Ende der dritten Welle der Demokratisierung?

Bundespräsident Gauck hat in der vergangenen Woche deutliche Worte an die türkische Regierung gerichtet, weil diese seit Jahren schleichend an der Aushöhlung der türkischen Demokratie arbeitet. Die Reaktion war schon fast die übliche: Man verbat sich eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Das ist so etwas wie der rhetorischer Standard-Kniff schlechthin, denn mit ihm kann man sich selbst mit dem Rest des Landes gegenüber einem scheinbar von außen geführten Angriff verbünden, welcher die Integrität des Gemeinwesens gefährdet. Nicht allein diese Rhetorik, sondern vielmehr die ganze Methodik des türkischen Ministerpräsidenten erinnert an den zeitgleich in Russland stattfindenden Rückbau der politischen Freiheit, und diese wiederum an das, was Janukowitsch vor seinem Sturz in der Ukraine betrieb und was schließlich, wenn auch gebremst durch die institutionelle Kontrolle der EU, im Ungarn des Viktor Orban zu beobachten ist.

Dabei fallen zwei Dinge auf: Erstens sind Erdogan, Putin, Orban und zumindest in einem erheblichen Teil der Ukraine auch Janukowitsch in einer breiten Bevölkerungsschicht auffallend populär, und es drängt sich zumindest der Eindruck auf, dass sie ihre Popularität nicht trotz, sondern gerade durch ihren verfassungspolitischen Kurs gegen das freiheitliche Demokratiemodell des Westens zu steigern imstande sind. Dadurch haben sie es zweitens kaum nötig, allzu offen gegen die Regeln dessen zu verstoßen, was gemeinhin als Indikator eines demokratischen Systems gilt: Die allgemeine und öffentliche Wahl der Regierung. Sicher, es gibt bei Wahlen immer wieder Zweifel daran, dass im Einzelfall alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Aber im Großen und Ganzen stellte sich solche Manipulationen meist als eine Art Übervorsicht der Herrschenden heraus, denn der Wahlsieg war in der Regel kaum ernsthaft gefährdet. So ähnlich lagen die Dinge dann auch bei der Annexion der Krim durch Putin, welche von einer fast schon überwältigenden Mehrheit der dortigen Bevölkerung offen begrüßt wurde.

Wer nun die Demokratie tatsächlich auf die Zustimmung der Mehrheit zu einer bestimmten Person oder Politik reduziert, der mag in allen diesen Dingen kein Problem sehen. Die Verstöße gegen die demokratischen Verfassungsgrundsätze beziehen sich denn auch regelmäßig weniger auf die Wahlen selbst als auf einen anderen Aspekt, und dessen Bedeutung für die politische und am Ende auch die zivile Freiheit wird auch hier im Westen gern einmal unterschätzt. Die Angriffe gelten in aller Regel der Gewaltenteilung und der Kontrolle der Politik durch freie Medien. Daraus lässt sich ein schlagkräftiger Cocktail mixen, der inzwischen mitten in Europa wieder zunehmend Verbreitung findet. Es werden nationale Ziele definiert und zugleich äußere ebenso wie innere Feinde, welche für die nationalen Ziele eine scheinbar reale Gefahr darstellen. Diese realen Gefahren „zwingen“ die Regierungen dazu, eine Politik aus einem Guss zu formulieren, was mit „westlicher“ Gewaltenteilung der unterschiedlichen staatlichen Organe nicht vereinbar ist, sofern diese vom vorgegebenen Kurs der Regierung abweichen – wofür sich bei Bedarf immer Hinweise finden lassen. Und weil es naheliegt, dass solche Abweichungen auf äußere Feinde oder subversive innere Feinde zurückzuführen sind, lassen sich Übergriffe auf Justiz, Opposition und Medien im Namen der nationalen Ziele in einer Weise rechtfertigen, welche vielen unmittelbar einleuchtet.

Natürlich ist dieses Muster nicht neu. Neu ist allenfalls, dass es nach bald zweieinhalb Jahrzehnten kontinuierlicher Demokratisierung in Mittel- und Osteuropa plötzlich an allen Enden wieder aufscheint. In den meisten etablierten Demokratien des Westens hat eine solche Praxis dagegen kaum eine Chance, obwohl die oberflächliche Plausibilität hier ja nicht anders erscheinen kann als dort. Dennoch sähen sich Regierungschefs, die sich solche Übergriffe leisten würden, spätestens bei der nächsten Wahl aus dem Amt entfernt, unabhängige Gerichte würden sie aber höchstwahrscheinlich schon früher in ihre Grenzen weisen, und die Verwaltungen würden das übrige tun, um den Entscheidungen der Gerichte und spätestens jenen der Wähler Gültigkeit zu verschaffen. Da mag der Regierungschef populär sein, da mag es um scheinbar wichtige Dinge gehen, die Systemzusammenhänge der Gewaltenteilung gelten dann doch immer wieder als unantastbar. Ebenso ist das inzwischen in zahlreichen ehemals sozialistischen Ländern, welche sich vor nunmehr zweieinhalb Jahrzehnten aus der Umklammerung der ehemaligen Sowjetunion lösten und heute ganz selbstverständlich zur demokratischen Welt gehören.

Demokratisierung
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Warum aber gelang es diesen letzten Staaten, ihre Demokratien mit Hilfe einer allgemein akzeptierten Unantastbarkeit der effektiven Gewaltenteilung sowie der unverletzlichen öffentlichen Kontrolle durch Meinungsfreiheit und Medien zu stabilisieren, während andere Länder – zum Teil nach einer erheblichen demokratischen Zwischenphase – nun doch wieder in alte Muster zurückfallen? Warum erscheint es in vielen Ländern einer breiten Öffentlichkeit geradezu natürlicherweise sinnvoll zu sein, die Macht zu konzentrieren und alle staatlichen Organe auf eine gemeinsame Linie zu bringen mit dem Argument, nur so können die wichtigen nationalen Ziele gegen allerlei äußere und innere Bedrohung verteidigt werden? Und warum erscheint es in den übrigen Ländern gerade umgekehrt einzig sinnvoll zu sein, jedem staatlichen Organ seine begrenzte Macht zuzuweisen und jeden staatlichen Repräsentanten wirkungsvoll abzustrafen, der es wagt, diese Grenzen zu überschreiten?

Offenbar ist der Rückbau der Demokratien in manchen Staaten nicht allein mit dem zufälligen historischen Auftauchen bestimmter Persönlichkeiten zu erklären. Wären es nicht Putin, Janukowitsch, Erdogan oder Orban gewesen, es hätte höchstwahrscheinlich andere gegeben. Wenn wir uns die ehemaligen sozialistischen Länder Mittel- und Osteuropas und jene der ehemaligen Sowjetunion einmal ansehen, dann gibt es zunächst die Gruppe jener acht Länder, welche 2004 der EU beigetreten sind und welche heute im Wesentlichen als stabile Demokratien gelten dürfen. Daran hat es zwischenzeitlich in Lettland Zweifel gegeben, die aber inzwischen als ausgeräumt gelten dürften. Lediglich Ungarn gibt inzwischen Anlass zu nachhaltigem Zweifel, was interessant ist, denn man hätte gerade diesem Land einen solchen Rückbau von Demokratie nicht zugetraut. Abbildung 1 zeigt für die Jahre 2005 und 2012 den Durchschnitt der gängigsten Demokratieindikatoren an, und zwar jenen des Freedomhouse-Thinktanks und jenen des Polity-IV Datensatz der George-Mason-University. Die Indikatoren sind so umbasiert, dass ein Wert von null eine vollständige Autokratie und ein Wert von 10 eine vollständige Demokratie anzeigt. Außerdem zeigt sie die Veränderung der Werte zwischen 2005 und 2012. Abbildung 2 zeigt mit denselben Daten das ganze Gegenstück zur Entwicklung der ersten EU-Beitrittsländer: Es sind die fünf zentralasiatischen Staaten, von denen allein Kirgisien überhaupt so etwas wie ein zartes Demokratiepflänzchen gepflegt hat, welches in den Jahren zwischen 2005 und 2012 auch ein wenig gewachsen ist. Die Kaukasusregion zeigt in Abbildung 3 ein absolut durchwachsenes Bild. Keines der Länder kann so etwas wie eine stabile Demokratie aufweisen. Die aus Jugoslawien hervorgegangenen Staaten (außer Slowenien) zeigen nach dem Krieg immerhin einen gewissen Aufholprozess, dessen mittel- bis langfristige Entwicklung aber noch kaum absehbar ist (Abbildung 4); und schließlich bieten die ehemaligen sowjetischen Staaten Europas außerhalb der drei baltischen Staaten ein durch und durch betrübliches Bild (Abbildung 5). Wenn wir den Zerfall der Ukraine mit berücksichtigen, dann kann allein Moldawien eine signifikante Demokratisierung aufweisen, während Russland auf dem besten Wege ist, Gewaltenteilung, Pressefreiheit und zivile Freiheit zumindest für die mittlere Zukunft abzuschaffen.

Demokratisierung
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Was erklärt nun die Persistenz politischer Unfreiheit? Warum ist die Demokratie zunächst überall gewachsen, um sich dann aber doch nur in einer Handvoll von Ländern als nachhaltig zu erweisen? Und warum gerade in diesen und nicht in anderen Ländern? Warum stockt ihre weitere Entwicklung in vielen Ländern, und warum wird sie anderswo sogar machtvoll zurückgedreht, wie in fast allen zentralasiatischen Staaten, und warum schließlich höhlen nunmehr gleich einige Länder mitten in Europa die bis dato geschaffenen demokratischen Strukturen wieder aus und ernten dafür in breiten Teilen – wenn nicht in der Mehrheit – der Bevölkerung sogar große Zustimmung? Offenbar sind allein solche Gesellschaften nachhaltig demokratiefähig, in welchen Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit von ebendieser breiten Öffentlichkeit nicht als Bedrohung für die Fortexistenz von Nation und Gesellschaft, sondern im Gegenteil als deren Voraussetzung wahrgenommen wird. Denn die breite Öffentlichkeit findet es in manchen Ländern natürlich, die Gewaltenteilung zu unterstützen, während sie es in anderen Ländern mindestens ebenso natürlich findet, die starken Männer zu unterstützen, denen die Gewaltenteilung nur im Wege steht. Die Proteste des Taksim-Platzes in Istanbul, des Maidan-Platzes in Kiew und die Pro-Demokratie-Aktivitäten in Moskau und anderswo erscheinen aus unserer westlichen Sicht wie Bürgerbewegungen, aber in Wirklichkeit repräsentieren sie doch fast nie eine breite Bevölkerungsmehrheit, und gerade das macht es ihren Gegnern immer wieder leicht, sie gar als undemokratisch und immer wieder gern auch als „westlich gesteuert“ zu diskreditieren – worauf dann vor allem auch viele westliche Beobachter selbst hereinfallen.

Was ist es also, was es braucht, um die Bevölkerung hinter jene Institutionen und Kontrollmechanismen zu versammeln, welche die Putins, Janukowitschs und Erdogans abstrafen und dabei selbst strikt im Rahmen jener Regeln bleiben, welche eine gewaltenteilige Demokratie zu schützen hat? Und was ist es, was die Bevölkerung anderswo nicht hinter diese Institutionen versammelt, sondern gerade hinter die Putins, Janukowitschs und Erdogans? Darüber ist gerade in den letzten Jahrzehnten viel geschrieben worden. Der Politologe Seymor Lipset hatte schon 1959 den Grad an „Modernität“ herangezogen, den Wirtschaft und Gesellschaft in der Vergangenheit entwickelt haben müssen, damit es zu dem nötigen Wandel kommt. Adam Przeworski, ein anderer Politologe, hat in jüngerer Zeit die Höhe des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens verantwortlich gemacht, denn relativ wohlhabende Menschen wollten aus seiner Sicht für diffuse nationale Ziele keinen Sturz bestehender Verhältnisse riskieren, weil sie einfach zu viel zu verlieren hätten. Und in der Tat: Haben demokratische Staaten einmal ein gewisses Pro-Kopf-Einkommen erreicht, so scheint es kein zurück mehr in die Autokratie zu geben. Das jedenfalls sagen uns die bisher vorliegenden Fakten.

Andere Wissenschaftler haben immer wieder die Religion ins Spiel gebracht und dabei die orthodoxe Kirche, vor allem aber den Islam als inkompatibel mit der Demokratie gesehen. Einen überzeugenden Grund dafür, warum das so sein sollte, konnten sie aber bis heute nicht liefern, und was die reinen Fakten angeht, so überlappen sich Islam und die Historie der arabischen Welt so weit, dass nie klar wird, was Ursache und was Wirkung ist. Seit einigen Jahren ist es schließlich gerade auch unter Ökonomen angesagt, Kultur als erklärenden Faktor zu identifizieren, wobei unter Kultur eine Menge an Loyalitäten und Glaubenssätzen (beliefs) verstanden wird, welche von Generation zu Generation weitergegeben wird und daher langlebiger ist als die sich in den letzten Jahrzehnten oft schnell wandelnden politischen Institutionen. Man unterscheidet dabei zwischen „individualistischen“ und „kollektivistischen“ kulturellen Hintergründen, wobei letztere eben nur schwer mit dem „westlichen“ Verständnis der sich systematisch gegenseitig kontrollierenden staatlichen Institutionen mitsamt der kritischen öffentlichen Kontrolle vereinbar sei. Wer kollektivistisch denkt, dem muss es demnach naturgemäß erscheinen, dass alle staatlichen Stellen an einem Strang zu ziehen haben und sich nicht gegenseitig in Schach halten; und ihm muss es naturgemäß erscheinen, dass alle staatlichen Stellen aufeinander eingeschworen sein müssen und sich nicht von – womöglich von außen beeinflussten – kritischen Kräften von ihrem gemeinsamen Kurs abbringen lassen.

Das mag alles so sein. Aber wenn man genau hinsieht, ist es doch nur eine nähere Beschreibung der Problematik selbst und keine Erklärung. Denn mit dem Adjektiv „individualistisch“ beschreibt man nur die eine Haltung und mit dem Adjektiv „kollektivistisch“ die andere. Eine Erklärung ist das noch nicht. Zwar liegen durchaus anspruchsvolle spieltheoretisch Modelle vor, aber sie setzen ebenjene individualistischen und kollektivistischen Hintergründe im Grunde nur voraus, statt ihre Hintergründe zu erklären. Das gleiche gilt für empirische Analysen, welche mit früher nicht verfügbaren Daten aus zum Teil grauen Vorzeiten immer neue Instrumentvariablen zum Einsatz bringen, mit denen sich Kausalitäten belegen lassen; allerdings liegen dies meisten dieser Kausalitäten ohnehin auf der Hand. Alle diese Methoden nützen insoweit noch wenig, so lange sie die alles entscheidende Frage lediglich umformulieren, statt sie tatsächlich beantworten zu können; und diese Frage lautet nicht ob, sondern warum jene Menschen kollektivistisch denken, welche die anti-plurale Politik der Putins und Erdogans, der Janukowitschs und der Orbans im natürlichen Interesse ihres Landes finden. Dass sie das tun, liegt auf der Hand; aber warum sie es tun, das ist es, was bis heute ungeklärt ist; und so bleibt es auch fürs erste ungeklärt, ob die von Samuel Huntington Anfang der 1990er Jahre so bezeichnete „dritte Welle“ der Demokratisierung heute an ihre Grenzen stößt, weil viele Gesellschaften die mit nachhaltiger Demokratie verbundenen institutionellen Kontrollmechanismen einfach nicht natürlich finden und daher früher oder später ihren Putin finden und ihm zujubeln werden. Und uns Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern bleibt die Aufgabe zugewiesen, den Hintergrund dessen irgendwann wirklich zu verstehen, was diese Haltung einer breiten Öffentlichkeit treibt. Nur eines dürfte klar sein: Freiheitliche Gesellschaften sind weit voraussetzungsvoller, als wir uns das gedacht und gewünscht hatten.

Thomas Apolte
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Eine Antwort auf „Ende der dritten Welle der Demokratisierung?“

  1. Kann mir irgendjemand erklären von wem „Demokratisierungswellen“ losgetreten werden ? Achja, ich weiss, es sind die Menschen in den durch Willkür gezogenen Grenzen. Aber von wem kommen die Grenzziehungen ? Wer ist verantwortlich für die „Demokratisierung“ in Afrika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ? Achja, lassen Sie mich raten: den Menschen. Tsss, dieser Artikel ist einfach nur schwach. Was die unterschiedlichen politischen Systeme anbelangt gibt es nur eine Antwort: in gewisserweise sind sie alle totalitär – ab einem gewissen Punkt lässt keiner mehr mit sich reden, weil sie alle in bestimmten Parametern ablaufen, die sie ( in ihrer Anschauung und Auslegung ) begrenzen. Die Ukraine ist ein Spielfeld für die „Elite“ in Ost und West – obwohl man nicht bestreiten kann ( oder besser sollte ), dass etwas wahres an der Meinung des Herren Putin ist – obwohl outdated und im Kontext verdreht. Ich bin ja mal gespannt, wann Herr Klitschko ans Mikro tritt und verkündet, WAS jetzt so neues und wunderbares kommen soll – sicherlich im Willen ALLER Menschen, jaja. Aber nein, er hat ja schon seine Aufgabe erfüllt – eben wie im Boxring ( verzeihen Sie mir die Ausdrucksweise ): immer voll auf die Fresse.

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