Die Kosten der Einheit?

Zwei Billionen Euro soll die deutsche Vereinigung bisher gekostet haben. Jedenfalls ist das die Zahl, mit der die Welt am Sonntag[1] kürzlich die Öffentlichkeit schockierte. Die Zeitung beruft sich dabei auf Schätzungen des „Forschungsverbunds SED-Staat“ an der FU Berlin, bei denen sämtliche Zahlungsströme zwischen West- und Ostdeutschland (zuzüglich der Leistungen der EU an die ostdeutschen Länder) eingerechnet werden.

Unabhängig davon, ob diese Zahl zutrifft oder nicht (alternative Rechnungen des ifo Instituts kommen auf rund 1,6 Bio. Euro Nettotransfers zwischen West- und Ostdeutschland), ist es nicht gerechtfertigt, diese Zahlungen als „Kosten der Einheit“ zu titulieren. Ostdeutschland ist eine strukturschwache Region und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Das bedeutet aber, dass die dort erzielten Steuer- und Beitragseinnahmen vergleichsweise gering ausfallen. Gleichzeitig entstehen aufgrund gesamtdeutsch geltender Regelungen dort hohe Ausgabenbedarfe: Der bundesstaatliche Finanzausgleich gewährleistet allen Ländern unabhängig von ihrer originären Steuerkraft eine in etwa gleich hohe Mittelausstattung pro Kopf, die immer noch hohe Arbeitslosigkeit führt zu überproportional hohen Ausgaben für Lohnersatzleistungen, die im Einigungsvertrag beschlossene Vereinheitlichung des Rentenversicherungssystems führt zu einem hohen Zuschussbetrag in der Gesetzlichen Rentenversicherung. Hinzu kommen schließlich Ausgaben für den Ausbau der Infrastruktur und die Wirtschaftsförderung, die nach der geltenden Aufgabenverteilung im föderalen Staat zu einem erheblichen Teil vom Bund und damit aus dem in Westdeutschland erwirtschafteten Steueraufkommen zu zahlen sind.

Eine Transferbilanz, wie sie von der Welt am Sonntag aufgemacht wird, ließe sich in gleicher Weise auch für strukturschwache Regionen und Bundesländer im Westen Deutschlands aufmachen; tatsächlich zeigen frühere Rechnungen beispielsweise des IAB, dass auch dort erhebliche „Zuschussbedarfe“ im Rahmen der Sozialversicherungen entstehen; auch die Zahlungen im Länderfinanzausgleich begünstigen die wirtschaftsschwachen Länder (im Osten und Norden) zulasten der wirtschaftsstarken Regionen (im Süden der Bundesrepublik). Ernsthaft in Frage gestellt werden diese Transfers nicht – und niemand käme auf die Idee, diese als „Kosten“ der nach der Reichsgründung von 1871 vollzogenen „Vereinigung“ der süddeutschen und norddeutschen Landesteile anzusehen.

Als „Kosten der Einheit“ ließen sich bestenfalls jene Zahlungen interpretieren, die den Osten Deutschlands überproportional begünstigen: Die mit der Privatisierung der ehemals Volkseigenen Betrieben verbundene Ausgabenüberschuss der Treuhandanstalt (100 Mrd. Euro einschließlich der Altschuldenübernahme von DDR-Betrieben), die an die Länder geleisteten zusätzlichen Zuweisungen im Rahmen der Solidarpakte I und II (163 Mrd. Euro) und die Investitionszulagen (35 Mrd. Euro), zusammen also rund 300 Mrd. Euro. Auch das ist eine stolze Summe, ist jedoch deutlich weniger als die von der Welt am Sonntag genannten Zahlen.

Wenn man schon den Versuch macht, die Transferleistungen für die ostdeutschen Länder zu quantifizieren, so sollte man eher deren Struktur thematisieren: Rund zwei Drittel der Gelder dienen sozialpolitischen Zwecken, also quasi der „Reparatur“ von Fehlern, die im Zuge des Aufbau Ost gemacht wurden. Jener ist nämlich lange nicht so erfolgreich wie es im Zuge allfälliger Jahrestage gerne gefeiert wird: Die Wirtschaftskraft liegt um etwa ein Viertel hinter dem westdeutschen Durchschnittswert; der Konvergenzprozess ist seit beinahe 15 Jahren ins Stocken geraten. Dies hat strukturelle Ursachen, die sich nicht leicht beheben lassen, wie die kleinteilige Wirtschaftsstruktur oder dass die ostdeutschen Industriebetriebe zumeist reine Produktionsstätten mit eher geringer Wertschöpfungstiefe sind. Gerade vor diesem Hintergrund ist es problematisch, dass nur rund ein Zehntel der gesamten Transferzahlungen für wachstumsorientierte Zwecke ausgegeben wird. Gerade hier läge aber der Ansatzpunkt, den Osten in die Lage zu versetzen, künftig rascher aufzuholen und damit auch die Transferbilanz zu verbessern: Notwendig sind Maßnahmen der Wirtschaftsförderung, die stärker auf die Erhöhung der technologischen Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Unternehmen in der Breite gerichtet sind (z.B. durch eine Förderung des Technologietransfers), Investitionen in die Bildungssysteme (zur Behebung der absehbaren Fachkräftedefizite), sicherlich auch Maßnahmen zum demographiegerechten Umbau von Infrastrukturen. Weder die Bundesregierung noch die Regierungen der ostdeutschen Länder haben diese Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik für den Osten tatsächlich bereits vollzogen; noch viel zu oft herrscht die Vorstellung vor, durch rein quantitativen Infrastrukturausbau oder weitere Sachkapitalförderung könne der Schwenk hin zu verstärkter Konvergenz noch geschafft werden. Wenn dies aber nicht gelingt – und so sieht es derzeit aus – dann wird der Osten Deutschlands wohl ein „Mezzogiorno“ bleiben, mit fortdauernd hoher Transferabhängigkeit. Noch ist es nicht zu spät, dieses Szenario abzuwenden – aber spät ist es schon, denn spätestens 2020, wenn der Solidarpakt II ausgelaufen ist, werden hierfür schlicht die Mittel fehlen. Es ist daher Zeit, nun eine Diskussion darüber zu führen, welche Politik für den Osten künftig nötig ist – nicht darüber, wie viel Geld das Ganze bereits gekostet hat.

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