Der Universalismus und die Zukunft des Westens

Der Universalismus ist nicht allein eine rechtliche Grundlage unserer freiheitlichen politischen und ökonomischen Ordnung. Vielmehr steckt hinter ihm eine über viele Jahrhunderte gewachsene Kultur, welche sich aber erst seit dem beginnenden 19. Jahrhundert zu der Kombination von liberalen, demokratischen und marktwirtschaftlichen Grundsätzen zusammenfügte, die unsere freiheitlichen Demokratien heute ermöglichen. Das war ein großer Glücksfall für die Menschen, die heute in ihnen leben dürfen. Die sich seit gut zwei Jahrzehnten verdichtenden identitätspolitischen Angriffe auf den Universalismus setzen alles das aufs Spiel, auf der rechten Seite aus Böswilligkeit und auf der linken Seite aus einer Uneinsichtigkeit, die sich mit gesellschaftlichem Fortschritt verwechselt.

1 Der selbstsüchtige Homo Oeconomicus: ein westliches Biest?

Wir alle kennen Erzählungen von fernen indigenen Völkern, die weder Geld noch Eigentum kennen und die (vermeintlich) gerade deshalb friedlich miteinander kooperieren statt zu konkurrieren und zugleich ihre natürliche Umwelt respektieren und schützen, statt sie auszubeuten und zu zerstören. Dem stehen unsere kapitalistischen westlichen Gesellschaften gegenüber, in denen die Menschen nach Geld und Eigentum streben, sich (vermeintlich) gerade deshalb untereinander egoistisch und kompetitiv statt kooperativ verhalten und dabei ihre natürliche Umwelt ausbeuten und zerstören, statt sie zu respektieren und zu schützen.

In der Wissenschaft hat sich eine Vielzahl von experimentellen Verfahren entwickelt, mit denen man testen kann, unter welchen Bedingungen Menschen sich kooperativ verhalten und unter welchen egoistisch. Ein Standardexperiment hierzu ist das Ultimatumspiel. In diesem Experiment gibt es einen Spielleiter und zwei Probanden. Der erste Proband ist der „Sender“, und der zweite ist der „Empfänger“. Der Spielleiter bietet dem Sender eine Summe Geld (z.B. 100 €) an, die die beiden Probanden unter der Bedingung behalten dürfen, dass sie sich auf die Verteilung der Summe zwischen den beiden Spielern einigen. Der weitere Verlauf ist einfach: Der Sender bietet dem Empfänger einen Anteil an der Summe, und der Empfänger akzeptiert diese Summe oder lehnt sie ab. Akzeptiert der Empfänger, erhält jeder den vom Sender vorgeschlagenen Anteil an der Summe. Lehnt der Empfänger ab, bekommen beide nichts. Dabei bleiben die Probanden anonym: Sie wissen nicht, wer der andere ist, sie kommunizieren nur indirekt über den Spielleiter miteinander, und auch das nur ein einziges Mal.

Völlig rational und egoistisch handelnde Menschen hätten in einer solchen Situation eine eindeutige optimale Strategie: Der Sender würde dem Empfänger den kleinstmöglichen Betrag anbieten, und der Empfänger würde das akzeptieren. Wenn der kleinstmögliche Betrag ein Euro wäre, bekäme der Sender im Ergebnis 99 € und der Empfänger einen Euro. Warum das so ist, muss man „rückwärts“ lesen: Der Empfänger will ebenso wie der Sender einen größtmöglichen Betrag erhalten. Er hat dabei immer nur die Wahl zwischen dem Betrag, der ihm geboten wurde – also mindestens einem Euro – und nichts. Also wird er jedes Gebot akzeptieren, und wenn es nur ein Euro ist. Schließlich ist ein Euro mehr als nichts. Weil der Sender das weiß und wiederum so viel wie möglich für sich behalten möchte, wird er ihm den kleinstmöglichen Betrag anbieten.

Das ist völlig logisch, aber es schlägt sich nicht in den Anwendungen des Experiments nieder, denn dort bieten die Sender regelmäßig wesentlich mehr als die Mindestsumme. Das war lange bekannt (Güth/Schmittberger/Schwarze 1982), als der amerikanische Anthropologe Joseph Henrich (2000) im Jahr 2000 das Ultimatumspiel einmal nicht mit den üblichen Probanden aus der entwickelten westlichen Welt, sondern mit solchen aus einer fernen indigenen Gruppe testete, und zwar solche aus dem Kreis der Machiguenga im Peruanischen Amazonasgebiet. Um auszuschließen, dass das Ergebnis von Einkommensunterschieden getrieben wird, passte er die vom Spielleiter gebotenen Summen an das jeweilige Einkommensniveau an.

Folgen wir nun den Erzählungen am Anfang dieses Artikels, so sollten wir erwarten, dass das Ultimatumspiel bei den Mechiguenga mit einer faireren Verteilung der zu verteilenden Summe ausging als bei den Probanden aus der egoistischen westlichen Welt. Erstaunlicherweise war es genau umgekehrt. Während die Gebote der Sender aus unterschiedlichen westlichen Ländern regelmäßig knapp unter 50 Prozent und damit ziemlich fair – gemessen an der Gleichverteilung – ausfielen, waren sie bei den Machiguenga sehr deutlich und statistisch signifikant kleiner. In Tests in Los Angeles lagen die Gebote im Mittel bei 48 Prozent, in Tucson bei 44 Prozent und in Tokio bei 45 Prozent. Dagegen lagen sie bei den Machiguenga bei gerade einmal 26 Prozent. Außerdem akzeptierten die Empfänger dort annähernd jedes noch so kleine Angebot, während als unfair erachtete Angebote in westlichen Staaten häufig abgelehnt wurden. Was Henrich dabei am meisten erstaunte, war, dass die Empfänger bei den Machiguenga auch kleinste Gebote nicht als unfair betrachteten, sondern es als völlig natürlich empfanden, dass der Sender den größten Anteil für sich behalten wollte.

Nun könnte man kritisieren, dass dies gerade einmal eine einzige Studie innerhalb eines indigenen Volks war, so dass das alles ein Zufallsfund sei. Henrich und seine Koautoren verfolgten die Sache daher weiter und testeten die Ergebnisse in umfangreicheren Untersuchungen vor verschiedenen ethnischen Hintergründen. Die Ergebnisse bestätigen nicht nur regelmäßig den ursprünglichen Befund, sondern sie dürften recht enttäuschend für alle ausfallen, die an die moralzersetzende Wirkung des westlichen Lebensstils und vor allem an jene von marktwirtschaftlichen Beziehungen glauben. Denn Henrich und seine Koautoren haben eine Variable „Marktbeziehungen“ definiert und dort gemessen, welchen Anteil an den verbrauchten Gütern in dem jeweiligen Umfeld durchschnittlich über Märkte statt über eigene oder kooperative Produktion bezogen wurden (Henrich; et al. 2010).

Das Ergebnis war, dass die vom Sender angebotenen Anteile umso größer waren, je intensiver die Marktbeziehungen in dem Umfeld der Probanden waren, in dem sie lebten. Menschen in wenig arbeitsteiligen Gesellschaften mit wenig ausgeprägten Marktbeziehungen verhielten sich demnach – gemessen an der Gleichverteilung – weniger fair als solche in kapitalistischen Marktwirtschaften. Wäre das nicht ein steriles empirisches Ergebnis, könnte man es leicht als Provokation empfinden.

2 Freiheit und Kooperation

Aus diesen Ergebnissen zu schließen, dass sich Menschen in anderen als den westlich geprägten Marktwirtschaften weniger moralisch verhielten, wäre allerdings ein Kurzschluss. Der Schlüssel zur Auflösung des Puzzles liegt in der Anonymität der Probanden. Keiner hat eine Ahnung, mit (oder gegen) wen er antritt. Dies deutet darauf hin, dass sich die Machiguenga ebenso wie Angehörige anderer nicht-westlicher Gesellschaften nicht etwa weniger kooperativ und moralisch verhalten als jene aus der westlichen Welt. Worauf es vielmehr weist, ist, dass sie nach Kriterien kooperieren, welche anderen als unseren westlichen Maßstäben für moralisches Verhalten folgen.

Vielleicht müsste man besser umgekehrt sagen, dass sich im Westen Maßstäbe für moralisches Verhalten entwickelt haben, die markant von allem abweichen, was über die längste Zeit menschlicher Existenz an den allermeisten Orten der Welt üblich war. Dieser Vermutung folgend, charakterisierte Henrich uns westliche Menschen mit Hilfe des Akronyms WEIRD, also seltsam oder merkwürdig, wobei WEIRD etwas gestelzt für „Western, Educated, Industrialized, Rich Democrats“ steht (Henrich 2010).

Kooperation in Gesellschaften, die anders als unsere westlichen Gesellschaften nicht WEIRD sind, funktioniert nämlich nicht anonym, sondern ist auf ein vertrautes und größenmäßig überschaubares Gruppenverhältnis angewiesen. Solche Gruppen dominierten das menschliche Zusammenleben über den größten Teil der menschlichen Existenz an den meisten Orten der Welt. Vielleicht erstaunlich ist, dass der Verwandtschaftsgrad in den Gruppen groß war, weil das Tabu von Heirat und Fortpflanzung unter Verwandten bis einschließlich Cousinen und Cousins ebenfalls eine westliche Erfindung und damit genau genommen auch ziemlich WEIRD ist.

In solchen Gruppen gibt es regelmäßig klar definierte Rollenzuweisungen und Verhaltensmaßstäbe, die mit empfindlichen Sanktionen erzwungen werden. Das so geprägte Verhalten wird nicht genetisch vererbt, sondern in einem frühen Stadium des Lebens erlernt, und es schnürt die Gruppenmitglieder in ein enges Korsett von Verhaltensregeln, Riten und Gebräuchen. Jeder kooperiert auf diese Weise in seinem Korsett mit den jeweils anderen Menschen innerhalb der jeweiligen Gruppe, gegenüber denen sie sich im Ergebnis alle in hohem Maße loyal verhalten. Zur Kooperation gegenüber anonymen Outsidern haben sie dagegen gar keinen Anlass, denn dafür gibt es keine Regeln – und weil auch diese Outsider gegenüber den Insidern keine Regeln kennen, kann man von ihnen keine Kooperation erwarten. Gegenüber Outsidern verhält man sich daher nicht-kooperativ und im Zweifel durchaus auch aggressiv. Dazu würde passen, dass man sich im Ultimatumspiel unbekannten Personen gegenüber ausgerechnet wie der von WEIRDen westlichen Denkern erfundene Homo Oeconomicus verhält, der als Sender möglichst wenig bietet und als Empfänger jede noch so kleine Summe akzeptiert.

Mit der Auflösung solcher Gruppenstrukturen mitsamt ihrer meist engen Verwandtschaftsgrade ist in der westlichen Welt die gruppenorientierte Moral nach und nach ausgehöhlt worden. Rollenzuweisungen wurden immer weniger akzeptiert, Gruppensolidarität infrage gestellt und stattdessen wurden Freiheit und individuelle Lebensentwürfe bedeutender. Alles das ist ein Prozess, der zwar eine lange Vorgeschichte hat, der aber erst vor relativ kurzer Zeit begann, wirkmächtig zu werden und unsere heutige liberal-individualistische westliche Welt zu formen. Mindestens die etwas Älteren von uns kennen noch Relikte des Korsetts aus Rollenzuweisungen, funktional wenig nachvollziehbaren Verhaltensregeln und Riten aus persönlicher Erfahrung. In jedem Fall hinterließ deren Erosion eine Art Kooperationslücke, und in diese Lücke hinein hat sich eine Form von Kooperation herausgebildet, welche nicht auf der Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe fußt, sondern auf der Loyalität gegenüber abstrakten Regeln, welche für alle Menschen gleichermaßen Gültigkeit besitzen und alle Menschen gleichermaßen vor Übergriffen schützen sowie zur Einhaltung von Absprachen (pacta sunt servanda!) drängen. Solche Regeln einzuhalten, kostet die Individuen allerdings meist etwas, und wenn das so ist, entsteht ein Anreiz zum Trittbrettfahren: Man profitiert, wenn alle anderen die Regeln befolgen, man selbst aber nicht.

Vor diesem Hintergrund ist es eigentlich erstaunlich, dass diese Regeln auf den unterschiedlichsten Ebenen unserer Gesellschaft meist respektiert werden, und das gilt umso mehr, als wir ja in der vermeintlich systematisch egoistischen westlichen Welt leben. Schon das deutet darauf hin, dass wir in der WEIRDen westlichen Welt in der Tat andere Formen der Kooperation entwickelt haben als die rollenorientierten Formen in den nicht-westlichen Gesellschaften. Die Ergebnisse des Ultimatumspiels würden jedenfalls dazu passen. Denn entweder bieten die Sender in den westlichen Staaten aus eigenem moralischen Empfinden heraus regelmäßig annähernd 50 Prozent, oder sie fürchten, dass die Empfänger bereit sein könnten, ein unfaires Angebot durch Ablehnung zu bestrafen. In jedem Fall gibt es hier Mechanismen, die moralisches und kooperatives Verhalten erzeugen, denn auch ein Empfänger, der ein zu niedriges Angebot bestraft, verhält sich moralisch, weil er mit seiner Strafaktion dazu beiträgt, Regeltreue zu erzwingen, und dies mit einem Verzicht auf das – wenn auch kleine – Angebot bezahlen muss. Ein egoistischer Nutzenmaximierer reinsten Wassers würde das nicht tun. Denn er begegnet seinem Spielkontrahenten ja nie wieder.

Solche Art moralischen Verhaltens finden wir in der Realität unserer westlichen Welt an allen Ecken und Enden. Ein paar Beispiele: Es ist für die allermeisten von uns auch ohne Strafgesetzbuch selbstverständlich, dass wir anderer Menschen Leben und Eigentum respektieren und nicht jedwede Schwäche oder Hilflosigkeit ausnutzen, um sie zu bestehlen oder zu berauben. Es ist sogar so selbstverständlich, dass uns das Gegenteil recht merkwürdig vorkommt – was es aber nicht ist, wie ein genauerer Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Menschen zeigt (Pinker 2011). Es geht weiter: Menschen bezahlen ihre Rechnung auch in einem Restaurant, das sie nie wieder betreten werden und das sie problemlos unerkannt verlassen könnten. Das Gleiche tun sie an Tankstellen, in Supermärkten und anderswo. Dienstleister liefern – nicht immer, aber doch oft – selbst dann hohe Qualität ab, wenn geringere Qualität für sie kostengünstiger wäre und sie dadurch keine Reputationsverluste erleiden würden. Schließlich respektieren die meisten Politiker die Regeln demokratischer Verfahren, auch wenn es für sie günstiger wäre, dies nicht zu tun. Unsere westliche Welt ist voll von solchen Formen der Kooperation, obwohl sie scheinbar unerklärlich sind, weil sie optimalen Strategien in spieltheoretischen Zusammenhängen widersprechen, worüber sich übrigens keineswegs allein Ökonomen wundern, sondern in mindestens gleicher Weise Evolutionsbiologen, Psychologen und Anthropologen. Zugleich sind solche Formen der Kooperation ein unerlässlicher Baustein unserer anonymen Großgesellschaften. Man kooperiert anonym, obwohl jeder einzelne ohne Kooperation besser dastehen würde und mitunter nicht einmal eine Ahnung hat, mit wem er kooperiert.

Natürlich funktioniert das keineswegs immer, und wenn es nicht durch gesetzliche Regeln flankiert wäre, würde es sicher schnell erodieren. Damit die aber funktionieren, müssen sich wiederum möglichst alle an die gesetzlichen Regeln halten; und dass die Menschen das so weitgehend tun, folgt nicht allein daraus, dass diese Regeln geschrieben stehen. Vielmehr liegt es daran, dass es vom normalen Bürger über die Polizisten bis hin zu Staatsanwälten und Richtern akzeptiert ist, dass jeder von ihnen diesen Regeln auch dann noch folgt sowie sie praktisch anwendet und durchsetzt, wenn dies im Einzelfall für einen von ihnen einmal unvorteilhaft ist.

Es ist richtig, dass regeltreues Verhalten auch auf dieser höheren Ebene nicht ohne Ausnahmen funktioniert. Aber die Tatsache, dass Zuwiderhandlungen und Nicht-Kooperation allgemein verurteilt werden, zeigt allein schon, dass sich hier ganz spezifische Maßstäbe für moralisches Verhalten herausgebildet haben, die ebenso erlernt sind wie jene in nicht-westlichen Gesellschaften.

Wichtig dabei ist, dass diese spezifische Moral eine Loyalität erzeugt, welche sich nicht auf die eigene Bezugsgruppe richtet, sondern auf verallgemeinerbare Regeln, welche abstrakt formuliert sind und idealerweise für alle Menschen gleichermaßen gelten. Deshalb sind sie die Grundlage dessen, was wir heute den Universalismus nennen.

3 Die neue Kritik am Universalismus

Der Universalismus hat weitestreichende Konsequenzen für unser Zusammenleben, denn er allein erlaubt die Vereinbarung von Freiheit und Kooperation. Daher gedeiht auf seiner Grundlage ein freiheitliches und zugleich friedliches, tolerantes und demokratisches Miteinander in anonymem Großgesellschaften, in der jeder nach seiner Façon glücklich werden kann und jedes Individuum die gleichen Rechte hat, die wiederum im Großen und Ganzen von allen respektiert werden. Zudem ist er die Grundlage für anonyme Märkte, welche in der Folge Wohlstand, eine hohe Lebenserwartung und eine hohe Lebensqualität erzeugen.

Nicht weniger als alles das hat uns der Universalismus beschert. Daher galt er lange ganz selbstverständlich als Richtschnur für die Entwicklung sowie den Erhalt von Freiheit, Gleichheit, Selbstverwirklichung und Demokratie. Die großen Vordenker von Demokratie und Liberalismus hatten das früh erkannt und daraus ihre Empfehlungen für eine freiheitliche Verfassung und deren Rechtsordnung entwickelt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sie selbst wohl nur Teil der historischen Herausbildung des Universalismus waren und vermutlich auch nur deshalb zur rechten Zeit auf die rechten Ideen gekommen sind.

Inzwischen ist das alles aber nicht mehr selbstverständlich. Dass der Universalismus die unverzichtbare Grundlage für eine freie, tolerante und demokratische Gesellschaft sei, wird zunehmend in Zweifel gezogen. Nicht wenigen kritischen Geistern ist der Universalismus gar zu einem Relikt vergangener Zeiten verkommen. Das trägt erheblich zu den derzeitigen Polarisierungstendenzen bei. An Universitäten, in Feuilletons, Kultursendungen und Büchern äußern sich Protagonisten, die sich stets entweder als Identitätspolitiker oder als Universalisten verstehen, so als sei die Frage, unter welchem Regime eine freiheitliche Gesellschaft gedeiht, völlig offen; und weil die Identitätspolitik in vielen Zirkeln inzwischen mit erheblicher moralischer Wucht dominiert, gefallen sich manche, die den Universalismus nicht ganz aufgeben wollen, als Vermittler zwischen beiden Positionen, indem sie von jeder etwas beimischen. Als ob es ein bisschen Universalismus geben könne.

Wie konnte das geschehen? Kurz gesagt geriet der Universalismus unter Verruf, weil es nicht mit ihm vereinbar ist, aus einem gesellschaftlichen Diskurs heraus bestimmte Gruppen der Bevölkerung herauszuheben und gegenüber anderen zu bevorzugen, immer mit dem Ziel, wie immer definierte gesellschaftliche Verhältnisse zu gestalten. Genau das ist aber der Kern von Identitätspolitik. Mit ihrer Hilfe versucht man vor allem, die Veränderungsprozesse in der Zusammensetzung bestimmter Gruppen, welche sich durch die Überwindung von bestehenden Diskriminierungen ergeben, abzukürzen. In gewisser Weise ist das verständlich. Aber es funktioniert nur durch bewusste Diskriminierung neuer Art, und zudem beseitigt es auch nicht die Ursachen noch bestehender Diskriminierung, geht also nicht an die Wurzeln des Problems.

Statt aber an die Wurzel der Diskriminierung zu gehen, läuft Identitätspolitik darauf hinaus, die Zusammensetzung verschiedenster Gruppen und Teams unterschiedlichster Kriterien wie Geschlecht, Hausfarbe, Nationalität und sexuelle Orientierung zu unterwerfen und im Anschluss aktiv zu gestalten. Auf diese Weise werden Gruppenverhältnisse und Identitäten zwangsläufig konfliktträchtig politisiert. Ebenso zwangsläufig wird eine diskriminierungsfreie Politik gegenüber allen Individuen unmöglich gemacht. Je nach identitätspolitischer Variante werden zudem bestimmte Positionen allein Angehörigen bestimmter Gruppen vorbehalten, weil aufgrund von Geschichte, Kultur oder anderer beliebiger Kriterien allein sie legitimiert seien, dieses oder jenes zu tun. In der Folge muss daraus ein undurchdringliches Geflecht an Vorrechten und Verboten stehen, welches die Idee universeller Rechte nach und nach aushöhlt und das Ziel der Diskriminierungsfreiheit ad absurdum führt. Dennoch halten Identitätspolitiker eine solche aktive Gestaltung von Gruppenproportionen für fortschrittlich.

4 Die identitätspolitische Fortschrittsillusion

Man muss nicht konservativ sein, um zu erkennen, dass nicht alles Neue ein Fortschritt ist. Fortschritt findet vielmehr in einem Umfeld statt, in dem viele neue Ideen entstehen, von denen naturgemäß die meisten schlecht und nur einige gut sind. Daher bedarf es eines Mechanismus‘, der die schlechten Ideen aussortiert und den guten Raum gibt. Wird dieser Mechanismus gehemmt oder unter Verweis auf seine vermeintliche Fortschrittsfeindlichkeit außer Kraft gesetzt, setzt sich zwar viel Neues, aber nur selten Gutes durch.

In diesem Sinne läge der wirkliche Fortschritt in der Einsicht, dass die derzeit so populäre Abkehr vom Universalismus keine gute Idee ist. Bei Licht betrachtet ist sie nicht einmal neu, sondern vielmehr getränkt von der ziemlich gestrigen Romantisierung einer Gruppenmoral, die, wenn man ihr konsequent folgte, zurück in starre Rollenzuweisungen und eine verminderte Selbstbestimmung in Verbindung mit der Ausgrenzung von Gruppenfremden führen würde. Das wiedererweckt gerade jene archaischen Neigungen in uns Menschen, die wir durch die Antidiskriminierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte weitgehend überwunden glaubten. Erste Anzeichen dazu sieht man schon. Man mag es für übertrieben halten, wenn sich so genannte „alte weiße Männer“ über ihre „Markierung“ als solche beleidigt zeigen. Aber es geht nicht darum, ob jemand beleidigt ist, der bislang mit großer Wahrscheinlichkeit – allerdings keineswegs sicher (!) – auf der Sonnenseite des Lebens stand. Es muss vielmehr völlig unabhängig von der jeweiligen Gruppe um die Frage gehen, ob wir allen Ernstes wieder damit anfangen wollen, Zugehörigen politisch definierter Gruppen bestimmte Stigmata anzuhängen, nur, weil es so aussieht, als ob das fortschrittlich sei. Wer die Antwort darauf von der infrage stehenden Gruppe abhängig macht, hat sich bereits aus der universalistischen Ethik verabschiedet, und das sind leider nicht wenige, wie die oft fröhliche Unbekümmertheit zeigt, mit der auf die „leidglich beleidigten“ alten weißen Männer verwiesen wird.

Die rhetorischen Grundlagen für die Unterscheidung zwischen erwünschter und unerwünschter Diskriminierung sind mit solchen „Markierungen“ jedenfalls gelegt, und das wirft die Frage auf, wer das Definitionsrecht für die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen hat und wer welche Rechte mit welcher Gruppenzugehörigkeit verknüpfen darf. Demokratisch lässt sich so etwas jedenfalls nicht entscheiden, denn es würde nicht allein realweltliche demokratische Prozesse hoffnungslos überfordern, sondern bereits vorher an logischen Unmöglichkeiten scheitern. Allein deshalb kann eine Abkehr vom Universalismus weder in größerer Gerechtigkeit, noch in mehr Toleranz und Freiheit münden; und da reden wir noch gar nicht von den Segnungen von Marktwirtschaft und Wohlstand.

Ob die anti-universalistischen Strömungen der jüngsten Zeit in der Lage sein werden, die viele Jahrhunderte währende kulturelle Evolution hin zur universalistischen Moral umzukehren, ist natürlich fraglich, und das ist erst einmal eine gute Nachricht. Aber die universalistische Moral allein sichert keine freiheitliche Gesellschaft, wenn sie nicht mit universalistischen politischen Institutionen zusammenwirken kann. Letztere infrage zu stellen, ist auch deshalb gefährlich, weil selbst linke Identitätspolitik damit ungewollt den Weg für rechte Populisten ebnen kann. Tatsächlich haben wir im Westen bereits genug Politiker, die die Erosion der Idee universeller Regeln aufgreifen, indem sie jene der gewaltenteiligen Demokratie unter erschreckend großem Applaus verhöhnen und als Verschwörung dunkler Mächte umdeuten. Ebenso reichlich haben wir bereits Wähler, die von linken Identitätspolitikern vom Universalismus weggelockt wurden und nun zu rechten Bauernfängern und deren Parteien überlaufen. Alles das sind keine guten Zeichen, und ob man es hören möchte oder nicht, so stehen sie doch ganz sicher in einem Zusammenhang mit den Abkehrtendenzen vom Universalismus.

Es war im Westen immer üblich, Selbstkritik an der westlichen Lebensweise zu üben, manchmal bis zur Grenze der Selbstaufgabe. Und das ist gut so, es ist sogar ein elementarer Bestandteil unserer Kultur und eine wesentliche Stärke unserer Gesellschaften. Aber Kritik muss immer an einem Kriterium ausgerichtet sein, an dem man messen kann, wer sich kritikwürdig verhält und wer nicht. Statt aber unsere universalistischen Kriterien selbst infrage zu stellen, sollten wir uns im Westen kritisch fragen, wo wir diese Kriterien (immer) noch nicht erfüllen. Damit hätten wir allemal genug zu tun.

Literatur

Güth, Werner; Rolf Schmittberger, Bernd Schwarze (1982), An Experimental Analysis of Ultimatum Bargaining, Journal of Economic Behavior & Organization3, S. 367–388.

Henrich, Joseph (2000), Does Culture Matter in Economic Behavior? Ultimatum Game Bargaining Among the Machiguenga of the Peruvian Amazon, American Economic Review 90, S. 973-979.

Henrich, Joseph (2010), The Weirdest People in the World, Behavioral and Brain Science 33, 61–135.

Henrich, Joseph; et al. (2010), Markets, Religion, Community Size, and the Evolution of Fairness and Punishment, Science 327, 19.03.2020, S. 1480-1484.

Pinker, Steven (2011), Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt am Main: Fischer.

Thomas Apolte
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