1. Völker höret die Signale der Gemeinwohlsirenen
Es gibt ein recht einheitliches Strickmuster, nach dem man immer dann vorzugehen scheint, wenn es um die Wirtschaft und die Ethik geht. Zunächst diskreditiert man das Eigeninteresse. Das trifft auf nahezu ungeteilten Beifall; denn sogar die Wirtschaftsführer selbst sehen sich gern höheren Werten als dem „bloßen“ Eigeninteresse verpflichtet. Sie sehen sich dem Dienst am gemeinen Wohl geweiht und geben sich nicht damit zufrieden, dass sie dieses nur von der unsichtbaren Hand des eigenen Interesses gleitet verfolgen. Deshalb widersprechen sie auch nicht nachdrücklich genug, wenn man das allgemeine Interesse an die Stelle Eigeninteresses setzt. Das wirkt ja unschuldig genug. Die Stelle füllt aber dann jede ethische Interessengruppe mit dem aus, was sie speziell gern realisiert wissen will.
Es vergisst sich leicht, dass der Adressat von Gemeinwohlforderungen einer endlos langen Liste widerstreitender Ansprüche folgen müsste, denen er keineswegs sämtlich gerecht werden könnte. Die einen werden nach mehr Umweltschutz rufen. Die anderen werden verlangen, mehr für die Dritte Welt zu tun, die nächsten mehr Arbeitsplätze zu schaffen bzw. niemanden zu kündigen und zugleich die Gehälter zu erhöhen. Alles nachvollziehbare aber nicht alles zugleich erfüllbare, weil gewöhnlich widersprüchliche Wünsche.
Die Preissignale des Marktes haben demgegenüber den großen Vorteil, dass alle widerstreitenden Gründe in der Preisbildung berücksichtigt werden. Es ist zwar misslich, dass die Wunschberücksichtigung nur in dem Ausmaß eintritt, in dem jemand für die Wunscherfüllung zahlen kann. Aber immerhin hat jeder eine Chance, zum Zuge zu gelangen.
Der Markt kann den Signalen der Nachfrager allerdings nur insoweit Folge leisten, als die Anbieter gerade davon freigesetzt werden, das Gemeinwohl zu verfolgen. Die Forderung, sich am Gemeinwohl zu orientieren, läuft ja gerade darauf hinaus, nicht auf die Marktsignale zu hören. Nur wer auf das eigene Interesse hört, kann auch ihnen genau zuhören.
2. Die neue Überheblichkeit
Arbeitnehmern und anderen vorgeblich sozial Schwachen in der Gesellschaft wird von „Wirtschaftsethik“ und öffentlicher Meinung eine legitime Verfolgung eigener Interessen zugestanden. Vor lauter gutem Willen sieht man gar nicht die stillschweigende Herablassung, die darin steckt, nur den, ironisch formuliert, „niederen Ständen“ die Verfolgung der „niederen“ egoistischen Interessen als legitim zuzugestehen. Von den vorgeblich „höheren Ständen“, die etwa die Wirtschaftsethiker, die selbsternannten Intellektuellen, aber auch die Unternehmer, Aktionäre und Kapitaleigner umfassen, wird eine Orientierung am allgemeinen Wohl erwartet. Die Tatsache, dass man im Gegensatz zum Gewinnstreben der Arbeitnehmer das Gewinnstreben dieser selbsternannten Eliten kritisiert, zeigt eine überraschende Orientierung an alten aristokratischen Idealen: Denn durch profanes Streben nach Gewinn bzw. eigen- und nicht gemeinwohlorientierte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben wurde der klassische Aristokrat ethisch „entehrt“. Er hatte über mundanen Interessen und natürlich auch darüber zu stehen, diese „egoistisch“ verfolgen zu müssen. Das mussten die arbeitenden Stände tun.
Zwar wettert man in der heutigen Kapitalismuskritik nicht mehr im Sinne des vormodernen Beißreflexes gegen den Zins. Außer in Teilen der islamischen Welt spricht man auch nicht mehr wie noch Marx davon, dass das Kapital „keine Jungen“ bekommen dürfe. Aber der eigentliche Kern der Sache, die Diskreditierung des Eigennutzes gegenüber dem Gemeinnutz, des partikularen gegenüber dem allgemeinen Interesse erfreut sich in einer zunehmend wohlhabenderen Welt ungebrochener, womöglich sogar wachsender Popularität.
Dem ist von jedem Anhänger freiheitlich-rechtsstaatlicher Wirtschaftsinstitutionen zu widersprechen. Ein wenig Ideologiekritik kann gegenüber keiner Aufforderung zum Idealismus schaden. Ruft nämlich jemand, lasst uns alle gemeinsam am gleichen Strang ziehen, dann meint er gewöhnlich, „mir nach“!
3. Wider die Gemeinwohlorientierung
Kennedy erntete Jubel für die Parole, Jugendliche sollten nicht fragen, was ihr Land für sie, sondern, was sie „für ihr Land“ tun könnten. Noch heute wird er gern zitiert, wenn uns wieder einmal jemand in einer selbst- und fremdgefälligen Sonntagsrede zur selbstlosen Gemeinwohlorientierung aufrufen will. Der unkritische Beifall nahezu aller ist ihm nahezu gewiss. Dabei wären die großen Menschheitsverbrechen ohne die von Hannah Arendt so genannte „merkwürdige Selbstlosigkeit der Massen“ unmöglich gewesen (vgl. Arendt, H. (2003): Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft. München). Die „großen Humanisten“ des zwanzigsten Jahrhunderts appellierten alle an die Bereitschaft, höhere ethische Ziele selbstlos zu verfolgen. Wenn wir nur bei der Hitliste des Schreckens bleiben und uns auf Hitler, Mao und Stalin beschränken, wissen wir alle, worum es geht: Je größer die Verbrechen, um so stärker der Ruf nach der selbstlosen Förderung der vorgeblich großen Anliegen.
Wer in einer Gesellschaft, die das Opfer für das Gemeinwohl zur Tugend erklärt und womöglich auch dazu erklären muss, um den eigenen Bestand wahren zu können, die Macht erlangt, zu definieren, worin das Gemeinwohl besteht, der hat viele, wenn nicht alle Hebel der Macht in der Hand. Es ist kein Wunder, dass ein großer Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung sich um diesen Preis dreht. Die Sozialisten aller Parteien haben das womöglich nicht bewusst verstanden, handeln aber dennoch so, als hätten sie es begriffen.
Es war zwar ein unwürdiges Spektakel, als im Wahlkampf vor einigen Jahren die Christdemokraten ausgerechnet die deutsche Sozialdemokratie mit dem Verweis diffamieren wollten, die Nationalsozialisten seien schließlich auch Sozialisten gewesen. Wahr ist, dass die Deutsche Sozialdemokratie historisch die Partei des Rechtsstaats in Deutschland gewesen ist und unter den politischen Parteien lange Zeit dessen einziger zuverlässiger Verteidiger. Die Vorgänger der anderen Parteien stimmten schließlich unter anderem auch dem Ermächtigungsgesetz zu, sofern sie nicht wie die Kommunisten gar nicht mehr in den Reichstag gelangen konnten. Wahr bleibt aber auch, dass die Nationalsozialisten sich nicht von ungefähr ihren Namen zulegten. Den Nazis ging es um die Volksgemeinschaft und sie propagierten „Gemeinnutz gehe vor Eigennutz“. Sie verstanden es sehr gut, die scheinbar besten Motive zu missbrauchen.
Der Appell an die Gemeinwohlorientierung der Menschen hat die großen Menschheitsverbrechen nicht von ungefähr begleitet. Vor diesem Hintergrund ist es doch einigermaßen überraschend, dass unsere heutigen Theoretiker des Guten, so wenig Misstrauen gegenüber dem Aufruf zur politischen Verfolgung „ethischer Ziele“ entwickeln. Der durchschnittliche theoretische Ethiker hat anscheinend ebensolche Schwierigkeiten wie jeder andere zu begreifen, dass die je eigenen Vorstellungen vom Gemeinwohl am Ende nicht das Gemeinwohl, sondern nur je eigene Vorstellungen vom allgemeinen Wohl definieren.
Die jeweils reklamierte Verankerung unserer partikularen Ideale in „der“ Ethik bietet eine schöne Projektionsfläche für eigene moralische und politische Wünsche. Diese kann man durch den Allgemeinheitsanspruch zu allgemein verbindlicher Ethik adeln. Weil man die eigene ethische Position für begründet hält, glaubt man dann nur zu leicht, andere Individuen guten Gewissens für eine Verletzung der moralischen Forderungen der je eigenen ethischen Theorie zur Verantwortung ziehen zu dürfen. Damit wird aber die Berufung auf Ethik zur allgemeinen Entschuldigung dafür, andere gegen deren Willen zu etwas zu zwingen. Freiwillige Unterwerfung im Namen der Loyalität gegenüber der Allgemeinheit wird erwartet (vgl. polemisch zu solchen Erwartungen, Anthony de Jasay http://www.econlib.org/ und Suche nach „Jasay“).
Das ist auch der Hauptgrund dafür, dass sich der Begriff der sozialen Gerechtigkeit so großer Beliebtheit erfreut. Denn wenn man etwas als ungerecht ausweisen kann, dann scheint viel dafür zu sprechen, dass darin eine Verletzung von Rechten liegt, die man als solche auch durch Anwendung von Zwang beheben darf. Damit kann man eine lästige Hürde, die der Umverteilung im Wege steht, anscheinend leicht überwinden: Jeder ist dafür, dass anderen geholfen wird, aber nicht jeder findet es angemessen, andere dazu zu zwingen, wieder anderen zu helfen bzw. selbst zu der Hilfe gezwungen zu werden. Selbstlose Hilfe erscheint als Gut, erzwungene Hilfe jedoch als ein Übel, dessen Anwendung nur manchmal als notwendig zur Erreichung übergeordneter Ziele entschuldigt werden kann. Ungerechtigkeit ist demgegenüber ein plausibler Entschuldigungsgrund für die Anwendung des Zwangsübels, da Ungerechtigkeit auf eine Normverletzung hinzudeuten scheint und die Verletzer von Normen allgemein zum Ausgleich der Normverletzung gezwungen werden dürfen
4. Subsidiarität
Der Aufruf, eine Ordnung zu unterstützen, die es jedem erlaubt, möglichst weitgehend seine je eigenen Vorstellungen zu realisieren, drückt ebenfalls nur eine bestimmte Vorstellung unter vielen Auffassungen vom Gemeinwohl aus. Aber der Ruf verlangt nicht nach der Realisierung ganz bestimmter inhaltlicher Zielsetzungen, sondern allein nach der Verfolgung des abstrakten Ziels, jedermann soweit möglich die je eigenen egoistischen oder altruistischen Ziele verfolgen zu lassen. Das Ergebnis ist ganz im Sinne Friedrich August von Hayeks, der eine freie Gesellschaft als jene definiert, die jedem den Gebrauch der eigenen Mittel zur Verwirklichung der eigenen Ziele erlaubt ( vgl. Hayek, F. A. v. (1971): Die Verfassung der Freiheit. Tübingen).
Soweit es nicht möglich ist, die Zielverfolgung über freie Verträge zu koordinieren, wird man für freie Konkurrenz auf politischen Märkten im Zuge demokratischer Verfahren plädieren. Zugleich wird man aber dafür eintreten, diese kollektive Zielbestimmung so weit wie möglich einzuschränken. Denn Mitbestimmung ist grundsätzlich weniger wert als Selbstbestimmung. Das leider zuwenig ernst genommene Prinzip der Subsidiarität drückt das in unserer Verfassung ebenso aus, wie der Maastricht-Vertrag es in die europäischen Institutionen eingebracht haben will. Wieviel auf beiden Ebenen in Wirklichkeit von der Subsidiarität übrig ist, steht in den Sternen. Es reichen vermutlich in jedem Falle sehr kleine Sterne für die betreffende Notiz aus. Ist uns die Freiheit nicht „schnuppe“ haben wir aber guten Grund, uns bei jeder Sternschnuppe mehr davon zu wünschen
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Sehr pointierter, schöner Beitrag. Glückwunsch. Ich habe mir erlaubt, in einem „o-pod“ (Podcast zur Ordnungspolitik) einige Passagen aus dem Text vorzulesen: http://rolf.podspot.de/ … Diese Podcasts stehen in unmittelbarem Zusammenhang zur Vorlesung „Ordnungspolitik“ (http://www.iwp.uni-koeln.de/DE/Aktivitaeten/index1.htm) an der Uni Köln. Ich hoffe, Sie sind mit dem Zitat einverstanden.
Besser spät als nie, man möge es mir nachsehen, ich habe diesen Blog erst vor 4 oder so Wochen entdeckt. Ich dachte mir schon. „Du kannst doch nicht der einzige sein der diesen Schwachsinn ablehnt“
Dieses Blog hat hervorragende Artikel und dieser hier trifft genau wieder ins Schwarze. Es ist zum aus der Haut fahren mit all den „Gutmenschen“. Das einzige, das Sie gut können, ist anderen ein schlechtes Gewissen einreden und andern in die Tasche zu greifen. Wer hindert denn diese „Engel“ daran, ihr Tun nach ihrer eigenen Devise auszuleben? Ich sicher nicht, aber was für sie gut sein kann und muß, muß es noch lange nicht für mich.
Somit danke für diesen schönen Artikel.
Dass ich das mal erleben darf: Endlich mal ein Beitrag in deutscher Sprache, dem ich uneingeschränkt zustimmen kann. Hab den Blog zufällig gerade entdeckt. Toll!