Am späten Abend des 23. Februar 2022 führte der Journalist und Putin-Kenner Hubert Seipel in der Sendung „Maischberger. Die Woche“ die eskalierende Situation an der Grenze zu den abtrünnigen Gebieten im Osten der Ukraine auf einen von der NATO ermutigten Bruch der Minsker Abkommen durch ukrainische Truppen zurück. Stunden vor dem Überfall wischte er den Hinweis auf den massiven Truppenaufmarsch Russlands an der ukrainischen Grenze mit der Bemerkung zur Seite, es handele sich dabei lediglich um harmlose Muskelspiele. Einen Tag vorher sah die langjährige Russland-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz bei Markus Lanz keinerlei Anzeichen einer russischen Invasion und beklagte umgekehrt, die NATO bedrohe Russland in seinen legitimen Sicherheitsinteressen. Zwei Tage davor argumentierte Sarah Wagenknecht bei Anne Will, das Bild von Putin als „durchgeknallter Nationalist, der sich daran berauscht, Grenzen zu verschieben“, sei „herbeiphantasiert“. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Gewiss, inzwischen scheint dieser ganze Spuk vorbei, und nur noch Sarah Wagenknecht geistert nach wie vor durch die Talkshows. Schaut man aber genauer hin, so findet man beispielsweise, dass Hubert Seipels Buch „Putins Macht“, das kurz vor dem Ukraine-Überfall erschien, offenbar nach wie vor populär ist: Die allerjüngsten Online-Rezensionen auf Amazon weisen nicht nur höchste Bewertungen auf, sondern sie sind auch in ihrem Textteil voll des Lobes angesichts Seipels vermeintlich differenzierter Sicht, seiner „Versachlichung“ der Debatte, seiner „Entdämonisierung Putins“ sowie seiner kritischen Haltung gegenüber der „aggressiven“ NATO.
Schauen wir im politischen Spektrum einmal ganz nach links, so finden wir beispielsweise, dass die altlinke Zeitschrift „Konkret“ gleich nach Beginn des Krieges im März 2022 mit „Go East! Die NATO-Aggression gegen Russland“ titelte. In weiteren Heften ging es um die deutschen Medien als „Propaganda-Staffel“ im Ukraine Krieg sowie um die „Geschichte einer Eskalation“ zwischen Putin und dem Westen. Lassen wir den Blick einmal weiter über die linksradikalen und kommunistischen Parteien Europas schweifen, so finden wir wieder das gleiche Bild: Russland, selbstredend legitim repräsentiert durch Putin, als das Opfer der NATO, welche wiederum das Hauptinstrument des hegemonialen US-Imperialismus ist.
Werfen wir abschließend noch kurz den Blick nach ganz rechts, so finden wir im Prinzip alles das, was wir auch ganz links finden: bei der AfD, bei Viktor Orban, bei Matteo Salvini und der Lega Nord, bei Silvio Berlusconi, Marine Le Pen und wie sie alle heißen. Nun könnte man die rechte und linke Einigkeit in der Putin-Verharmlosung mit dem Hinweis darauf abtun, es handele sich lediglich um die extremen Ränder des politischen Spektrums. Aber so ist das nicht. Mit Blick auf die politischen Repräsentanten in Deutschland mag es zwar noch gerade hinkommen, wenn man großzügig die 118 der insgesamt 736 Sitze im Bundestag als Randphänomen bezeichnet, die von Abgeordneten der LINKEN und der AfD repräsentiert werden, obwohl es immerhin rund 16 Prozent sind. Sieht man sich aber deren gemeinsames Wählerpotential an, so dürften wir bei mindestens einem Viertel der Bevölkerung liegen. Das ist kein Randphänomen, und es passt zu der Tatsache, dass Bücher wie jenes von Hubert Seipel Bestseller sind. Hinzu kommt, dass dies nur das Bild ist, das sich nach dem 24. Februar 2022 ergibt. Davor sah es noch ganz anders aus.
Blinde Antifaschisten
Nun darf es niemand wundern, dass es von rechten Putin-Verehrern nur so wimmelt. Am linken Rand müsste das aber eigentlich ganz anders sein. Viele radikale Linke haben so etwas wie einen antifaschistischen Alleinvertretungsanspruch für sich reklamiert und von dort aus den neuen Faschismus jahrzehntelang nahezu überall auferstehen sehen. Daher hätte ihnen zuallererst klar sein müssen, um wen es sich bei Putin handelt; dass er nicht allein rechtsradikal denkt und im Grunde auch immer so dachte, sondern dass er auch immer schon so handelte; dass er hemmungslos log und einschüchterte; dass er lange vor dem ersten Ukraine-Überfall bereits sprichwörtlich über Leichenberge ging; und dass er schon lange vor dem 24. Februar 2022 kaltlächelnd ganze Städte in Schutt und Asche versinken ließ. Wie ist vor diesem Hintergrund möglich, dass auch bei den selbsternannten Antifaschisten die abstoßend-menschenverachtende Propaganda des Faschisten Putin auf fruchtbaten Boden fiel und teilweise immer noch fällt?
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte der Ökonom und Sozialphilosoph F. A. von Hayek in einer Streitschrift mit dem Titel „Der Weg zur Knechtschaft“ bereits den entscheidenden Hinweis gegeben. Allerdings polarisierte er mit diesem Buch, und zwar vermutlich gerade deshalb, weil seine Kernaussage auch für moderate Sozialisten kaum zu akzeptieren war. Das hat dazu beigetragen, dass Hayek fortan als Hohepriester eines radikalliberalen Anarcho-Kapitalismus wahrgenommen wurde. Wie immer man zu Hayek steht, so ist es höchst bedauerlich, dass das Kernargument dieses Buches im Anti-Hayek-Strudel gerade bei denen untergegangen ist, für die es besonders wichtig gewesen wäre. Etwa zeitgleich hatte der Philosoph Karl Popper in seinem zweibändigen Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ ganz ähnlich argumentiert. Wie schon Hayeks Buch entstand auch dieses Werk vor dem Hintergrund des Nazi- und Stalinterrors, aber anders als Hayeks Buch war es weniger für allgemeines Publikum geschrieben und vermutlich deshalb weniger polarisierend, auf jeden Fall aber tiefgründiger fundiert.
Worum ging es? Kurz gesagt, wurden Linksradikalismus und Rechtsradikalismus auf ein und denselben intellektuellen Nährboden zurückgeführt. Heute würde man noch den religiösen Fundamentalismus hinzufügen, welcher wiederum aus demselben Nährboden wächst. Folgt man dieser These, so zeichnet das Rechts-Links-Kontinuum ein falsches Bild. Das relevante Gegensatzpaar ist vielmehr dies: Auf der einen Seite steht der liberale Individualismus, der das Wohl und Wehe der einzelnen Menschen in den Mittelpunkt allen gesellschaftlichen Strebens stellt. Auf der anderen Seite des Kontinuums steht der Kollektivismus, für den das Wohl der Gesellschaft stets mehr ist als die Summe des Wohls der Individuen, die in ihr leben.
Während es für den liberalen Individualismus keine Werte gibt, welche sich nicht aus dem Wohl der individuellen Menschen ableiten lassen, definiert der Kollektivismus abstrakte Werte und Gesellschaftsziele jenseits des Wohls der individuellen Menschen. Sodann haben sich die Individuen in den Dienst dieser überindividuellen Werte zu stellen. Begründet wird das mit der Behauptung, ein Individuum könne zu „wirklicher“ Freiheit nur dadurch gelangen, dass es verschmilzt mit dem Kollektiv, in dem es lebt, und aufgeht in dessen übergeordneten Zielen und Werten. Freilich bedeutet das auch, dass das Individuum im Kollektivismus zur Freiheit gelangt, indem nichts mehr von ihm bleibt. Die bekanntesten Spielarten des Kollektivismus sind der Kommunismus, der Nationalismus und der religiöse Fundamentalismus. Sie bilden zusammen das eine Ende des Kontinuums, an dessen anderem Ende der liberale Individualismus steht.
Der liberale Individualismus hat sich als das einzige mit Freiheit, Menschenrechten und Demokratie vereinbare Gesellschaftsmodell erwiesen. Er hat sich im Zuge der europäischen Aufklärung entwickelt und ist zur Grundlage der heutigen rechtsstaatlichen Demokratien westlicher Prägung geworden. Genau hieran schließt sich aber auch schon eines der beiden bedeutenden Imageprobleme des liberalen Individualismus an. Denn seine westlichen Wurzeln bieten seinen Gegnern die Möglichkeit, ihn als eurozentristisch oder gar imperialistisch zu denunzieren, wovon stets reichlich Gebrauch gemacht wurde. Das zweite Imageproblem folgt daraus, dass der liberale Individualismus oft mit einem Zerrbild des persönlichem Individualismus verwechselt wird, innerhalb dessen er für Egoismus sowie der Weigerung steht, für „höhere“ Werte einzustehen, womit in der Regel kollektivistische Werte gemeint sind.
Für Rechte und religiöse Fundamentalisten waren diese beiden Imageprobleme stets willkommene Helfer, um den liberalen Individualismus zu einem Feindbild zu stilisieren. Das gleiche galt für viele – wenngleich nicht alle – Linke; und zwar umso mehr, je dogmatischer sie waren oder sind. Je dogmatischer sie waren, desto eher waren sie bereit, die scheinbare linke Alternative zum liberalen Individualismus in ein allzu günstiges Licht zu tauchen. Viele wurden darüber blind gegenüber dem, was im Namen dieser vermeintlichen Alternative so alles geschah. Allein die Nähe prominenter Vertreter der Linkspartei zu verschiedenen trotzkistischen oder leninistischen Zirkeln innerhalb oder um rund um diese Partei zeugen davon.
In ihrer Blindheit ignorieren sie, dass nicht erst Stalin, sondern bereits Lenin und Trotzki in menschenverachtender Brutalität den sowjetischen Sozialismus auf dem heute von Putin erneut kultivierten Dreiklang von Lüge, Einschüchterung und Gewalt aufbauten; dass sie zu diesem Zweck bereits den berüchtigten und bis heute von Putin verehrten Geheimdienst Tscheka unter der Leitung des blutrünstigen Feliks Dzierzynski gründeten; dass die Stalin-Herrschaft ebenso wie die Mao-Herrschaft und viele andere linksradikale Herrschaftssysteme mit der Zeit in blanken und aggressiven Rechtsnationalismus umschlugen; dass linke Ideologen wie Horst Mahler plötzlich als rechte Hetzer wiedererstanden; und dass seit Lenin linke wie rechte Diktaturen kaum voneinander zu unterscheiden waren, wenn man deren jeweilige Propaganda ausblendete. Auch diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Alles das lag deutlich jedem vor Augen, der nur sehen wollte. Aber vor allem dogmatische Linke wollten es nicht sehen, und zwar deshalb nicht, weil es sie daran hinderte, den liberalen Individualismus als westlich-imperialistisch und zugleich als Brutstätte rücksichtslosen kapitalistischen Egoismus zu verdammen – und sich an den Kollektivismus als der von alledem erlösenden Alternative zu klammern. Im liberalen Individualismus, so glaubten sie, werde das Individuum über die Gemeinschaft gestellt, und in einer solidarischen Gesellschaft müsse dies umgekehrt sein. Dieses Bild teilen sie mit rechten und religiösen Gegnern des liberalen Individualismus. Sie alle ziehen es immer wieder gern heran, um ihn zu denunzieren. Dabei ist dieses Bild ebenso anziehend wie irreführend, weil es ungeklärt lässt, was gut für eine Gemeinschaft sein kann, wenn es nicht gut ist für die Individuen, aus denen eine Gemeinschaft besteht.
Die kollektivistische Brille
Aus einer kollektivistische Brille heraus ist dieses Bild allerdings konsistent, und zwar aus einem einfachen Grunde: Durch sie erscheint die Gemeinschaft stets als etwas, das mehr ist als die Summe seiner individuellen Teile. Daher blendet sie das Wohl und Wehe der Individuen aus und zeigt nur noch das größere, übergeordnete Kollektiv mit dessen überindividuellen Zielen. Genau in diesem Punkt treffen sich die Sichtweisen der westlichen Kollektivisten in der Gestalt religiöser Fundamentalisten sowie rechter und linker Extremisten mit jener von Wladimir Putin. Denn für sie alle spielen weder die Interessen, noch die Handlungen und Interaktionen individueller Menschen für den Ablauf gesellschaftlicher und historischer Prozesse irgendeine Rolle. Für sie ist stets Übergeordnetes im Spiel, und deshalb gerät ihnen die Geschichte in der einen oder anderen Form immer zu einer Abfolge großflächiger Verschwörungen – und seien diese noch so sehr philosophisch oder theologisch verbrämt.
Genau in diesem Sinne kann nun auch das historische Ergebnis, dass rund um Russland ein Gürtel von Staaten entstanden ist, der sich westlichen Werten zugewandt sowie westliche Regierungsformen mit Demokratie und Gewaltenteilung angenommen hat und noch dazu der EU und der NATO beigetreten ist, nicht einfach so passiert sein. Vielmehr muss es das bewusst angestrebter Ergebnis eines großen kollektiven Akteurs gewesen sein: getrieben von dem, der von Russland heute regierungsoffiziell nicht zufällig als der „kollektive Westen“ bezeichnet wird. Natürlich ist das zunächst einmal nur die Deutung von Wladimir Putin. Aber das große Verständnis für diese Interpretation seitens westlicher Kollektivisten lässt sich gut mit der kollektivistischen Brille erklären, durch die sie alle die Welt sehen: die Rechten, die Linken, die Mullahs im Iran und selbst der Papst, der gleich zu Beginn des Februar-Überfalls auf die Ukraine der NATO eine Mitschuld zuwies.
Würden sie die kollektivistische Brille ablegen, so erschlösse sich ihnen ein weit differenzierteres Bild. Demnach war die Ausbreitung westlicher Regierungsformen, ihre Orientierung an Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ebenso wie der Wunsch, alles das durch die Schutzschirme von EU und NATO abgesichert zu sehen, ein aus den Tiefen der Gesellschaft getriebener Emanzipationsprozess, der nach dem Fall der Sowjetunion vom Freiheitsdrang vieler Millionen Menschen getragen wurde und zunächst völlig ergebnisoffen war. Daher ist die heutige Ausdehnung von demokratischen und rechtsstaatlichen Regierungsformen ebenso wie die EU- und NATO-Mitgliedschaft der Ausdruck freier Willensentscheidungen innerhalb der jeweiligen Region, die es angeht. Und genau in dem Maße, in dem es die NATO-Osterweiterung den Einwohnern der neuen Mitgliedstaaten ermöglichte, sich ungehindert im Rahmen des liberalen Individualismus persönlich zu entfalten, wurden sie freier und standen unter dem Schutz rechtsstaatlich abgesicherter Menschen- und Bürgerrechte. Deshalb wollten sie diesen Schutz; und deshalb musste ihnen den Schutz niemand aufzwingen.
Putin und der „kollektive Westen“
Aber aus der kollektivistischen Brille heraus betrachtet kann und darf das nicht so sein. Stattdessen sieht man nur dies: Genau in dem Maße, in dem aus kollektivistischer Sicht die EU und die NATO „vorrückten“, wurde Russland die kulturelle, ökonomische und gesellschaftliche Ausrichtung dieser Länder an dessen kollektivistischen Zielen erschwert oder gar unmöglich gemacht. Spätestens aus Putins Sicht kann die daraus erwachsende Einengung seines imperialistischen Machtanspruchs nicht einfach so auf die gewachsene Freiheit der Menschen zurückzuführen sein. Denn in seiner kollektivistischen Welt ist Freiheit überhaupt keine relevante Kategorie. Das ist ihm völlig fremd, und daher bleibt ihm zur Erklärung dieser Entwicklung nur die imperialistische Verschwörung des „kollektiven Westens“.
Verstörend daran ist, dass so viele Linke – noch dazu im Verein mit Rechten und religiösen Fanatikern – ausgerechnet gegenüber dieser extremen Putin‘schen Variante des Kollektivismus Verständnis aufbrachten. So stellten sie sich mit gleicher Elle vor, dass die Menschen stets entweder der einen oder der anderen imperialen Macht zugeordnet sind – und dass daher alles, was Putin genommen wurde, notwendigerweise dem „kollektiven Westen“ in die Hände gefallen sei.
In der Folge horchten nach 2014 nur so wenige von ihnen auf, als Putin schrieb, die Geschichte habe Russland das historische Vorrecht dazu eingeräumt, die gesellschaftlichen und kulturellen Geschicke seiner Nachbarländer nach seinen Werten zu gestalten; und es widersprachen so wenige Putins Argumentation, wonach der Westen gerade dabei sei, Russland dieses vermeintliche historische Recht zu entreißen; und schließlich folgten so viele der aberwitzigen Behauptung Putins, die NATO griffe in legitime russische Sicherheitsinteressen ein, obwohl kein NATO-Staat je russisches Territorium infrage gestellt hatte oder daran auch nur das leiseste Interesse hätte.
Man horchte nicht einmal auf, als Putin seinen Hass gegen den „kollektiven Westen“ mit derart reaktionären Inhalten aufzufüllen begann, dass sämtliche Alarmglocken hätten läuten müssen: Der „kollektive Westen“ zwinge Russland in die Rolle des hilflosen Zuschauers, während er eine von Drogensucht, Homosexualität und Verweichlichung geprägte westliche Seele in die einst stolze russische Brust der Ukrainer mit der Folge pflanze, dass das Volk der „Kleinrussen“ für immer von der Landkarte verschwinde. Dass er damit in absurder Folgerichtigkeit eine logische Begründung seiner Behauptung über einen vom „kollektiven Westen“ an den Ukrainern begangenen Völkermord lieferte, nahm man einfach so hin.
Die Menschenverachtung des Kollektivismus
Der Nährboden für diese verbreitete Blindheit gegenüber dem neuerlichen Monster des Faschismus in Europa ist bereits vor langer Zeit benannt worden. Karl Popper hatte ihn während des Zweiten Weltkriegs tiefgründig analysiert, und Friedrich A. von Hayek hatte in seiner Streitschrift eindringlich vor ihm gewarnt. Leider stießen diese Analysen und Warnungen bei vielen Beobachtern auf taube Ohren – vor allem von solchen, die sich für besonders zeitkritisch halten.
Dies lag wohl einerseits an der auch unter moderaten Linken bis heute kaum gebrochenen Anziehungskraft des Marxismus, in dessen kollektivistischer Basis eine inhärente Gegnerschaft zum liberalen Individualismus enthalten ist. Umgekehrt erklärt es übrigens, warum die Grünen gegenüber dem aufkeimenden russischen Faschismus nicht blind waren. Denn sie haben seit ihrer Gründung eine eher unorthodox-linke Position kultiviert, und das hat damit zu tun, dass zumindest ein Teil ihrer Wurzeln liberal-individualistisch geprägt ist – vielleicht stärker, als manche von ihnen sich eingestehen wollen.
Die Warnungen vor dem Kollektivismus stießen aber auch deshalb oft auf taube Ohren, weil die liberal-individualistische Gesellschaftskonzeption verwechselt wurde mit dem Klischee des gemeinschaftsfeindlichem persönlichem Individualismus; dass Individualismus gleichgesetzt wurde mit Vereinzelung, Vereinsamung und Egoismus; und dass der seiner ursprünglichen Idee beraubte Begriff des Neoliberalismus das liberal-individualistische Gesellschaftskonzept zu einem griffigen Feindbild formte.
Dies alles pflegte die Überzeugung, dass der Kollektivismus moralisch überlegen sei, weil er vermeintlich das Gemeinschaftliche über die Vereinzelung stellt, das Gemeinwohl über den Eigennutz und die Solidarität über den Egoismus. In dieser irrigen Überzeugung verwechselten viele linksorientierte Kommentatoren das totalitäre Potential des Kollektivismus mit solidarischen Prinzipien. So sehr dies in vielen Fragen nur ärgerlich war, so tragisch wurde es, als manche von ihnen mit ihrer kollektivistischen Prinzipientreue zum Echo eines bösartigen Propagandisten und Massenmörders wurden. Überall haben sie das Aufkommen neuer faschistischer Kräfte gewittert, manchmal zurecht, manchmal nicht. Aber da, wo er tatsächlich mit großer Wucht und für alle, die nur sehen wollten, deutlich sichtbar erwuchs, da haben sie nichts gesehen.
Die dahinter sich verbergende Einsicht für alle Gutwilligen unter uns ist, dass der Kollektivismus keineswegs die Grundlage einer solidarischen Gesellschaft ist; dass er keineswegs ein Konzept dagegen ist, dem Egoismus in uns Menschen auf gesellschaftlicher Ebene Einhalt zu gebieten; dass er keineswegs ein Konzept gegen Nihilismus und Prinzipienlosigkeit ist; und dass er keineswegs ein Rezept gegen den vermeintlichen (Neo-)Imperialismus des „kollektiven Westens“ ist – so imperialistisch und kolonialistisch manche westlichen Länder in der Vergangenheit auch immer waren; und so schlimme Dinge mitunter auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg im Namen des Westens geschehen sind. Vielmehr ist der Kollektivismus ein gefährliches, aggressives und menschenverachtendes Prinzip. Das erweist sich in schmerzhafter Weise immer wieder neu. Der jüngste Nachweis kam aus Russland; und neues Unheil könnte sich gleich wieder anbahnen – diesmal aus China.
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