Sollten Zuwanderer aus EU-Mitgliedsstaaten in Deutschland einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (ALGÂ II) haben? Ausgelöst durch einander widersprechende Urteile verschiedener Sozialgerichte wird dies zurzeit kontrovers diskutiert. Das mit der juristischen Beantwortung betraute Bundessozialgericht hat diese Frage jüngst an den Europäischen Gerichtshof verwiesen.
Der europäische Rechtsrahmen
Der gemeinsame europäische Binnenmarkt beruht auf vier Grundfreiheiten, nämlich dem freien Warenverkehr, der Dienstleistungsfreiheit, dem freien Kapitalverkehr und der Personenfreizügigkeit. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine spezielle Ausprägung der Personenfreizügigkeit und erlaubt jedem Unionsbürger den diskriminierungsfreien Zugang zum Arbeitsmarkt in einem beliebigen anderen Mitgliedsstaat. Sind EU-Zuwanderer beschäftigt, selbständig oder unselbständig, dürfen sie sich in jedem Mitgliedsstaat der EU unbeschränkt aufhalten. Das Aufenthaltsrecht von Arbeitssuchenden ist laut Gesetz allerdings auf sechs Monate beschränkt.
Aus Sorge vor einer verstärkten Zuwanderung von Arbeitskräften und damit einhergehenden senkenden Auswirkungen auf das inländische Lohnniveau hat Deutschland nach der EU-Osterweiterung seinen Arbeitsmarkt abgeschottet. Dies war allerdings nur übergangsweise zulässig und ist zum 01.05.2011 für die 2004 beigetretenen osteuropäischen Mitgliedsstaaten und zum 01.01.2014 auch für Bulgarien und Rumänien endgültig ausgelaufen.
Während die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine Gleichbehandlung von Inländern und EU-Ausländern bei der Arbeitssuche vorsieht, gilt dies nicht in Bezug auf den Sozialhilfeanspruch. Mitgliedsstaaten sind vielmehr berechtigt, den Sozialhilfebezug für solche zugewanderten EU-Bürger auszuschließen, die erstmals Arbeit in einem Land suchen. Vor dem Hintergrund großer Unterschiede im Wohlstandsniveau und dem Ausmaß der Sozialstaatlichkeit sollte damit eine gezielte „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ verhindert werden. Dieser Ausnahmetatbestand gilt indes nicht für „besondere Geldleistungen“, wie z. B. dem Kindergeld. Zugewanderten EU-Bürgern dürfen diese Leistungen im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz bereits vom ersten Tag an nicht verwehrt werden. Juristisch strittig ist, ob das deutsche ALG II unter die Kategorie „Sozialhilfe“ oder „besondere Geldleistung“ fällt. Selbst wenn die noch nicht rechtskräftigen Urteile, nach denen das ALG  II als besondere Geldleistung auszulegen ist, juristisch Bestand haben, könnte der deutschen Gesetzgeber allerdings die Rechtsgrundlage des ALG II anpassen. Durch eine Präzisierung der Gesetzgebung könnte klargestellt werden, dass das deutsche ALG II als Sozialhilfe auszulegen ist, so dass Zahlungen an neu zugewanderte EU-Bürger weiter ausgeschlossen werden könnten.
Warum gewähren wir soziale Mindestsicherung?
Abseits der juristischen Debatte stellt sich jedoch die Frage, ob eine wohlhabende Gesellschaft überhaupt damit leben kann, zugewanderten Mitmenschen in existenzieller Notlage Hilfe zu verweigern. Ein staatliches Mindestsicherungssystem lässt sich begründen, wenn man aufgrund der bei öffentlichen Gütern und externen Effekten üblichen Schwierigkeiten erwartet, dass die private Spendenbereitschaft hinter einem allgemein zustimmungsfähigen Niveau gemeinschaftlicher Hilfe zurückbleibt. Die Motive zu solcher gemeinschaftlicher Hilfe liegen zum Beispiel darin, dass die allermeisten Menschen empathisch sind und daher mit notleidenden Mitmenschen in ihrer Umgebung mitleiden. Auch die Befürchtung großer sozialer und politischer Spannungen im Falle zu großer Wohlstandsdiskrepanzen wird häufig angeführt. Wenn aus diesen Motiven inländische Mitbürger durch ein Mindestsicherungssystem vor existentieller Armut geschützt sind, stellt sich die Frage, inwiefern die existentielle Not von in Deutschland arbeitssuchenden zugewanderten EU-Mitbürgern hinnehmbar ist.
Argumente gegen die Gewährung von ALG II
Eine Gewährung von ALG II an zugewanderte EU-Bürger wäre mit negativen Anreizwirkungen verbunden. Da das deutsche ALG II deutlich über dem in anderen Staaten gewährten Mindestsicherungsniveau liegt, könnte die Gewährung von ALG II zu einer Zunahme der Einwanderung solcher EU-Bürger führen, die trotz Arbeitswilligkeit mangels Qualifikation und Sprachkenntnissen kaum eine Chance auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben. Derartige Personen leben derzeit für die Dauer ihrer Arbeitssuche weit unter dem in Deutschland eigentlich akzeptierten sozio-kulturellen Existenzminimum.
Trotzdem könnte man diesen Personen die Hilfe verweigern, da in der europäischen Freizügigkeitsrichtlinie das Ursprungslandprinzip verankert ist. Sofern sich eine Person im EU-Ausland vergeblich um Arbeit bemüht und in Folge dessen bedürftig wird, steht dieser Person die Möglichkeit offen, die eigene Hilfebedürftigkeit durch eine Rückkehr in ihr Heimatland und das dortige Sozialsystem zu überwinden. Verzichtet eine Person auf diese Möglichkeit, besteht im Zielland kein Sozialhilfeanspruch. Gemäß derselben Logik wird auch von inländischen Hilfebedürftigen verlangt, Möglichkeiten zur Begrenzung der Hilfebedürftigkeit zu nutzen. Lehnt ein inländischer Hilfebedürftiger etwa eine zumutbare Arbeit ab, kann das ALG Â Â Â Â Â II gekürzt werden oder im Wiederholungfall theoretisch sogar vorübergehend vollständig gestrichen werden. In beiden Fällen wird eine vorübergehende Unterschreitung des Existenzminimums hingenommen, um Fehlanreize zu verhindern, die aus einer fehlenden Einforderung von Eigenbemühungen von Hilfebedürftigen resultieren.
Argumente für die Gewährung von ALG II
Schon in der Vergangenheit sind aus EU-Staaten mit wesentlich geringerem durchschnittlichem Wohlstand Einwanderer nach Deutschland gekommen, die aufgrund zumindest kurzfristig mangelnder Arbeitsmöglichkeiten hilfebedürftig waren. Diese Personen ziehen offenbar ein Leben in Deutschland auch dann einem Verbleib in ihren Heimatländern vor, wenn sie in Deutschland mit einem geringeren Lebensstandard rechnen müssen als nach deutschen Gesetzen als Existenzminimum angesehen wird.
Die Forderung, erfolglos arbeitssuchende EU-Bürgern in ihre Heimatländer abzuschieben, erscheint angesichts eines Europas ohne Grenzkontrollen praktisch kaum umsetzbar. Es ist daher davon auszugehen, dass ein Großteil dieser zur Einwanderung entschlossenen Personen dauerhaft in Deutschland verbleiben wird, unabhängig davon, ob sie über hinreichende finanzielle Mittel zur Deckung des in Deutschland akzeptierten Existenzminimums verfügen. Dann aber erscheint es kaum sinnvoll möglich, diesen Personen die Hilfe vorzuenthalten, die man anderen hilfebedürftigen Mitmenschen gewährt. Nach den oben skizzierten Gedanken garantiert man hilfebedürftigen Mitmenschen ein sozio-kulturelles Existenzminimum, wenn man andernfalls selbst negativ betroffen wäre. Nach dieser Argumentation bliebe den Mit-Leidenden nichts weiter übrig als zu helfen, wenn sie die Hilfebedürftigkeit bemerken.
Bei dauerhaft in Deutschland verbleibenden Personen sollte zudem vielmehr darüber diskutiert werden, wie diese in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden können, damit sie ihren Lebensunterhalt perspektivisch eigenständig verdienen können. Vor diesem Hintergrund erscheinen beispielsweise Markteintrittsbarrieren, wie ein hoher gesetzlicher Mindestlohn, als besonders schädlich, da dadurch Personen mit niedriger Produktivität dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen bzw. zu Schwarzarbeit verdammt werden.
Angesichts des aus deutscher Sicht sehr niedrigen Qualifikations- und Bildungsniveaus einiger Zuwanderer, steht zudem die Sozialarbeit in den Kommunen vor neuen Herausforderungen. Aufgrund der Bildungsferne einiger Zuwanderer sowie der Angst vor der Abschiebung in ihre Heimatländer, stehen viele Zuwanderer staatlichen Angeboten skeptisch gegenüber. Dies gilt sowohl für die Schulpflicht für minderjährige Kinder dieser Migranten als auch für Integrations- und Qualifizierungskurse.
Die Gewährung von ALG II an Zuwanderer könnte dazu beitragen, dieser Skepsis entgegenzuwirken. Schließlich wird das ALG II nicht bedingungslos gewährt, sondern ist abhängig von Bemühungen des Arbeitssuchenden eine Beschäftigung zu finden. Arbeitssuchende, deren Qualifikation für den Arbeitsmarkt nicht ausreicht, sind verpflichtet an Qualifikationsmaßnahmen teilzunehmen. Im Fall eines unentschuldigten Fernbleibens stehen dann die im ALG Â Â Â II-System verankerten finanziellen Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Dieses Prinzip des Förderns und Forderns könnte dazu beitragen, die Arbeitsmarktintegration von Zuwanderern zu beschleunigen. Schließlich scheitert deren Jobsuche wohl äußerst selten an mangelnder Arbeitswilligkeit: Die Migrationsentscheidung ist in der Regel vom Wunsch geprägt, der Armut des Heimatlandes zu entkommen und sich ein besseres Leben aufzubauen.
Es bedarf einer ehrlichen Abwägung
Die Gewährung von ALG II für Zuwanderer führt tendenziell zu mehr Zuwanderung und zumindest vorübergehend zu höheren Kosten des Sozialsystems. Eine Leistungsverwehrung hingegen erfordert die Akzeptanz existenzieller Armut mitten unter uns und behindert darüber hinaus eine schnelle Integration der entschlossenen, aber förderbedürftigen arbeitswilligen Einwanderer. Die Abwägung der Alternativen muss politisch getroffen werden und darf nicht länger einzelnen Sozialgerichten überlassen werden.
Hinweis
Dieser Text ist zugleich als Ausgabe Nr. 03/2014 der Reihe Ordnungspolitischer Kommentar des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln und des Otto-Wolff-Instituts für Wirtschaftsordnung erschienen.
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