Hypokrit, oder: der Zumwinkel in uns allen

Zunächst das Selbstverständliche: (a) niemand zahlt gerne Steuern (sie vermindern direkt das eigene Nettoeinkommen); (b) niemand schätzt die Steuervermeidung oder Steuerhinterziehung anderer (das vermindert indirekt den eigenen Anteil an staatlichen Leistungen); (c) deshalb sollten alle ein Interesse daran haben, daß Steuergesetze für jedermann gleichermaßen gelten und Steuerhinterziehung wie jeder andere Gesetzesverstoß auch geahndet wird.

Nun das Komplizierte: (d) kaum einer glaubt, die Steuergesetze seien generell „gerecht“; fast jeder glaubt, er/sie zahle zu viel (die anderen zu wenig) und bekäme dafür zu wenig (die anderen zu viel); (e) kaum einer ist in der Lage, einen über alle Zweifel erhabenen Steuerbescheid auszufüllen, weshalb er/sie auch dessen „Gerechtigkeit“ nicht wirklich nachvollziehen kann; (f) deshalb verwenden sehr Viele sehr viel Geld, Zeit und Nerven nicht nur zum Ausfüllen unverständlicher Steuererklärungen, sondern auch zum Ausspähen legaler Steuerersparnisse – wobei einige (vor allem solche mit Geld für die Zeit anderer: für Berater) entdecken, daß sie eigene Zeit und vor allem Geld sparen, wenn sie Steuern erst gar nicht anfallen lassen und Einkommen oder Vermögen nicht deklarieren.

Diese Alltagsbeobachtungen wird man bei nüchterner Empirie oder Selbstinspektion kaum leugnen können. Sie beschreiben ein seit Thomas Hobbes bekanntes Dilemma sozialen Lebens: wir würden (wenn wir nur könnten) vielleicht selbst kaum anders handeln als Herr Zumwinkel; wir würden aber auch wollen, daß es (außer uns) keine Zumwinkels gäbe. Individuelle Zweckrationalität steht gegen die kollektive Rationalität gemeinsamer Interessen.

Das macht die aktuelle Medien- und Politikhysterie auch so scheinheilig. Der Sender n-tv stellte am Montag die Zuschauerumfrage: „taugen deutsche Manager noch als Vorbild?“ (dazu Bilder von der Hausdurchsuchung bei Herrn Zumwinkel). „Ja!“ meinten 7% wahrscheinlich verwirrte Neoliberale. „Nein!“ riefen 93% der Zuschauer, von denen sicher nicht wenige auch gerne eine steuerfreie Stiftung in Liechtenstein ihr eigenen nennen würden. Die Frage ist ohnehin bizarr: als ob Manager in Deutschland seitens der Politik oder der Medien je als Vorbild moralischen Verhaltens präsentiert worden wären.

Als vorbildliche Objekte verbreiteten Neids eignen sich schon eher Managereinkommen; und als Gegenstand gelegentlicher Anerkennung bestenfalls der Gewinn, den Manager für Aktionäre erwirtschaften (wobei Aktionäre eine satte pekuniäre Dividende einer schmaleren „moralischeren“ zuverlässig vorziehen). Einen spektakulären kurzfristigen Gewinn dürfte nun der Bundesfinanzminister realisieren. 5 Millionen Euro Belohnung für wohl widerrechtlich beschaffte Bankdaten könnten bis zu 400 Millionen widerrechtlich versteckte Steuergelder einbringen: ein „return on investment“, das jedem Manger zur höchsten Ehre gereichte.

Rein rechtlich-moralisch könnte man das Spiel mit dem Liechtensteiner Geheimnisverrat als vorerst unentschieden den Gerichten überlassen: Verwertung geraubter Bankgeheimnisse gegen Hinterziehung erlangten Einkommens. Wenn und insoweit beides gegen geltendes Recht (und sei es „nur“ des Rechts des souveränen Fürstentums Liechtenstein) verstößt, dann kann man die Debatte auch rein zweckrational führen und versuchen, nüchtern nach den Gründen zu suchen, die Steuerhinterziehung für viele immer attraktiver zu machen scheinen.

Aus Sicht eines utilitaristischen homo oeconomicus ist freilich zunächst erklärungsbedürftig, weshalb überhaupt so viel Einkommen tatsächlich deklariert wird. Die Wahrscheinlichkeit, beim Steuerhinterziehen erwischt zu werden, ist wohl noch immer sehr gering im Vergleich zum Erwartungsnutzen des Verheimlichens, auch und vor allem bei großen Steuerlasten. Der Steuerzahler kalkuliert offenbar häufig nicht „ökonomisch“, indem er die illegale Steuerersparnis mit deren Entdeckungswahrscheinlichkeit und Strafhöhe vergleicht; er (und noch mehr: sie) handelt instinktiv „moralisch“, indem sie/er Steuerhinterziehung erst gar nicht ernsthaft erwägt. Diese intrinsische Steuermoral ist ein immens wertvolles, aber auch prekäres öffentliches Gut. Und sie bedarf der Pflege; auch seitens des Staates. Die Bürger sind in Grenzen moralisch, aber nicht grenzenlos blöd. Das heißt: Sie reagieren auf Anreize, die offenbar auch über eine stur zweckrationale Erwartungsnettonutzenmaximierung hinaus auf psychologisch-emotionale Dispositionen wirken.

Genau diese intrinsische Motivation ehrlicher Steuerzahler könnte durch den Aktivismus des Steuerüberwachungsstaats empfindlich reduziert werden, wie Bruno Frey und Lars Feld auch empirisch nahelegen.

Überwachung, Kontrolle, Strafandrohung signalisieren ein Mißtrauen des Staates gegen seine Bürger, worauf diese dann oft selbst mit Mißfallen reagieren und nach Wegen suchen, sich vor dem wüsten Zugriff des Staates in sichere Oasen zurückzuziehen. Der Einsatz des Geheimdienstes, der eigentlich auswärtige und terroristische Gefahren aufdecken soll, zur Beschaffung von Bankgeheimnissen deutscher Bürger mag zunächst eine Welle eingeschüchterter Selbstanzeigen nach sich ziehen. Was aber dauerhaft bleiben könnte, ist die Verunsicherung eines bürgerlichen Grundvertrauens und hiervon genährter Steuermoral. Der langfristige „return on investment“ der Geheimdienstaktion könnte durchaus noch negativ werden.

Das heißt nicht, daß Steuerhinterziehung nicht als Straftat, die sie legaler und legitimer Weise ist, verfolgt und bestraft werden soll. Der Staat und seine Vertreter (war da nicht auch mal eine illegale Parteistiftung in Liechtenstein?) sollten aber nicht nur sehen, wie sie ihre Bürger als Verdächtige und Gegner möglichst lückenlos überwachen und kontrollieren. Politik sollte auch und zunächst in Projekte und Reformen investieren, die dem normalen Steuerzahler das ehrliche Leben leichter machen.

Auch hier hilft eine auf positive Emotionen gerichtete langfristig vernünftige Ordnungspolitik dem Staat und seinen Bürgern mehr als eine kurzfristig politisch-rationale Symbolpolitik der Ausbeutung negativer Emotionen wie Neid und Häme. Was heißt das konkret? Empirische Untersuchen zeigen auch, daß die Steuermoral der Bürger gestärkt wird durch deren Gefühl, das Steuersystem sei insgesamt „gerecht“, und den steuerlichen „Opfern“ stünden erkennbare „Nutzen“ in Form sinnvoller staatlicher Leistungen für alle gegenüber. Wie freilich ein Steuer- und Ausgabensystem genau aussehen könnte, das von den Bürgern auch allgemein als „gerecht“ betrachtet wird, ist gerade in Deutschland schwer zu sagen. Die von vielen Fachleuten favorisierten Alternativen wie Einfachsteuer (flat tax) oder Konsumsteuer könnten, schon rein steuertechnisch, weniger Anlässe für Steuervermeidung oder Steuerhinterziehung bieten. Sie sind aber offensichtlich den Bürgern selbst bisher kaum als „gerechter“ vermittelbar gewesen (wenn man es denn je ernstlich politisch versucht hätte: man frage Paul Kirchhof).

Dennoch bleibt wohl richtig: Ein einfaches Steuerrecht ist auch ein eher einsichtiges Recht, das die Einsicht fördert, daß es recht und billig ist, Steuern für notwendige und gerechte, zudem einigermaßen effizient erstellte staatliche Leistungen zu zahlen. Diese Meinung scheint im Prinzip nach wie vor vorhanden – auch wenn sie starken Belastungsproben ausgesetzt wird. Denn die moralische Versuchung steigt – parallel zur skandalisierenden Berichterstattung über immoralische Ausreißer, von wenigen gerissenen Hartz IV-Ausbeutern bis hin zu wenigen gerissenen Millionen-Hinterziehern, die jeweils für kollektivistische Verallgemeinerungen („alles Abzocker“) genutzt werden. Der Eindruck wächst und wird geweckt: Was die können, kann ich auch einmal versuchen.

Wer jedenfalls jährlich Stunden beim Ausfüllen kaum verständlicher Antrags- oder Steuerformulare verbringen muß, kann in schwachen Minuten auch einmal auf die Idee kommen, daß man schließlich das ein oder andere auch einmal erfinden oder vergessen könnte. Und manch einer mag sein schlechtes Gewissen mit dem nicht gerade absurden Gedanken erleichtern, sein verdientes Geld sei in den Händen staatlicher Bürokratien letztlich wohl kaum besser (auch sozial verantwortungsvoller) angelegt ist als in den eigenen.

Solchen Fragen muß sich auch der Staat stellen. Das enthebt ihn und seine Beamten natürlich nicht der Pflicht, Steuerhinterzieher, die versuchen, auf Kosten der ehrlicheren Allgemeinheit Trittbrett zu fahren, zu stellen und zur Verantwortung zu ziehen. Nur: der Aufrüstungswettbewerb zwischen Steuerberatern, Steuersparmodellbauern, Steuerfahndern und Steuergesetzgebern führt zu einer Spirale gewaltiger volkswirtschaftlicher Verschwendung, zu einer Umlenkung wertvoller Ressourcen in unproduktive Verwendungen. Dies fördert eine ebenso zynische wie erklärbare und damit zum Teil verständliche Trittbrettfahrermentalität und steigert so auch die moralischen Versuchungen vieler Bürger, sich der Illegalität entgegen zu tricksen.

Kurzum: es stecken ein ehrlicher Steuerzahler und ein „Zumwinkel“ in jedem Bürger. Der Gesetzgeber sollte deshalb beides tun: Steuerhinterziehung mit legalen Mitteln ahnden und Steuerehrlichkeit mit politischen Mitteln fördern. Beides ist inzwischen wohl eher schwierig geworden. Aber beides bleibt ordnungspolitisch geboten.

4 Antworten auf „Hypokrit, oder: der Zumwinkel in uns allen“

  1. Moral: In Bezug auf den Sozialismus wurde immer gerne und zu recht angeführt, dass Gesellschaftssysteme die der Moralität und höheren Einsicht der Individuen bedürfen, nicht funktionieren können. Genau solches Gutmenschentum wird nun ausgerechnet den Teilnehmern der liberalisierten Märkte abverlangt. Da ist ist nun wirklich mal ein ordnungspolitischer Ordnungsruf fällig.

  2. @Chefarztfrau

    Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem erlebt jeden Tag millionenfach Fälle von Moral und höherer Einsicht. Und „nicht funktionieren“ ist schwammig. Der Sozialismus hatte mit individueller Freiheit und Demokratie häufig wenig am Hut, tendierte stark dazu, diktatorisch zu sichern, was erst mal durchgesetzt war — und war wirtschaftlich immer schlechter als die Marktwirtschaft; Kategorien „funktionieren“ vs. „nicht funktionieren“ sind aber zu simpel, um das Entscheidende herauszuarbeiten, muss man ins Detail gehen, genauso bei gutmenschlich gegenüber nach was eigentlich ? Nicht gutmenschlich?!

  3. Würde die Gutmenschenfraktion ihrer „Täterschutz statt Opferschutz“-Linie treu bleiben, müsste sie darauf eingehen ob nicht gerade das komplizierte und zum Steuersozialismus tendierende deutsche Steuersystem Anreize schafft sein Vermögen an Fiskus vorbei zuschleusen.

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