Gastbeitrag
WTO-Erweiterung: Mehr Freiheit im Welthandel ?

Nach den Beitritten von Montenegro (29. April 2012) und Samoa (10. Mai 2012) wurde am 22. August 2012 Russland 156. Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO). Damit haben die längsten Beitrittsverhandlungen in der Geschichte von GATT/WTO nach, sage und schreibe, 18 Jahren ihr Ziel erreicht. Mit dem Beitritt Russlands hat das WTO-Abkommen von 1995 als Rechtsnachfolger des GATT eine nahezu universale Reichweite. Der beitretende Staat unterwirft sich den Regeln und Verpflichtungen, die die Grundlage eines offenen, transparenten und nicht diskriminierenden Handelssystems bilden.

Offenheit meint Öffnung des heimischen Marktes für ausländische Anbieter durch Abbau von Importhemmnissen. Transparenz wird durch die jährliche Berichtspflicht aller Mitglieder erreicht, mit der sie ihre Handelspolitik und damit den Grad der Marktöffnung offenlegen müssen. Nichtdiskriminierung fordert die Gleichbehandlung aller ausländischen Anbieter gleichartiger Waren oder Dienstleistungen, so dass bei einer nach Ursprungsländern differenzierten Handelspolitik die am meisten begünstigende, d.h. die den Marktzugang am weitesten öffnende Politik auf alle ausländische Lieferanten gleichartiger Exportgüter angewendet werden muss (Meistbegünstigungsprinzip, MFN: Most Favoured  Nation Clause). Nach Ursprungsländern differenzierte Einfuhrzölle müssen damit auf dem Niveau des jeweils niedrigsten Zolls (MFN-Zoll) harmonisiert werden. Nichtdiskriminierung erfordert aber auch, dass ausländische Anbieter im heimischen Markt wirtschaftspolitisch (z.B. steuerpolitisch) nicht schlechter als die inländischen Konkurrenzanbieter behandelt werden (Prinzip der Inländerbehandlung).

Die Marktöffnungsregel bedeutet noch nicht die Durchsetzung von Handelsliberalisierung. Sie ist eher eine Absichtserklärung, mit der sich die WTO-Mitglieder verpflichten, sich in multilateralen (also alle Mitgliedstaaten mit jeweils einer Stimme einbeziehenden) Verhandlungsrunden um gegenseitige Marktzugangsöffnungen zu bemühen. Auch die Meistbegünstigungsklausel stellt noch keine Handelsliberalisierung sicher, sondern setzt Liberalisierungsschritte voraus, die dann auch für alle Exporteure in WTO-Mitgliedsstaaten gelten müssen. Lediglich wenn vor dem Beitritt eine das Meistbegünstigungsprinzip verletzende Handelspolitik betrieben wurde, hat die Meistbegünstigungsverpflichtung eine Märkte  öffnende Wirkung für die bisher diskriminierten ausländischen Exportanbieter Für Russland werden also dort Exportmärkte geöffnet, wo es vor dem WTO-Beitritt mit Importzöllen konfrontiert war, die über dem für Mitglieder geltenden MFN-Zoll lagen. Produzenten in den bisherigen WTO-Mitgliedsstaaten, die als Exporteure gleichartiger Waren von der russischen Handelspolitik diskriminiert wurden, profitieren von der Senkung der russischen Zölle auf MFN-Niveau.

Konkrete Marktöffnungsschritte ergeben sich aus der Beitrittsvereinbarung. Importzölle sollen von einem aktuellen Durchschnittswert von ca. 10% auf 7,8% gesenkt werden. Im Industriegüterhandel soll das russische Zollniveau von 9,5% auf 7.3%, im Agrargüterhandel  von 13,2% auf 10,8% gesenkt werden. Hierfür sind zum Teil sehr lange Implementierungszeiträume vorgesehen, z.B. für Autos und zivile Luftfahrt 7 Jahre. Auch nach Implementierung dieser Handelsreformen liegt die tarifäre Agrarprotektion in Russland über dem Durchschnitt aller Zölle, aber unter dem EU-Durchschnittszoll im Agrarbereich und weit über dem EU-Durchschnitt im Industriesektor Offen bleibt, ob die geplanten Zollsenkungen auf Basis von einfachen oder handelsgewichteten Mittelwerten berechnet werden. Ersteres böte Anreize, bei Gütern mit hohen Importgewichten die Zölle nur wenig, bei solchen mit niedrigen Importgewichten die Zölle entsprechend stärker zu senken. Die Erfüllung der Beitrittsvereinbarung könnte dann mit einer relativ bescheidenen Marktöffnung erreicht werden.

Es gibt aber auch  „Ausreißer“. Im Industriegüterhandel erfreuen sich der Automobilbau und die Herstellung ziviler Luftfahrzeuge in Russland hoher tarifärer Protektion, die in sieben Jahren von 15% auf 12% reduziert werden soll. Im Agrargüterhandel wird der relativ hohe Zollschutz der heimischen Milchproduktion von ca. 20%  auf 15% gesenkt. Es zeichnet sich ab, dass Russland nach dem Beitritt die Zollsätze um 20-25% senken und die Geschwindigkeit der Marktöffnung selbst bestimmen wird.

Im internationalen Dienstleistungshandel (Transport, Kommunikation, Beratung, Banken, Versicherungen, Tourismus), dem Geltungsbereich des Allgemeinen Dienstleistungsabkommens (GATS), ist Russland für elf Dienstleistungs-sektoren Verpflichtungen eingegangen. Das Ausmaß der Marktöffnung bleibt jedoch enttäuschend. So dürfen ausländische Versicherungsunternehmen in Russland Zweigstellen eröffnen. Dieses gilt aber erst ab 2021. Sie müssen also noch neun Jahre darauf warten. Dafür wird die Begrenzung der ausländischen Kapitalbeteiligung  an einem Gemeinschaftsunternehmen auf maximal 49% innerhalb von 3 Jahren nach Beitritt aufgehoben.

Ein auch mit der WTO-Erweiterung nicht gelöstes altes Problem stellen nichttarifäre Handelsrestriktionen dar, in die Mitgliedsstaaten ausweichen können. Es handelt sich hierbei um handelspolitische Maßnahmen und Regulierungen, die ähnlich wie Zölle oder Subventionen handelsverzerrende (Exporte fördernde oder Importe verdrängende) Wirkungen dadurch entfalten, dass sie die Exportkosten ausländischer Hersteller erhöhen und für inländische Exportproduzenten senken oder ausländische Konkurrenten mit arkteintrittsschranken behindern. Im Unterschied zur tarifären Protektion sind diese Maßnahmen weniger transparent, schwieriger messbar und kontrollierbar sowie mit Gesundheits-, Tier- und Pflanzenschutz legitimierbar, wenn der wissenschaftliche Nachweis vorliegt, dass importierte Waren diese sicherheits-, gesundheits- und mweltpolitischen Standards des Einfuhrlandes verletzen. Zu Recht besteht die WTO auf diesem Filter, der legitime Handelsrestriktionen von jenen Interventionen trennen soll, die unter dem Deckmantel gesundheits- und umweltpolitischer Ziele die Protektionsinteressen heimischer Produzenten bedienen. Da auch wissenschaftliche Nachweise oft umstritten sind, ist zweifelhaft, ob damit die protektionistische Spreu vom handelskompatiblen Weizen getrennt werden kann. Diese ungelösten Probleme stehen im Zentrum des World Trade Report 2012, den die WTO unter dem programmatischen Titel „Looking beyond international cooperation on tariffs“ herausgibt.

Solange diese Problematik des vielgestaltigen nicht-tarifären Protektionismus nicht gelöst ist, bleiben den WTO-Mitgliedsstaaten immer Möglichkeiten offen, tarifäre durch nicht-tarifäre Restriktionen zu substituieren. An dieser Rechtslage ändert auch der WTO-Beitritt Russlands nichts. Beitretende Staaten bringt die WTO selbst bei nahezu hundertprozentiger Zollbindung und trotz Verbot von quantitativen Importrestriktionen nicht auf eine Einbahnstraße in Richtung Freihandel, da Importzölle zum Ausgleich von Dumping oder Subventionierung ausländischer Anbieter (Art. 6 GATT) oder zum Abbremsen eines zu schnellen und zu starken Anstiegs der Einfuhr bestimmter Güter (Art. 19 GATT) zeitlich befristet eingesetzt werden können. Die besondere Problematik der Artikel 6 und 19 resultiert aus den ungenauen Definitionen der Tatbestände „Dumping“ und „übermäßiger Anstieg der Importe“.  Damit stellen sie den Mitgliedstaaten  Schlüssel zur Verfügung, mit denen die Tür in die Grauzone eines WTO-kompatiblen Protektionismus aufgeschlossen werden kann. Nach Abschluss der Uruguay-Runde wurden diese Schlüssel denn auch häufiger als je zuvor benutzt.

Die im Titel dieses Beitrags anlässlich des WTO-Beitritts der Russischen Föderation gestellte Frage kann also nicht mit einem eindeutigen „Ja“ beantwortet werden, so sehr die neue Mitgliedschaft auch zu begrüßen ist. Jedoch sollte man sich nicht der Illusion hingeben, mit wachsender Zahl der WTO-Mitglieder würde auch die Handelsfreiheit größer werden. Empirisch Untersuchungen dieser Frage konnten keinen signifikant positiven Zusammenhang von Mitgliederzahl und Handelsfreiheit nachweisen.

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