Wirtschaftliche Freiheit in Deutschland:
Versuch einer historischen Erklärung
(Teil 1: Die Wurzeln)

Zum wichtigsten, was man über Deutschland sagen kann, gehört, das es in der Mitte Europas liegt und auf zwei Seiten – im Osten wie im Westen – ohne natürliche Grenzen ist, die nachhaltigen Schutz vor Angreifern bieten könnten. Die anderen großen Sprachräume Europas – die Britischen Inseln, Frankreich, Spanien/Portugal, Schweden/Norwegen und Italien – sind in mindestens drei Himmelsrichtungen durch das Meer oder hohe Gebirge – die Alpen, die Pyrenäen – geschützt. Das ist ja gerade der Grund, weshalb sich dort schon früh einheitliche Sprachräume und Staaten entwickeln konnten.

Ein Land wie Deutschland, das sich an mindestens zwei Fronten verteidigen muss, wird leicht zum Spielball der Randmächte – der Dreißigjährige Krieg und die Zeit von 1914-44 (der zweite dreißigjährige Krieg?) sind die deutlichsten Beispiele. Die Randmächte sorgten dafür, dass sich in der Mitte ein politisches Vakuum bildete: ein Sprachgebiet, das politisch zersplittert war und nur durch einen meist losen institutionellen Rahmen wie das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ zusammengehalten wurde.

Die politische Fragmentierung Deutschlands hatte zur Folge, dass die deutschen Fürsten untereinander in scharfem politischem Wettbewerb standen. Sie konkurrierten um mobile Eliten – Kaufleute und religiöse Minderheiten (Juden, Protestanten) – und zunehmend auch um mobiles Kapital. Sie waren daher gezwungen, Freiheits- und Marktrechte zu gewähren und auf konfiskatorische Besteuerung zu verzichten. Das Recht auf Eigentum galt etwas, und unparteiische Gerichte konnten sich entwickeln. Deutschland war ein Land, in dem sich harte Arbeit lohnte – zumindest in Friedenszeiten. Handwerk und Handel fanden günstige Bedingungen vor. Am meisten profitierten davon die Städte. Man denke an die Zeit der Hanse. Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit, die Haupttugenden der Kaufleute, und Gründlichkeit, die Haupttugend der Handwerker, erhielten einen hohen Stellenwert. Auch für religiöse Minderheiten war der deutsche Sprachraum besonders attraktiv. Deshalb siedelten sich hier viele Juden an. Das organisatorische Zentrum der europäischen Juden war in Worms. Der Wettbewerb zwischen den Fürsten trug auch dazu bei, dass die Reformation zuerst in Deutschland zum Durchbruch kam. Die französischen Hugenotten flüchteten überwiegend nach Deutschland. Noch heute ist Deutschland konfessionell stärker zersplittert als irgendein anderes europäisches Land.

In der wirtschaftshistorischen Literatur ist vielfach belegt worden, dass sich die wissenschaftliche, technische und industrielle Revolution der letzten 500 Jahre vor allem deshalb in Europa – und nicht zum Beispiel in China, Indien oder dem osmanischen Reich – ereignete, weil, Europa politisch fragmentiert war. Dies gilt aber besonders für den deutschen Sprachraum. Insofern waren die Bedingungen für wirtschaftliche Freiheit dort – am meisten in den kleineren deutschen Staaten – besonders günstig. Natürlich störten die vielen Zollschranken, aber die Hanse wurde damit durchaus fertig, und es gelang sogar schließlich, die innerdeutschen Zölle auf vertraglicher Basis abzubauen (Deutscher Zollverein). Eine weitere Form des Protektionismus waren die starken Zünfte, die sich als Reaktion auf den lebhaften Handel und Wettbewerb in den Städten bildeten. Aber die Territorialherren waren an solchen Wettbewerbsbeschränkungen nicht interessiert, durchlöcherten sie durch Privilegien und schwächten so den Zusammenhalt der Zünfte. Als Folge dieser politischen Bedingungen entwickelten die Deutschen hohe handwerkliche und wirtschaftliche Fähigkeiten.

Viele deutsche Auswanderer nahmen dieses Talent nach Amerika mit. Die USA verdanken ihren Aufstieg nicht nur dem politischen Geschick der englischen Siedler, sondern auch den wirtschaftlichen Fähigkeiten der deutschen Einwanderer (und im 20. Jahrhundert der Zuwanderung der jüdischen Intelligenz).

Die wirtschaftliche Freiheit in Deutschland wurde aber nicht nur durch die politischen Institutionen bestimmt. Je zersplitterter die weltliche Macht, desto größer ist die Macht der Kirche, besonders wenn diese international organisiert ist und von einem gemeinsamen Oberhaupt – dem Papst – gelenkt wird. Wohl in keinem Land Europas war daher die Kirche – bis zur Reformation – so einflussreich wie in Deutschland. Der Höhepunkt war zweifellos der Investiturstreit und Heinrichs IV. Gang nach Canossa. Die französischen Könige waren demgegenüber in der Lage, eine eigene päpstliche Linie in Avignon zu etablieren und unter Kuratel zu stellen (1379 – 1424). Heinrich VIII. von England war seinem päpstlichen Gegenspieler voll gewachsen, ebenso vor ihm Gustav Wasa in Schweden.

Eine deutsche Besonderheit waren auch die vielen Fürstbistümer oder Hochstifte. Bis zur Reformation stieg ihre Zahl auf 53, und selbst im 18. Jahrhundert waren es noch 26. Als kirchliche Würdenträger übten die Fürstbischöfe – wie der Papst – weltliche Macht aus und herrschten oft über ausgedehnte Territorien. Drei Fürsterzbischöfe – die von Köln, Mainz und Trier – gehörten sogar ab 1356 zum Kollegium der sieben Kurfürsten, das den König wählte.

Die starke politische und rechtliche Stellung der Kirche verstärkte den institutionellen Wettbewerb und schuf zusätzliche Freiräume. Wer bei seinem weltlichen Herrscher in Ungnade gefallen war, fand oft bei der Kirche Schutz. Selbst Mitglieder des niedrigen Adels und des Bürgertums konnten in der kirchlichen Hierarchie in höchste Positionen aufsteigen. Die nicht nur geistliche, sondern auch weltliche Macht der Kirche in Deutschland trug zur vertikalen Mobilität bei und bot zusätzliche Freiheit – auch wirtschaftliche.

Betrachtet man jedoch die Glaubensinhalte, so ist Haltung der christlichen Kirche zur wirtschaftlichen Freiheit ambivalent. Auf der einen Seite ist der Mensch als Ebenbild Gottes zur Freiheit geboren. Das Privateigentum zum Beispiel wird nachdrücklich bejaht. Auf der anderen Seite ist es Aufgabe der Kirche, den Menschen von der Sünde abzuhalten. Viele Kleriker sehen daher im Menschen nicht in erster Linie den mündigen, sondern den sündigen Bürger – das Schäfchen, das sie hüten müssen. Hinzu kommt, dass die Kirche als moralische Institution die Solidarität mit den Armen predigen muss. Daraus können sich Gerechtigkeitsvorstellungen entwickeln, die nach weitreichendem staatlichem Zwang verlangen und die wirtschaftliche Freiheit einschränken. Die Lehre vom gerechten Preis und vom gerechten Lohn (Mindestlohn?) geht zum Beispiel auf Vorstellungen der mittelalterlichen Kirche zurück.

Anders als Frankreich, die iberische Halbinsel, Griechenland und natürlich Italien hat Deutschland nie ganz zum römischen Imperium gehört. Unterworfen wurde nur der Rhein- und Donauraum. Hier war auch später die Bindung an Rom (den Papst) besonders stark, hier residierten die drei kirchlichen Kurfürsten. Der sogenannte „rheinische Kapitalismus“ war daher immer ein römisch-katholischer Kapitalismus. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen Konrad Adenauers und der Zentrumspartei hatten hier ihren Ursprung.

Die zentrale Lage und die daraus folgende politische Zersplitterung und militärische Verwundbarkeit Deutschlands haben zudem in den Deutschen ein starkes Sicherheitsbedürfnis entstehen lassen. Wahrscheinlich trug dies dazu bei, dass Deutschland als erstes Land der Welt eine obligatorische Sozialversicherung einführte. Man begnügte sich nicht mit der Einführung einer Versicherungspflicht, die ökonomisch durchaus zu begründen war, sondern errichtete eine staatliche Versicherung und gab ihr das Monopol. Einer der eifrigsten Befürworter dieser staatsmonopolistischen Regelung war die Zentrumspartei. Ohne ihre Unterstützung hätte Bismarck sein Projekt nicht durchsetzen können. Auch die zunehmende Regulierung des deutschen Arbeitsmarktes in der Weimarer Republik wurde von der Zentrumspartei mitbetrieben. In acht der elf Jahre parlamentarischer Demokratie stellte sie mit Heinrich Brauns – einem ehemaligen Geistlichen – den Arbeitsminister. Es gelang ihr fast immer, im Parlament die Medianposition einzunehmen – so wie später den Sozialausschüssen von CDU und CSU, wenn es in der Bundesrepublik eine bürgerliche Regierung gab. Nicht selten hatte die „soziale Sicherheit“ Vorrang vor der Vertragsfreiheit.

Das starke Sicherheitsbedürfnis der Deutschen hatte aber auch militärische Implikationen. Wo der Belagerungszustand als nahezu permanent empfunden wird, muss das Militär hohes Ansehen genießen. Tapferkeit, Disziplin und Gehorsam werden in der Armee zu alles überragenden Tugenden. Auch davon zeugt die deutsche Geschichte.

Auf ein starkes Sicherheitsbedürfnis deutet schließlich auch die Angst der Deutschen vor der Atomenergie hin. Sie ist in der industrialisierten Welt einmalig.

Die politische Fragmentierung hat in den Deutschen immer wieder den drängenden Wunsch nach Einheit und politischer Zentralisierung geweckt. Dass dieser Wunsch lange Zeit unerfüllt blieb, erklärt das weitverbreitete Gefühl der Minderwertigkeit und den auffallenden Hang zum Angeben. Wenn der Wunsch nach einem gemeinsamen Staat jedoch einmal vorübergehend in Erfüllung ging, kam es bald zu schwersten politischen Fehlern. Das könnte vor allem daran liegen, dass die Deutschen kaum Gelegenheit hatten, in der Welt machtpolitische Verantwortung zu übernehmen und ein politisches Talent zu entwickeln. Den Deutschen wird nachgesagt, dass sie – nicht nur in der Philosophie – zu idealistischen Theorien und – nicht nur in Kunst und Musik – zur Romantik neigen. Sie fragen zuerst, wie die Dinge sein müssten und nicht wie sie sind. Wunschdenken geht vor Realitätssinn, Prinzipienreiterei vor Pragmatismus. Das wirkt sich auch auf die wirtschaftspolitischen Vorstellungen aus.

Zwischenbilanz: Dass es die wirtschaftliche Freiheit in Deutschland schwer hat, ist weitgehend historisch bedingt. Es liegt nicht an der wirtschaftlichen Tradition, denn diese war wegen der politischen Fragmentierung und des institutionellen Wettbewerbs freiheitlich. Ursächlich sind vielmehr die historisch geprägten Wertvorstellungen der Menschen und ihr besonderer (auch wirtschafts-) politischer Unverstand. Deshalb haben die Deutschen den ungeliebten und unverstandenen Wettbewerb der Länder in Deutschland und Europa mehr und mehr beschränkt und damit auch der wirtschaftlichen Freiheit Schritt für Schritt die politische Grundlage entzogen.

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