Es gab einmal Leute in Deutschland, die nannten Angela Merkel eine Neuauflage von Margaret Thatcher. Das war von den wenigsten sehr freundlich gemeint. Denn die meisten Deutschen haben die ehemalige britische Premierministerin nie gemocht. Kalt, kapitalistisch und ohne jeglichen Humor: Der Inbegriff jener angelsächsischen Fremdheit, die hierzulande die Wärme des Wohlfahrtsstaates bedroht. Der Vergleich Merkels mit Thatcher war immer schon dazu angetan, die ehrgeizige deutsche Politikerin aus dem kommunistischen Osten zu beschädigen: Als neoliberal und dem rheinischen Kapitalismus zutiefst abhold. Kein Wunder, dass Merkel sich stets davor hütete, selbst vom Thatcher-Vergleich Gebrauch zu machen. Allenfalls im Stillen mag sie sich daran erfreut haben, als Eiserne Lady zu gelten, die die Polit-Männern das Fürchten lehrt.
Es gab einmal eine Zeit, in der Merkel davon redete, Deutschland brauche eine Neue Soziale Marktwirtschaft. Damals, in den Jahren 2002 bis 2005, regierte der Sozialdemokrat Gerhard Schröder in seiner zweiten Wahlperiode, und Merkel schalt dessen Politik als „viel zu halbherzig, viel zu spät“. Sie sagte, sie wolle den großen Wurf in der Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik, plädierte für eine deutliche Senkung der Einkommensteuer auf unter 30 Prozent und die Finanzierung der Gesundheitsvorsorge über einheitliche Kopfprämien nach dem Vorbild der Schweiz. Es war ein Programm mit mehr Markt und weniger Staat und dem Versprechen größerer Freiheit für die Bürger. Ein mittlerweile berühmter Parteitag der CDU im Dezember 2003 in Leipzig hat Merkel für dieses Programm frenetisch gefeiert. Das muss freilich nicht heißen, dass die Neue Soziale Marktwirtschaft auch Merkels wahre Überzeugung wieder gegeben hätte und nicht vielmehr Ausfluss einer opportunistischen Politikstrategie gewesen war in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation und dramatisch hoher Arbeitslosigkeit.
Aber was sind schon wahre Überzeugungen von Politikern? Der tief gekränkte Friedrich Merz, Merkels ehemaliger Antipode (ein brillanter Rhetor, den sie kalt gestellt hat), vertrat schon immer die Meinung, es gehe der Frau aus dem Osten ausschließlich um die nackte Macht, ein Ziel, für das sie bereit sei, ihre Überzeugungen zu wechseln wie ihre Hosenanzüge. Es gibt wenige Indizien, Merz zu widersprechen nach gut zwei Jahren Kanzlerschaft Merkel und einer schwarz-roten Koalition. Der Wahltag im Herbst 2005, der gegen alle Demoskopie die sichere Erwartung auf eine bürgerliche Mehrheit enttäuschte, war ihr Anlass, die politisch-programmatische Zeit ihres Lebens zur Episode zu machen und sich fortan jeglicher inhaltlichen Festlegung zu enthalten.
„Angela Merkel ist vor allem eine Machtkanzlerin geworden“ klagt der Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsflügels Josef Schlarmann heute, nach mehr als zwei Jahren Regierungszeit. Das ist nicht ganz richtig. In Wirklichkeit war Merkel von Anfang an Machtkanzlerin. Das marktwirtschaftliche Programm wollte sie als Vehikel zum Weg an diese Macht nutzen. Es wurde ihr Trauma, weil es fast ihr Verhängnis geworden wäre. Kein Wunder, dass sie sich dessen nie mehr besinnen wird. „Mehr Freiheit wagen“, lautete das Motto von Merkels erster Regierungserklärung. Das blieb schon damals hinlänglich vage.
Schlecht gefahren ist Merkel mit dieser Politik machtbewusster Unverbindlichkeit nicht. Die Taktik, sich im Alltagsgeschäft zurück zu halten (sie hätte die „Richtlinienkompetenz“), hat ihr genutzt und nicht geschadet. Die Umfragewerte sind gut und stabil, wenn auch nicht brillant. Das ist auch gar nicht nötig, so lange die Sozialmdemokraten, seit der Gründung der Partei „Die Linke“ mächtig unter Druck, sich offen selbst marginalisieren. Profitiert hat Merkel von einer für deutsche Verhältnisse sehr guten Konjunktur, verbunden mit einer deutlichen Linderung der seit Jahren hohen Arbeitslosigkeit, die sie der Lohnzurückhaltung deutscher Gewerkschaften und – in geringerem Ausmaß – den Agendareformen ihres Vorgängers Gerhard Schröder zu verdanken hat.
Der schöne Schein der zyklischen Erholung erklärt die Sorglosigkeit der Kanzlerin, mit der sie neue Ausgabenprogramme für wahlstimmenträchtige Bevölkerungsgruppen zulässt. Zunächst wurde beschlossen, die Arbeitslosen wieder länger zu alimentieren, zuletzt erhielten die Rentner einen kräftigen Nachschlag (Merkel nennt es „eine kleine Korrektur“). Zahlen müssen das die Leistungsträger, deren Belastung mit Steuern und Abgaben wieder wächst. Kein Wunder, dass deren wachsende Neigung zur Steuerumgehung von Merkel aufs schärfste kriminalisiert und regierungsseitig mit Mitteln außerhalb der Legalität bekämpft wird.
Unterdessen schlägt Merkels inhaltliche Unverbindlichkeit längst in ordnungspolitische Prinzipienlosigkeit um. Noch nicht einmal die Forderung der SPD nach Einführung eines Mindestlohns für den Ex-Monopolisten Deutsche Post hat sie zur Grundsatzfrage für die Koalition erklärt und mit Bruch gedroht. Erst als die Tat getan war, begann ihr zu schwanen, dass sie damit zur Vernichtung von Arbeitsplätzen die Hand gereicht haben könnte. Der Mindestlohn zeigt im Übrigen, dass ordnungspolitischer Unfug und unternehmerfreundliche Politik sich nicht ausschließen. Plötzlich rufen ganz viele Unternehmen in Deutschland nach einem Mindestlohn, die Arbeitgeber fast noch lauter als die Gewerkschaften, um sich mit Merkels Hilfe die Konkurrenz vom Leib zu halten. Auch ein von Angst vor russischen oder chinesischen Staatsfonds geschürter Neoprotektionismus, mit dem Deutschland demnächst ausländisches Kapital an der Grenze kontrollieren will, dient nicht zum mindesten dem Machterhalts hiesiger Top-Manager.
Es ist der reine Utilitarismus, mit dem Angela Merkel heute Kosten und Nutzen wirtschaftspolitischer Aktionen auf die ihre persönliche Macht stärkende oder schwächende Wirkung hin überprüfen lässt. Ein Gutteil der Arbeit ihres Kanzleramts ist dieser Aufgabe gewidmet. Von den Ihren fordert die Kanzlerin absolute Loyalität, bis zur Unterwerfung. Abweichlertum wird streng bestraft. So gut konnte das vor ihr nur Helmut Kohl. Er hat achtzehn Jahre lang regiert. Respekt.
- Ordnungspolitische Denker heute (3)
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In 100 Jahren wird man sich vermutlich nur an drei britische Premierminister im 20 Jahrhundert erinnern: David Lloyd George, Churchill und Thatcher.Die Eiserne Lady ist eine Jahrhundertgestalt. Frau Merkel mit Frau Thatcher zu vergleichen ist ebenso unfair wie Kiesinger mit Bismarck.
Dafür ist Merkel weder die Frau, noch ist dafür jetzt die Lage. Es sieht zur Zeit nicht so aus, als würde Frau Merkel etwas Bleibendes hinterlassen, an das man sich in 100 Jahren noch erinnern würde. Aber das hat Kiesinger mit seiner Großen Koalition auch nicht.