Ordnungspolitischer Kommentar
Ein Wettbewerbsschwächungsgesetz für die GKV?

Im zwischen CDU, CSU und SPD vereinbarten Koalitionsvertrag sind tiefgreifende sozialpolitische Änderungen vorgesehen. Während über Mindestlohn und „Rente mit 63“ intensiv diskutiert wird, finden die Änderungen an der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in der Öffentlichkeit kaum Beachtung. Dies aber zu Unrecht, wie sich bei einem kritischen Blick auf die Reform des Zusatzbeitrags zeigt.

Die derzeitige Finanzierung der GKV

Das System der GKV wird klassischerweise über lohnabhängige Beiträge finanziert. Diese werden gemäß dem Quellenabzugsverfahren direkt vom Arbeitgeber abgeführt. Dies hat zur Folge, dass Arbeitnehmer die GKV-Beiträge lediglich bei einer Prüfung der Gehaltsabrechnung überhaupt wahrnehmen. Betrachtet ein Arbeitnehmer ausschließlich sein Nettoeinkommen, unterliegt dieser in Bezug auf die Krankenversicherung einer Nullkostenillusion. Ein Vergleich der Leistung mit den Kosten einer Krankenversicherung erfolgt daher im Bereich der GKV nur in begrenztem Maße. Zudem seit 2009 der Beitragssatz für alle Kassen einheitlich festgelegt ist.

Allerdings besteht ein ergänzendes Finanzierungsinstrument, welches potenziell Preiswettbewerb erlaubt. Der Gesetzgeber hat 2007 den Zusatzbeitrag eingeführt, welcher seit 2011 ausschließlich pauschal, also unabhängig vom beitragspflichtigen Einkommen als fester Betrag pro Versichertem, erhoben werden darf. Den pauschalen Zusatzbeitrag erheben die Krankenkassen nicht im Quellenabzugsverfahren, sondern stellen diesen ihren Versicherten direkt in Rechnung. Ziel war die Erhöhung des Kostenbewusstseins der Versicherten, um durch erhöhte Kostentransparenz den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen zu intensivieren und dadurch Effizienzpotentiale zu erschließen. Diese Strukturreform wurde gegen erhebliche Widerstände mancher Krankenkassen, welche einen harten Preiswettbewerb fürchteten, sowie der Versicherten, bei denen die für diese unmittelbar spürbaren Zusatzbeiträge unbeliebt sind, durchgesetzt. Tatsächlich zeigte sich empirisch nach Einführung der Zusatzbeiträge eine höhere Wechseltätigkeit der Versicherten, welche auf einen verstärkten Wettbewerb der Krankenkassen schließen lassen kann.

Der mit der Einführung des pauschalen Zusatzbeitrags intendierte Kosten-Nutzen-Vergleich durch den Konsumenten wurde allerdings dadurch etwas konterkariert, dass der Gesetzgeber 2011 den allgemeinen Beitragssatz von 14,9 % auf 15,5 % anhob. Infolgedessen mussten nur wenige Krankenkassen einen Zusatzbeitrag erheben. Die große Mehrheit der Versicherten unterlag somit weiter einer Nullkostenillusion. Lediglich für Personen, die bei einer der wenigen Krankenkassen mit Zusatzbeitrag versichert waren, wurde die Nullkostenillusion aufgelöst, worauf diese mit vermehrten Wechseln zu Krankenkassen ohne Zusatzbeitrag reagierten. Viele Krankenkassen betrieben daher einen großen Aufwand, um keinen Zusatzbeitrag erheben zu müssen. Im Hinblick auf die Schaffung eines Kosten-Nutzen-Bewusstseins bei den Versicherten wäre es daher besser gewesen, auf die allgemeine Beitragserhöhung 2011 zu verzichten, so dass alle oder jedenfalls viele Krankenkassen zur Deckung des erhöhten Finanzierungsbedarfs einen Zusatzbeitrag hätten erheben müssen.

Weichenstellung für Innovationswettbewerb?

Die neue Bundesregierung plant nun, den pauschalen Zusatzbeitrag durch einen nur vom Arbeitnehmer zu zahlenden lohnabhängigen Zusatzbeitrag zu ersetzen. Inwiefern sich aus einer Reform der Erhebungsform des Zusatzbeitrags Auswirkungen auf die Wettbewerbsintensität ergeben, ist zunächst unklar. Von pauschalen Zusatzbeiträgen gehen tendenziell stärkere Wechselanreize für Personen mit geringen Lohneinkommen aus, während lohnabhängige Zusatzbeiträge tendenziell stärkere Wechselanreize für Personen mit höherem Lohneinkommen induzieren. Welcher dieser Effekte zu einer höheren Wettbewerbsintensität führt, ist bei theoretischer Betrachtung unklar.

Eindeutig negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsintensität hat allerdings die von der Bundesregierung geplante Erhebung des lohnabhängigen Zusatzbeitrags mittels des Quellenabzugsverfahrens. Dadurch wird wiederum die Spürbarkeit der Preise eingeschränkt und folglich auch der Preiswettbewerb geschwächt. Dies ist offensichtlich auch die Absicht der Bundesregierung, welche erklärt, die „ungewollte Dominanz des Preiswettbewerbs“ beenden zu wollen. Der zuvor verfolgte Ansatz, durch die Schaffung von Kostentransparenz und Preiswettbewerb zwischen den Krankenkassen Effizienzsteigerungen zu erreichen, wird damit ausdrücklich aufgegeben.

Der Gesetzgeber verspricht sich von der gezielten Reduktion des Preiswettbewerbs eine stärkere Qualitäts- und Innovationsorientierung. Wird der Preis als Wettbewerbsparameter geschwächt, könnten sich Krankenkassen durch das Angebot besserer Leistungen einen Vorteil erhoffen. Offensichtlich liegt diesem Ansatz die These zugrunde, eine gewisse Preisillusion sei notwendig, damit Krankenkassen in eine Verbesserung der heutigen und zukünftigen Versorgungsqualität investieren können. Dass Krankenkassen nunmehr gerade verstärkt derartige Investitionen tätigen, ist allerdings aus drei Gründen nicht zu erwarten. Erstens bestehen institutionelle Hürden für einen Versorgungswettbewerb wie z.B. das kollektive Vergütungssystem, welche Investitionen in die Versorgungsqualität behindern. Zweitens haben Krankenkassen im GKV-System solange keinen Anreiz, in zukünftige Qualitätsverbesserungen zu investieren, wie heutige Versicherten derartigen Investitionen nur einen geringen Nutzen beimessen. Drittens geht von dem bestehenden Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) eine präventions- und innovationshemmende Wirkung aus: Investiert eine Krankenkasse etwa in ein Präventionsprogramm, könnte sie damit im Erfolgsfall die Krankheitswahrscheinlichkeit ihrer Versicherten senken. Die Logik des Risikoausgleiches führt aber dazu, dass diese Krankenkasse zukünftig entsprechend weniger Zuweisungen aus dem Morbi-RSA erhalten würde. Im heutigen System trägt eine Krankenkasse also die vollen Investitionskosten, während die finanziellen Erträge der Investition sozialisiert werden. Insgesamt ist daher abzusehen, dass Krankenkassen tendenziell den Weg des geringsten Widerstands wählen und den durch die Schwächung des Preiswettbewerbs entstehenden finanziellen Spielraum für einen Verzicht auf höchst unpopuläre Effizienzsteigerungen in den Verwaltungsstrukturen (z.B. Kassenfusionen, Schließung von Geschäftsstellen) nutzen werden.

Ist der Verzicht auf den Sozialausgleich ein Vorteil?

Die Interessenvertreter der Krankenkassen bejubeln die vorgeschlagene Finanzierungsreform, da dadurch die Notwendigkeit eines (bei pauschalen Zusatzbeiträgen notwendigen) Sozialausgleichs entfällt. Dies sei „gelebter Bürokratieabbau“. Diese Argumentation greift allerdings aus zwei Gründen zu kurz.

Erstens bietet ein solcher Sozialausgleich die Chance, die Umverteilung in der GKV endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen. Diese berücksichtigt derzeit ausschließlich Lohneinkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Eigentlich sind sich fast alle Parteien einig, dass diese Art der Umverteilung nicht sinnvoll ist. Schließlich ist das Lohneinkommen kein hinreichender Indikator für das Gesamteinkommen, da andere Einkommensarten (z.B. Kapitalerträge, Einkommen aus Vermietung- und Verpachtung) nicht berücksichtigt werden. Der Sozialausgleich, welcher eine finanzielle Überforderung durch Zusatzbeiträge verhindern soll, bietet die Gelegenheit, dieses Defizit aufzuheben und endlich alle Einkommensarten für die Bemessung des Umverteilungsbedarfs heranzuziehen. Zwar wurde bei Einführung des Sozialausgleichs im Jahr 2011 wiederum nur das Lohneinkommen berücksichtigt. Dieser Konstruktionsfehler hätte allerdings beseitigt werden können, um endlich einen großen Schritt in Richtung einer verteilungspolitisch sinnvollen Umverteilung zu gehen.

Zweitens steht dem Bürokratieabbau bei den Krankenkassen, welcher durch den Wegfall des Sozialausgleichs sowie die Anwendung des Quellenabzugsverfahrens für die Zusatzbeiträge entsteht, der Aufbau einer neuen Bürokratie an anderer Stelle gegenüber. Denn eine lohnabhängige Erhebung der kassenindividuellen Zusatzbeiträge erfordert einen Einkommensausgleich zwischen den Krankenkassen, um zu verhindern, dass eine Krankenkasse durch überdurchschnittlich hohe Lohneinkommen ihrer Versicherten einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil erzielt.

Fazit

Mit der Reform der Zusatzbeiträge wird auf der einen Seite Bürokratie bei den Krankenkassen abgebaut, um jedoch an anderer Stelle neue Bürokratie zu schaffen. Dabei ist zunächst unklar, welcher Effekt überwiegt. Allerdings wird durch die vorgesehene Reform das Konzept der Pauschalprämien inklusive des einkommensteuerfinanzierten Sozialausgleichs auf Jahre politisch verbrannt, somit also der Weg zu erhöhter Kostentransparenz, einer größeren Wettbewerbsintensität und einer Umverteilung gemäß der tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verbaut.

2007 wurden von der 2. Großen Koalition mit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz pauschale Zusatzbeiträge in der GKV eingeführt, was zu einer Stärkung der Kostentransparenz und einer Intensivierung des Wettbewerbs beigetragen hat. Die 3. Große Koalition bekennt sich nun hingegen ganz offen zu einem Wettbewerbsschwächungsgesetz, mit welchem der zuvor verfolgte Ansatz aufgegeben wird. Genauso wie bei der „Rente mit 63“ wird eine in der Vergangenheit als sinnvoll erkannte und gegen erhebliche Widerstände durchgesetzte Strukturreform zurückgenommen.

 

Dieser Text ist zugleich als Ausgabe Nr. 07/2014 der Reihe Ordnungspolitischer Kommentar des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln und des Otto-Wolff-Instituts für Wirtschaftsordnung erschienen.

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