Putin der Spieler

Putin ist ein Autokrat, also ein Alleinherrscher. Wirklich allein hat allerdings noch niemand geherrscht – nicht Hitler, nicht Stalin, nicht Mao, nicht einmal Idi Amin und auch nicht Putin. Denn Putin sitzt nur in einem seiner Büros und erteilt Befehle. Selbst ausführen kann er sie ebenso wenig wie irgendein anderer Autokrat. Also ist er darauf angewiesen, dass seine Befehle von oben nach unten weitergeleitet und schließlich ausführt werden. Von ganz oben bis nach ganz unten sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie einmal nicht ausgeführt oder gar bewusst in ihr Gegenteil verkehrt werden. Warum? Ganz unten müssten zu viele ihre Befehlsverweigerung miteinander koordinieren, damit sie den Durchgriff des Diktators unterbinden können. Wer dennoch im Alleingang den Befehl verweigert, ist in der Regel verloren, sofern er sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringt. Daher werden Befehle auf der untersten Ebene fast immer ausgeführt. Einige spektakuläre Massen-Befehlsverweigerungen – zum Beispiel der deutsche Matrosenaufstand am Ende des Ersten Weltkriegs oder die russischen Massendesertionen ein Jahr zuvor – sind dennoch geschehen. Aber es ist bezeichnend, dass sie regelmäßig historisch geworden sind. Denn ihr Erfolg war nur ein Zeichen dafür, dass das gesamte Machtsystem bereits marode war.

Rücken wir weiter nach oben, sind es immer weniger, immer besser ausgebildete, immer besser informierte und immer einflussreichere Personen, die entscheiden müssen, ob sie einen Befehl ausführen oder nicht. Und ganz oben, direkt unterhalb eines Diktators, sind es noch eine Handvoll. Für jeden von ihnen ist es jederzeit sprichwörtlich überlebenswichtig, stets auf der richtigen Seite zu stehen. Das geht am besten nach der Regel: Führe deine Befehle aus, wenn du erwartest, dass auch die anderen sie ausführen; aber verweigere sie, wenn du erwartest, dass auch die anderen sie verweigern. Kippen die Erwartungen der Kommandeure über ihr gegenseitiges Verhalten, so kippt auch ihr Verhalten selbst.

Deshalb ist niemand für einen Autokraten gefährlicher als seine scheinbar treuesten Gefährten: die Kommandeure und Minister direkt unter ihm. Ein Autokrat muss daher Angst und Misstrauen zwischen ihnen säen, und wie das geht, konnte man am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem zweiten Ukraine-Überfall, beobachten, als Putin dem Chef des Auslandsgeheimdienstes, Sergei Naryschkin, öffentlich ein eindeutiges Bekenntnis zur diplomatischen Anerkennung der abtrünnigen Gebiete Donbass und Luhansk abnötigte. Selbst ein ausgesprochener Hardliner, fand sich Naryschkin wie ein beim Schwänzen erwischter Schuljunge von dem aggressiv fordernden Putin vorgeführt und ließ sich sichtlich gedemütigt und stotternd vor Angst dazu nötigen, jede denkbare Differenzierung aus seinem Bekenntnis zu eliminieren.

Vor wem hatte Naryschkin Angst? Gewiss nicht vor Putin, zumindest nicht unmittelbar, denn er und seine Leute hätten Putin physisch problemlos überwältigen können. Aber genau vor ihnen hatte er Angst, vor seinen Kommandeurskollegen und vor seinen unmittelbar Nachgeordneten; und sie wiederum vor ihm und vor allen anderen. Wem sollten sie gehorchen, wenn er ihnen befähle, Putin zu verhaften, und Putin ihnen befähle, ihn zu verhaften? „Die Macht wohnt dort, wo die Menschen glauben, dass sie wohnt,“ heißt es dazu treffend in der Spielfilmserie „A Game of Thrones.“ Solange alle unterhalb von Putin glauben, dass die Macht bei Putin liegt, liegt sie auch bei ihm. Dann bleibt ihre Angst voreinander dominierend, und das macht seinen Durchgriff stabil.

Aber wehe ihm, wenn seine Kommandeure erstens unzufrieden werden und zweitens Vertrauen zueinander fassen. Dann ist ihre Angst voreinander mit einem Schlag unbegründet. Es ist jedenfalls schwer vorstellbar, dass Naryschkin nach der Demütigung, die er von Putin erfahren hat, noch persönliche Loyalitätsgefühle gegenüber ihm hegt – und in diesem Punkt wird er nicht der einzige sein. Seine Loyalität kann also nur noch kalkuliert sein; und wenn das so ist, dann endet sie mit einer Änderung seiner Einschätzung über Putins Macht.

Das weiß Putin. Er weiß genau, dass die Gefahr einer Verschwörung gegen ihn seinem Handeln Grenzen setzt. Sie mögen weit gesetzt sein, sofern er hinreichend viel Misstrauen gesät und hinreichend undurchsichtige Strukturen geschaffen hat – und das hat er zweifellos. Aber beliebig weit sind auch Putins Grenzen nicht. Je größer die von den Kommandeuren persönlich zu erwartenden Verluste aus der Ausführung desaströser Befehle und je attraktiver die persönlichen Karriereperspektiven im Anschluss an einen möglichen Regimewechsel, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kommandeure ihr gegenseitiges Vertrauen austesten, dass sie es wagen, sich gegenseitige Vertrauensvorschüsse zu gewähren, und dass sie sich am Ende gar zu einer Verschwörung zusammenfinden. Das weiß Putin, und das wissen seine Kommandeure – und Putin weiß, dass seine Kommandeure es wissen.

Putin ist ein Spieler. Er spielt nicht nur mit seinen Kommandeuren und Ministern, sondern auch mit ausländischen Politikern, ob Freund oder Feind; und er spielt mit dem Schicksal von Millionen von Menschen, deren Tod und Leiden für ihn allenfalls instrumentelle Bedeutung vor dem Hintergrund seiner Ziele hat. Ihn interessiert auch nicht das Schicksal Russlands als Nation, obwohl das sein zentrales Propagandathema ist. Vielmehr ist auch Russland als Nation für ihn nur ein Instrument. Ökonomen würden sagen, es ist ein Input für die Produktion dessen, worauf es ihm eigentlich ankommt: die Überhöhung seines Egos. Sich zur historischen Figur zu machen, sich unsterblich zu machen, das ist sein Ziel. Auf einer Ebene zu stehen mit „den Großen“: Alexander, Karl und vor allem Peter; und wenn es dafür nicht reichen sollte, dann doch zumindest mit Stalin oder Hitler. Auch die infamen Autokraten sind schließlich unsterblich geworden – und infam waren auch die „Großen“ schließlich alle irgendwie.

Zu diesem Zweck spielt Putin mit seinen Kommandeuren, mit den Politikern der Welt und mit dem Schicksal von Millionen direkt oder indirekt betroffener Menschen, deren Leid ihm komplett egal ist und immer egal war. Jeder, der das sehen wollte, hätte es seit langem sehen können. In Deutschland wollten es nur wenige sehen, und jene, die es sahen – etwa Marieluise Beck, Norbert Röttgen oder die polnisch-amerikanische Historikerin Anne Appelbaum – standen in den deutschen Talkshows bis zum 24. Februar regelmäßig als ziemlich isolierte „Hardliner“ da.

Spieler gewinnen oder verlieren. Ein Spieler wie Putin, der viele Spiele gleichzeitig spielt, gewinnt mal hier und verliert mal dort. Aber seine Chancen in einem Spiel sind nicht unabhängig vom Ausgang anderer Spiele. So ist es für den Ausgang der Spiele mit seinen Kommandeuren nicht egal, ob er die Spiele gegen den Rest der Welt gewinnt oder verliert. Verliert er von diesen Spielen zu viele, dann sinken auch seine Gewinnchancen im Spiel mit seinen Kommandeuren. Denn mit jedem verlorenen Spiel sinkt deren Glaube an seine Macht und somit auch seine Macht selbst. Das weiß Putin, und das wissen seine Kommandeure – und Putin weiß, dass seine Kommandeure das wissen.

Putin wird von sich aus sein imperialistisches Spiel gegen seine Nachbarn niemals aufgeben. Persönlich kennt er keine Grenzen, darauf deutet zumindest alles hin. Solange seine Gewinnchancen gegenüber seinen Kommandeuren hinreichend hoch bleiben, sind ihm dabei auch von außen keine Grenzen gesetzt: keine für das Leid der betroffenen Menschen in aller Welt, keine für die Zukunft seines Landes, keine für Europa und keine für die Zukunft der Weltgemeinschaft. Es gibt nur eine Grenze, die er respektiert, denn es ist die einzige, die er respektieren muss: die Loyalität seiner Kommandeure. Sie endet dort, wo er den Bogen so weit spannt, dass es für sie zur aussichtsreichsten Option wird, das Risiko einzugehen, sich gegenseitig zu vertrauen. Allein hier liegt die Grenze seines Tuns. Es gibt keine andere.

Leider können wir über die Frage, wo diese Grenze erreicht ist, nicht sicher sein. Denn es ist unvorhersehbar, wann und unter welchen Bedingungen sich eine Gruppe wie die Kommandeure rund um Putin gegen ihren Oberkommandierenden verschwören. Auch Putin selbst kann das nicht vorhersehen. Er kann nur zusehen, einen hinreichend großen Sicherheitsabstand zu dieser Grenze zu halten. Es spricht vieles dafür, dass er mit einem Befehl zum Angriff auf NATO-Territorium die Grenze überschreiten würde. Denn das würde alle Invasions- und Expansionspläne zunichtemachen, inklusive seiner Karriere und die seiner Kommandeure – das gilt unabhängig von den Folgen, die es für uns hätte. Ob seine Kommandeure das also mitmachen würden, ist sehr fraglich.

Sicher wissen wir das natürlich nicht. Dennoch folgt aus alledem: Wenn es einen Weg zur Eindämmung Putins und einer Rückkehr zur Vernunft in Europa gibt, dann führt er über ganz persönliche Niederlagen Putins in seinen Spielen. Denn nur das schränkt seinen Handlungsspielraum ein. Es gehört zu den bitteren Einsichten, dass manche der entscheidenden persönlichen Niederlagen Putins nur auf dem Umweg über militärische Niederlagen der russischen Armee erlangt werden können – mit all den furchtbaren Verlusten an Menschenleben, die das auf beiden Seiten fordert.

Das ist für jeden zivilisierten Menschen kaum zu ertragen. Umso wichtiger ist es, dass wir alle uns offenstehenden Alternativen nutzen, um Putin auch jenseits militärischer Gewalt möglichst viele seiner Spiele verlieren zu lassen. Das Spiel mit den wirtschaftlichen Sanktionen hat er bislang leider gewonnen. Derzeit spielt er genüsslich mit unserer Angst vor einem Stopp der Gaslieferungen. Hierzu gehört, dass er den Gashahn nicht einfach zudreht, sondern uns erst einmal daran hindert, ein hinreichend großes Polster aufzubauen. Die so geschaffene Ausgangssituation kann er dann im Winter nutzen, um uns nach Belieben am langen Arm vertrocknen zu lassen – oder auch mal wieder ein wenig Gas durchzuleiten, um Politiker und Bevölkerung in möglichst viele streitende Lager zu spalten. Seine Kommandeure sind vermutlich jetzt schon davon beeindruckt, wie er den Westen mit seiner Gaspolitik am Nasenring durch die Manage führt. Das stärkt bei ihnen den Glauben an seine Macht und weitet darüber die Grenzen seines Handelns aus.

Zugleich spielt er damit auch ein ökonomisches Spiel. Denn die erzeugte Knappheit treibt die Preise wie in einem ganz gewöhnlichen Monopol in die Höhe und maximiert so seine Deviseneinnahmen. Zusammengenommen gehört dieses doppelte Spiel zu den entscheidenden Waffen Putins gegen den Westen. Dabei könnten wir Putin dieses Spiel mit einem Schlag verlieren lassen. Gas kann er nicht einfach umleiten und an andere Länder verkaufen. Ein Abnahmestopp würde einen Großteil seiner Gasfelder auf längere Zeit unbrauchbar machen. Daher wäre allein der ökonomische Verlust enorm, so dass er das ökonomische Spiel mit dem Gas von einem Tag zum nächsten verloren hätte. (Nebenbei bemerkt ist die häufig zu hörende Behauptung Unsinn, dass Sanktionen dann und nur dann erfolgreich seien, wenn sie dem Sanktionierten mehr ökonomischen Schaden zufügen als dem Sanktionierenden.)

Noch wichtiger ist, dass er damit auch das politische Spiel mit dem Gas persönlich verloren hätte. Wenn er den Westen mit Rohstoffen nicht mehr erpressen kann, und wenn seine militärischen Drohungen gegen den Westen leer sind, weil seine Kommandeure das nicht mitmachen würden, dann hat er zumindest gegenüber dem Westen nichts mehr in der Hand. Das wäre eine kapitale Niederlage des Spielers Putin. Diese Niederlage würden seine Kommandeure zur Kenntnis nehmen. Sie würden ihre Einschätzung über seine Macht massiv nach unten korrigieren. Und bevor er dann eine militärische Option gegenüber dem Westen zieht, die er politisch vermutlich nicht überleben würde und die selbst dann, wenn er sie politisch überleben würde, ganz sicher alle seine Großmachtpläne zunichtemachen würde, mag er dann doch ernsthaft an den Verhandlungstisch kommen.

Thomas Apolte
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Eine Antwort auf „Putin der Spieler“

  1. Realistische Analyse der Kalküle der relevanten Akteure

    Diese mikroökonomisch fundierte Analyse verdient weite Verbreitung und höchste Beachtung in den Medien und auch an den politischen Schaltstellen in Deutschland. Sie verabschiedet sich von manchem Wunschdenken, wie es sich selbst in einigen prominent veröffentlichten Beiträgen von vielbeachteten Wirtschaftswissenschaftlern in der Qualitätspresse, etwa in der Frankfurter Allgemeinem Zeitung, findet.

    Der Beitrag identifiziert die zentralen Kalküle bzw. Interessenlagen und setzt an den besonders relevanten Akteuren an. Er arbeitet anschließend spieltheoretisch inspiriert heraus, wie sich deren erwartete Handlungen so durch Änderungen ihrer Restriktionen beeinflussen lassen, dass tatsächlich zielführende Friedensverhandlungen sozusagen „auf Augenhöhe“ überhaupt erst ermöglicht werden, sodass es sich am Ende nicht um einen „Diktatfrieden“ ausgehend vom „System Putin“ handelt. Ein solcher Diktatfrieden könnte zwar kurzfristig Menschenleben retten (etwa auch von russischen Soldaten), würde jedoch keineswegs die Probleme mittel- und längerfristig lösen, sondern erhebliche Folgeprobleme wären dadurch sehr wahrscheinlich schon vorprogrammiert.

    Der Beitrag setzt sich folglich äußerst überzeugend von manchem noch immer grassierenden Überoptimismus ab, wonach sich die Probleme am Ende weitgehend ohne gewaltige Folgen für Deutschland und „den Westen“ insgesamt lösen lassen würden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der kurze Hinweis des Autors darauf, wie fragwürdig der Hinweis ist „dass Sanktionen dann und nur dann erfolgreich seien, wenn sie dem Sanktionierten mehr ökonomischen Schaden zufügen als dem Sanktionierenden“.

    Dieser noch immer weit verbreiteten Sichtweise fehlt offensichtlich der erforderliche intertemporale Bezug. Sie ist ist schon dadurch realitätsfern. Denn sie übersieht, welche Folgen eine Eskalation und Ausweitung der jetzigen schwierigen Situation durch weitere „Spezialoperationen Russlands“ haben würde, wenn das „System Putin“ sich nach einem von ihm bestimmtem einseitigen „Diktatfrieden“ eventuell wieder so erholen und etwa verlorene Kräfte in der Armee so stärken könnte, dass weitere von Russland ausgehende Aggressionen auf frühere Länder der Sowjetunion sehr wahrscheinlich zu erwarten wären.

    Dies hängt sicherlich auch davon ab, wie sich insbesondere China künftig zu Russland positionieren würde. Es ist auch dadurch stark beeinflusst, inwieweit andere Staaten, die Russlands ungerechtfertigten Krieg gegen die Ukraine nur bedingt als offensichtliches Unrecht anerkennen wollen, von der Aggression Russlands opportunistisch zu profitieren suchen. Solche Aspekte jedoch weitgehend zu ignorieren, wie es manche Sanktionskritiker bedauerlicherweise nicht selten tun, erscheint durch nichts gerechtfertigt.

    Fazit: Die in dem sehr lesenswerten Beitrag von Thomas Apolte erfolgte Prüfung der Kalküle der handelnden Akteure wäre schon lange vor dem 24. Februar durch die hierzulande politisch Handelnden bzw. durch deren Berater vonnöten gewesen. Herausragend, dass Professor Apolte mit diesem Aufsatz nun einen wesentlichen Kern des Problems offengelegt hat.

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