ignorierend, erhofft man sich von dem vergöttlichten Markt die wärmenden Strahlen, die ähnlich wie früher die vergöttlichte Sonne die menschlichen Trauben reifen lassen.

    Der vergöttlichte Markt ist Richter und Totengräber, mehr nicht. Das Reifen des Menschen wird nicht vom vergöttlichten Markt beeinflußt, allenfalls das Nachreifen. Manche reifen nach, andere erreichen nicht das Stadium der Reife, in der ein Nachreifen möglich ist. Und wenn, dann auf ganz anderen Wegen, als die herkömmlich Nachreifenden ahnen. Was nicht weiter verwunderlich ist.

    Das Reifen des Menschen wird nicht nur durch sein eigenes Hinstreben, sondern vor allem durch Begegnung mit und Begleitung durch menschliche Vor-Bilder, die das, wohin man streben will, kann oder könnte, vor-leben und bewerten, beeinflußt. Vor-Bilder sind leider alle Menschen, die älter sind als der Heranwachsende, auch die, die menschlich allzu menschlich nicht fehlerfrei, sondern reich an Fehlern und Fehlentwicklungen ist. Meistens der einzige Reichtum, über den sie verfügen. Vollenden solche Heranwachsenden das körperliche Heranwachsen, so sind sie allenfalls reich an –Losigkeiten. Aber arm an ich bin, ich kann, ich werde, ich will. Nicht nur, was die vorläufigen Antworten angeht, die sich im Laufe des Lebens, des Nachreifens ändern. Schlimmer noch, auch was die Fragen angeht.

    Es gibt eben nicht nur die Eigenverantwortung, sondern auch die Mitverantwortung, wenn nicht sogar Verantwortung. Die für die Entwicklung anderer Menschen, der die wenigsten gerecht werden, weil viele einfach nicht ahnen, daß sie die Lebenswege von Menschen, meistens unwissentlich, beeinträchtigen.

    Wer will den Neoliberalismus verwirklichen?

    Sind es nur die Vertreter des staatlichen Macht, die widerstreben? Oder nicht auch die Inhaber privater Macht, für die die Liberalen der verlorene Haufen sind, das Fußvolk, daß sie vorausschicken können, um für sie die staatliche Macht zu zertrümmern. Aber bestimmt nicht, um stattdessen eine Gesellschaft freier Menschen zu errichten

    Der vergöttlichte Markt. Ist er nicht auch der Alleszertrümmerer, der Alleszermalmer, der den Widerstand für die brechen soll, denen die Überzeugungsfähigkeit und Beredsamkeit nicht gegeben ist? Der Bringer des Big Bang. Fragt sich bloß, für wen er zermalmen und zertrümmern soll?

    Lieben die privat Mächtigen den Wettbewerb? Ja den Wettbewerb ihrer Lieferanten, den Wettbewerb ihrer Kunden und den Wettbewerb ihrer Mitarbeiter, aber doch nicht den Wettbewerb der privat Mächtigen untereinander. Nur dann, wenn sie als Sieger feststehen. Sonst sind sie Wettbewerbsflüchter. Durch Tore, die sich hinter ihnen schließen und den Nachfolgenden verschlossen bleiben. Tore, die nicht offen stehen, um den Nachfolgenden willkommen zu heißen.

  3. Ich schlage vor, bevor Herr Wolgemuth das nächste Mal seine völlige Unkenntnis offenbart, sollte er sich erst einmal grundlegend informieren:

    „Neoliberalism refers to a historically-specific reemergence of economic liberalism’s influence among economic scholars and policy-makers during the 1970s and through at least the late-1990s, and possibly into the present (its continuity is a matter of dispute).“
    http://en.wikipedia.org/wiki/Neoliberalism

    Hat also nichts mit 1937 zu tun.

    Auf der gleichen Seite lesen wir weiter:
    „The definitive statement of the concrete policies advocated by neoliberalism is often taken to be John Williamson’s[3] „Washington Consensus“ “ Also mehr als 50 Jahre später.

    Wenn wir heute über Neoliberalismus diskutieren, sollte man doch zur Grundlage nehmen, wie HEUTE Neoliberalismus allgemein definiert wird und nicht wie er irgendwann einmal definiert wurde. Begriffe wandeln halt manchmal ihre Bedeutung.

  4. @ liberphil,

    nein, sicherlich nicht. Vor allem wenn man dieser die „Seriösität“ der von Herrn Wohlgemut angegebenen Quelle (http://bsalanie.blogs.com/economie_sans_tabou/2005/07/chirac_en_pense.html)
    gegenüberstellt.

    Aber ich verstehe schon: wenn einem keine inhaltlichen Gegenargumente einfallen, muss man schlicht die Seriösität der Quelle angreifen. Dass aber inzwischen selbst in wissenschaftlichen Aufsätzen wikipedia als Quelle akzeptiert wird, dürfte dies nur sehr schwer möglich sein.

  5. Lieber Peter!

    Herr Wohlgemuth hat seine Quelle dazu genutzt, eine Aussage von Chirac zu belegen. An seinem Argumentationsstrang ändert das doch gar nichts. Sie hingegen nutzen wikipedia als Argument, um Herrns Wohlgemuths Interpretation von „Neoliberalismus“ zu widerlegen. Das ist einfach ungeeignet.

    Jemandem, der an einem renomierten Forschungsinstitut arbeitet, was durchaus einen starken Bezug zum Thema Liberalismus hat Unkenntnis vorzuwerfen, ist mehr als albern. Dass in diesem Zusammenhang ein Verweis auf Wikipedia (also vom Prinzip her: ‚Mensch Herr Wohlgemuth, was beschäftigen Sie sich mit dem Thema? Auf Wikipedia steht doch alles! Ihre Forschungen werden dadurch widerlegt.‘) in keinster Weise geeignet ist, den Artikel zu kritisieren, sollte auch Ihnen klar sein. Natürlich verstehe ich Ihren Versuch, einfach mal polemisch dagegen zu schießen, aber jeder Mensch, der Diskussionskultur kennt und schätzt, weiß, dass ein solches Vorgehen zurecht nicht anerkannt ist.

    Und nein: es geht nicht darum, wie irgendwelche Schwätzer, Nebelkerzenwerfer und Populistenden Begriff „Neoliberalismus“ benutzen, sondern darum, was er bedeutet. Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung denken mag, dass Heckscher-Olin ein IKEA-Designer und Subsidiarität eine Geschlachtskrankheit ist, ist das noch lange nicht so. Und gerade wenn man als neoliberal bezeichnet wird, sollte man zumindest die Möglichkeit haben zu erläutern, wie das eigentlich zu verstehen ist.

    Zudem: Wie wird denn Neoliberalismus heute definiert? Das ist doch einfach ein diffuser Begriff für die Ursache allen Übels und aller Ängste ohne irgendwelche historischen, soziologischen und wirtschaftlichen Hintergründe. Von einer heutigen Definition kann keine Rede mehr sein, gerade weil der Begriff so extrem missbraucht wird.

    Und noch was:
    Nein, in wissenschaftlichen Aufsätzen ist wikipedia nicht als fundierte, wissenschaftliche Quelle akzeptiert. Ganz sicher nicht.

  6. @ Karl,

    wahrscheinlich haben Sie Recht. Herr Wohlgemuth weiss sicherlich, dass sich Geissler, attac und andere mit ihrer Kritik am Neoliberalismus auf den Washingtoner Consens beziehen. Warum schreibt er aber nichts davon?

    Stattdessen beschreibt er, wie Neoliberalismus vor 50 Jahren definiert WURDE, aber nicht wie der Begriff heute definiert WIRD – ohne auf diese Begriffswandlung hinzuweisen.

    Nehmen wir den Begriff „Ampel“ (um keine ideologisch umstrittenen zu wählen). Im Mittelalter war die Ampel das ewige Licht in Kirchen. Welchen Sinn würde es machen, einen Text zu verfassen, in dem man aufzeigt, dass Autos schlichtweg gar nicht vor Ampeln stehen können (oder hat schon mal jemand Autos in Kirchen gesehen)? Begriffen wandeln nun mal ihre Bedeutung.

    Oder um innerhalb der Ökonomie zu bleiben: haben Sie schon mal gesagt „das ist ein günstiger Preis“? Sorry, aber günstig ist ein Verhaltnis von Qualität zu Preis. Ein Preis kann niemals(!) günstig sein (auch nicht teuer). Aber das ist nun mal der allgemeine Sprachgebrauch.

    Es ist natürlich denkbar (und sehr wahrscheinlich), dass Herr Wohlgemuth selbst weiss, dass sein Text schlicht Unfug ist. Dass er ihn dennoch veröffentlicht hat, macht die Sache nicht besser. Sondern schlimmer.

    Übrigens: Ich kann ihnen etliche wissenschaftliche Texte zeigen, in denen wikipedia als Quelle genannt und von Gutachtern akzeptiert wurde. Hierüber brauchen wir hier wirklich nicht zu diskutieren.

  7. Ich verstehe nicht, warum dieser Blog im Untertitel „Ordnungspolitischer Blog“ genannt wird, wo man sich doch hier gegen jede Ordnung im Markt ausspricht.

  8. Der Begriff „Neoliberalismus“ ist seit Jahren leider derart negativ besetzt, daß auch Ihr Artikel wohl keine Abhilfe schaffen kann. Es stimmt auch, daß kaum ein Kritiker weiss, was „Neoliberalismus“ tatsächlich ist oder sein sollte. Wie aktuelle Fälle wie z. B. die Aufgabe des Nokia-Werkes in Bochum gezeigt haben, ist er wohl endgültig zu einem Kampfbegriff in der politischen Auseinandersetzung mutiert – bis in das bürgerliche Lager hinein.

  9. Ich gestehe das ich den Artikel genauso platt finde wie die Plattheit mit der „Neoliberalismus“ heute als Kampfbegriff verwendet wird.
    Sieht man genauer hin, heute in 2008, kann man IMHO folgendes feststellen:
    – Der Ordoliberalismus ist heute nicht mehr existent. „Ordo“, also die Schaffung der Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb durch den Staat (u.a. zur Verhinderung von Oligo- und Monopolen) steht – zumindest in der Öffentlichkeit – nirgendwo auf der Agenda der Neoliberalen im Jahre 2008. Wo sind die Neoliberalen die gegen die Schaffung eines neuen Quasi-Monopols bei der Bahnprivatisierung aufstehen? Wo waren die Neoliberalen bei der Privatisierung des Energiesektors in diesem Land, bei dem ein alles beherrschendes Oligopol geschaffen wurde?
    Anderes Beispiel: Stichwort „schädigender Wettbewerb“. Bei den Ordoliberalen noch ein Kernthema, heute offensichtlich quasi nicht-existent.
    Nächstes Beispiel: Stichwort Mindestarbeitsbedingungengesetz. Geschaffen unter Ludwig Erhard. Mit der klaren Intention, Löhne unterhalb eines zu definierenden Nivaus zu unterbinden. Hier spielte IMHO das 2. Standbein der „sozialen Marktwirtschaft“ eine Rolle, die z.B. Müller-Armack immer beeinflusste, die christliche Soziallehre. Wo also sind die Neoliberalen heute, die gegen Hungerlöhne aufstehen?
    In der Realität befürworten die Neoliberalen hier in D im Jahre 2008 Subventionen um Löhne unterhalb des Existenzminimums auf eben dieses aufzustocken. Subventionen um den Beschäftigten im explodierenden Niedriglohnsektor die Rente auf das Existenzminimum aufzustocken.
    Das alles hat mit Röpke, Müller-Armack, Euken, Rüstow, Böhm und den anderen Ordoliberalen IMHO nichts, aber auch gar nichts zu tun.

    – Der „real existierende Neoliberalismus“ im Jahre 2008 ist der Montarismus. Mal ausgeprägter, mal weniger ausgeprägt. Aber die einzigen Forderungen, die ich von heutigen Neoliberalen höre, sind solche, die aus dem Rezeptbuch von Friedmann stammen. Rückzug des Staates, Abbau von Regelungen und Schutzmechanismen, Abbau des Sozialstaates, etc.
    Eine der wichtigsten Forderungen der FDP war jahrelang die Abschaffung des Ladenschlusses. Zum – IMHO eindeutigen – Nachteil der kleinen und mittleren Unternehmer in diesem Bereich.

    Man mag dies als richtig empfinden, man mag den Ordoliberalismus für überholt halten.
    Aber wenn sich heutige Neoliberale als Anhänger der „sozialen Marktwirtschaft“ darstellen, gleichzeitig aber bezüglich ihres Gedankengebäudes Adam Smith näher stehen als Walter Eucken oder Wilhelm Röpke (was wohl der Kern der Buchempfehlung von Graf Lambsdorff ist ), halte ich dies – Entschuldigung – für nichts anderes als Heuchelei.

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