Nobelpreis (2)
Viel Nutzen für die praktische Regulierung

Erstmals seit über 30 Jahren ist der Nobelpreis für Ökonomie bzw. – genauer gesagt – der von der Schwedischen Reichsbank gestiftete Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften wieder an einen Ökonomen verliehen worden, der sich im Kern seiner Arbeiten mit dem (unvollständigen) Wettbewerb auf Märkten und der Regulierung von Unternehmen befasst. 1982 hat George Stigler, einer der Hauptvertreter der sogenannten Chicago School, den Preis für seine bahnbrechenden Arbeiten über die Funktionsweise von Marktprozessen und über die Ursachen und Auswirkungen staatlicher Regulierung erhalten.[1] Stigler war – ganz typisch für die Chicago School – ein Skeptiker staatlicher Regulierung; er vertraute im Wesentlichen auf die Selbstheilungskräfte von Wettbewerbsprozessen, solange Märkte nicht kartelliert sind.

Der diesjährige Nobelpreisträger, Jean Tirole (Direktor des Institut d’économie industrielle (IDEI) an der Universität Toulouse I), hat den Preis – fast wortgleich zu Stigler –für seine Analysen von Marktmacht und Regulierung erhalten.[2] Jean Tirole symbolisiert wie vermutlich kaum ein anderer die sogenannte Post-Chicago School der Wettbewerbs- und Regulierungsökonomie, die sich – grob zusammengefasst – dadurch auszeichnet, weniger Daumenregeln zu betrachten, sondern die Umstände jedes einzelnen Falles im Detail zu analysieren und dabei insbesondere zu berücksichtigen, dass es Informationsdefizite auf Seiten der staatlichen Aufsichtsbehörden gibt. Im Großen und Ganzen kann durch intelligente Staatseingriffe und Regulierung die Effizienz von Marktprozessen verbessert und die Wohlfahrt gesteigert werden, so die durchaus optimistische Botschaft Tiroles.

Die unterschiedlichen Sichtweisen von Stigler und Tirole sind natürlich zum einen durch über 30 Jahre wissenschaftlichem Fortschritt zu erklären, werden zum anderen aber auch durch ihre persönlichen Werdegänge zumindest reflektiert. Während George Stigler durchweg ein Vertreter der Chicago School war, hat Jean Tirole zunächst in Paris Ingenieurswissenschaften und Mathematik studiert. Er wurde dann 1981 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) promoviert. Sein Doktorvater war Eric Maskin, der 2007 selbst (zusammen mit Leonid Hurwicz und Roger Myerson) den Ökonomie-Nobelpreis für Arbeiten über die Grundlagen der Mechanismus-Design-Theorie erhalten hat. Während Stiglers gesamtes Werk noch durch eine sehr kritische Haltung gegenüber staatlicher Regulierung gekennzeichnet war, ist Tiroles Werk diesbezüglich optimistischer. So gesehen mögen die Sozialisierung in Frankreich, eine ingenieurswissenschaftliche Ausbildung und auch die Promotion an einer technisch ausgerichteten Universität (im Gegensatz etwa zur University of Chicago), die Forschungsrichtung Tiroles durchaus erklären helfen.

Was ist das Bedeutende an den Arbeiten von Jean Tirole? Es ist weniger eine einzige brillante Idee oder Hypothese wie sie vielleicht die Arbeiten anderer Nobelpreisträger wie Oliver Williamson, Elinor Ostrom, Eugene Fama oder auch des zuvor letzten europäischen Ökonomie-Nobelpreisträgers Christopher Pissarides auszeichnet. Es ist auch nicht die Entdeckung einer neuen Methode wie etwa bei Christopher Sims oder Lars Peter Hansen. Es dürfte vielmehr die unglaubliche Anzahl sehr bedeutender, wirklich wichtiger Arbeiten sein und der Einfluss auf die Arbeiten anderer Ökonomen, der sich daraus ergeben hat.

Nehmen wir – als Ökonomen sicher ein guter Startpunkt – zunächst das Messbare, beginnen wir mit dem number crunshing. Tiroles Lebenslauf listet über 200 Beiträge in Fachzeitschriften auf, davon sind 57 in den fünf weltweit führenden Journalen veröffentlicht. Das allein ist ein unerhörter Wert: Schon eine einzige Publikation in den sogenannten Top-5 Zeitschiften kann eine akademische Karriere sichern. Zum Vergleich: Die im Handelsblatt-Ranking von 2013 aufgeführten Top-10 der Ökonomen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz kommen zusammen nach unserer eigenen Recherche in der Datenbank SCOPUS auf 44 Publikationen in den Top-5-Zeitschriften (und davon fallen allein 23 auf Ernst Fehr).[3] Dies macht deutlich, welche Kreativität und Leistung sich hinter den 57 Top-5-Publikationen von Jean Tirole verbirgt. Der Kreis der Ökonomen, die so regelmäßig in diesen Journalen veröffentlichen, ist weltweit sehr, sehr überschaubar.[4]

Jean Tirole hat die Ökonomie aber nicht nur durch viele Einzelbeiträge beeinflusst, sondern auch zehn Bücher – teilweise mit Koautoren – verfasst. Das bekannteste dürfte sein Lehrbuch „The Theory of Industrial Organization“ (1988) sein, mit dem er die Industrieökonomik grundlegend und nachhaltig geprägt hat. Das Verfassen von erfolgreichen Lehrbüchern gehört zwar eher nicht zu den nobelpreisverdächtigen Aktivitäten, aber hier liegt der Fall anders. Tirole hat das Buch bereits wenige Jahre nach seiner Promotion publiziert und damit die spieltheoretische Fundierung der Industrieökonomik maßgeblich geprägt. „The Theory of Industrial Organization“ ist eines der meistzitiertesten Ökonomie-Lehrbücher überhaupt. Auch seine weiteren Lehrbücher zur Spieltheorie (mit Drew Fudenberg), zur Theorie der Regulierung (mit Jean-Jacques Laffont), zur Bankenregulierung (mit Mathias Dewatripont), Wettbewerb auf Telekommunikationsmärkten (ebenfalls Jean-Jacques Laffont), zur Theorie der Unternehmensfinanzierung sowie zu weiteren Themen haben sich zu internationalen Standardwerken entwickelt, die zudem in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden.

Kommen wir endlich zu den mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Inhalten, die das Nobelpreiskomitee unter dem Titel „Marktmacht und Regulierung“ zusammengefasst hat. Zumindest im akademischen Bereich zählt das sogenannte Laffont-Tirole-Modell der Regulierung sicher zu den prominentesten Arbeiten (vgl. Laffont und Tirole, 1986). Wie viele von Tiroles Beiträgen wurde auch dieser gemeinsam verfasst Jean-Jacques Laffont, mit dem Jean Tirole den Nobelpreis vielleicht geteilt hätte, wäre Laffont nicht 2004 sehr früh verstorbenen. In dem Modell geht es um die Frage, welchen Vertrag ein öffentlicher Auftraggeber einem Auftragnehmer anbieten soll, wenn der Auftraggeber die Kosten des Auftragnehmers nicht kennt und diese Kosten zugleich davon abhängen, wie viel Mühe sich der Auftragnehmer gibt, die Kosten niedrig zu halten. Dieses Problem stellt sich z.B. bei öffentlichen Bauaufträgen oder auch bei Rüstungsprojekten, bei denen die öffentliche Hand zum einen nicht zu viel zahlen will, zum anderen die Kosten vom Verhalten des Auftragnehmers abhängen. Einerseits will der Auftraggeber starke Anreize zur Kostendisziplin und zur Verbesserung der Produktivität geben (wie etwa bei der sogenannten Anreizregulierung), andererseits will er auch so wenig wie möglich zahlen (wie etwa bei einer kostenbasierten Regulierung). Wie Laffont und Tirole (1986) nun zeigen, lässt sich das Problem lösen, indem potenziellen Auftragnehmern verschiedene Verträge zur Auswahl angeboten werden, bei denen die fixen und variablen Komponenten der Entlohnung variieren. Der Ansatz lässt sich prinzipiell auf die Regulierung natürlicher Monopole übertragen, ist allerdings in der regulatorischen Praxis doch nur in relativ geringem Umfang zur Anwendung gelangt.[5] Dies mag daran liegen, dass es komplex ist, ein Menu an optimalen Verträgen zu kalkulieren, aber auch daran, dass der Auftraggeber sehr gute Informationen über die Kosten der Effizienzsteigerung haben muss. In der Praxis wird daher sowohl bei öffentlichen Ausschreibungen als auch bei staatlicher Regulierung den Auftragnehmern kaum mehrere Verträge oder Regulierungsoptionen zur Auswahl vorgelegt. Der Einfluss des Modells, auf dem in verschiedenen Variationen nahezu das gesamte Lehrbuch von Laffont und Tirole (1993) zur Theorie der Regulierung beruht, dürfte eher subtiler sein. Beim Entwurf guter Regulierung wird heute wesentlich stärker als bis in die 1980er-Jahre hinein berücksichtigt, dass die Kosten der regulierten Unternehmen endogen sind und Anreize zur Kostensenkung daher wichtig, zugleich jedoch Aufsichtsbehörden mit Informationsproblemen zu kämpfen haben.

In diversen weiteren Beiträgen setzte sich Tirole mit den Problem der fehlenden Selbstbindung durch die Regulierungsbehörden und möglichen Lösungsansätzen auseinander (Tirole 1986; Laffont & Tirole, 1988, 1990). Auch diese Überlegungen fließen heute in das Design guter Regulierung ein, z.B. bei der Frage, wie lange ein regulierter Preis Gültigkeit haben soll.

Noch einflussreicher auf die praktische Regulierung dürften die teils mit Patrick Rey und Jean-Jacques Laffont verfassten Arbeiten zur Regulierung von Telekommunikationsnetzen sein (Laffont & Tirole, 1996, Laffont, Rey & Tirole, 1998a, b), die ebenfalls – basierend auf Vorlesungen in München – in ein kleines Lehrbuch mündeten (Laffont und Tirole, 2000). In den Beiträgen arbeiten Laffont und Tirole die Notwendigkeit einer Regulierung der Netznutzungsentgelte heraus, um eine Kartellierung des Marktes zu verhindern. Zudem zeigen sie, dass sich bei einer Regulierung von Preiskörben (an Stelle einer Einzelpreisgenehmigung) in der Struktur wohlfahrtssteigernde Ramsey-Preise ergeben – ein Befund, der in diversen Regulierungsverfahren immer wieder eine erhebliche Rolle gespielt hat und heute zum Beispiel im Postmarkt Anwendung findet. Zudem thematisieren Laffont und Tirole (2000) den Trade-off zwischen effizientem Markteintritt einerseits und effizienten Investitionen in eigene Infrastrukturen durch Wettbewerber andererseits – ein Thema, das z.B. beim Breitbandausbau noch immer aktuell ist.

Für die Wettbewerbspolitik bedeutsam sind auch Tiroles mit Rochet verfassten Arbeit über sogenannte mehrseitige Märkte (vgl. Rochet & Tirole 2003, 2006), die zeigen, wie kompliziert die Preisbildung auf mehrseitigen Plattformen ist, bei denen die Attraktivität der Plattform für eine Marktseite von der Teilnehmerzahl auf der gegenüberliegenden Marktseite abhängt. Beispiele für die Relevanz dieser Modelle sind traditionelle und neue Medien, Kartenzahlsysteme oder auch zahlreiche Internetplattformen wie Google, eBay, Amazon, Facebook, Uber, Expedia, HRS etc. Die Beiträge von Jean Tirole haben hier erheblich dazu beigetragen, die Preispolitik auf diesen Märkten besser zu verstehen und wettbewerbspolitisch beurteilen zu können.

Eine weitere Arbeit Jean Tiroles hat vor kurzem erhebliche Aufmerksamkeit in der deutschen Wettbewerbspolitik erfahren. Gemeinsam mit seinem Doktorvater Eric Maskin hat Tirole spieltheoretisch modelliert, wie es zu sogenannten Edgeworth-Zyklen auf Märkten kommt, bei denen Preise immer wieder schlagartig nach oben schnellen, um dann erst langsam wieder schrittweise zu fallen. Das Bundeskartellamt (2011, S. 115 ff.) hat das Modell von Maskin and Tirole (1988) ausführlich diskutiert, um die Preisbewegungen an deutschen Tankstellen zu analysieren.

Exemplarisch für Tiroles spieltheoretische Fundierung der Wettbewerbspolitik ist auch seine Arbeit mit Oliver Hart (1990) zum Thema vertikale Fusionen (also einem Zusammenschluss z. B. zwischen einem Hersteller und einem Einzelhändler). Im Gegensatz zu horizontalen Fusionen (bei der sich Unternehmen auf derselben Ebene der wertschöpfungskette zusammenschließen) wird eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung von vertikalen Fusionen oft generell verneint. Dafür hatten Vertreter der Chicago School in der 1970er Jahren sehr gute Argumente geliefert. Sie hatten darüber hinaus argumentiert, dass vertikale Fusionen oftmals effizienzsteigernd sein können. Tirole hingegen zeigt, dass die effizienzsteigernden Effekte sich – zumindest theoretisch – auch durch einfache Verträge erzielen lassen, ein Zusammenschluss ist dann also nicht erforderlich. Die Effizienzgewinne sind nicht fusionsspezifisch, wie z.B. die europäischen Fusionsrichtlinien es im Rahmen der sog. Effizienzverteidigung verlangen. Vertikale Fusionen können nach Tirole aber durchaus wettbewerbsbeschränkendes Potenzial haben. Verkauft ein monopolistischer Produzent sein Gut an zwei oder mehr Zwischenhändler, so gestaltet er seine Angebote opportunistisch. Er wird versuchen, einen Händler gegen den anderen auszuspielen, um so einen noch höheren Gewinn zu erzielen. Im spieltheoretischen Gleichgewicht antizipieren die Händler dieses opportunistische Verhalten und der monopolistische Hersteller erreicht nicht einmal den einfachen Monopolgewinn. Fusioniert nun der Monopolist mit einem der Händler, verschwindet der Anreiz zum Opportunismus; schließlich ist das vertikal integrierte Unternehmen nun sowohl als Hersteller als auch als Händler aktiv. Ein opportunistisches Angebot an den nicht-integrierten Händler würde also seinen eigenen Gewinn mindern. Die vertikale Fusion ermöglicht die Wiedererlangung des Monopolgewinns und ist somit wettbewerbsbeschränkend. Diese Arbeit ist beispielhaft für die moderne, theoretische Industrieökonomik und somit das Werk Tiroles: Sie ist spieltheoretisch sauber fundiert (und auf dem Weg zu diesem Ergebnis galt es, einige theoretische Hürden zu nehmen); sie reißt vermeintliche Gewissheiten ein (die der Chicago School) und bestätigt wiederum im Endeffekt ältere Theorien (hier die Leverage-Theorie), die man längst widerlegt glaubte.

Ähnliches gilt für Tiroles Ansatz über die Möglichkeit einer rationalen Verdrängungspreissetzung (Fudenberg & Tirole 1986). Nachdem die Chicago School dargelegt hatte, dass Verdrängungspreise bei rational agierenden Unternehmen kaum vorkommen dürften und sich die Wettbewerbspolitik besser anderen Problemen zuwenden sollte, belegten Fudenberg und Tirole (1986), dass Verdrängungspreise sehr wohl eine rationale Strategie etablierter Anbieter sein können. Dies gilt dann, wenn neue Anbieter weniger gut über die Marktbedingungen (Produktionskosten der Konkurrenz, Nachfrage) informiert sind. Durch gezielte Preissenkungen kann ein etablierter Anbieter dann neue Anbieter zu dem Glauben verleiten, die Marktbedingungen wären schlechter als vermutet, sodass die Neulinge den Markt ggf. wieder verlassen. Diese Arbeit war – gemeinsam mit anderen – wichtig, um darzulegen, dass Verdrängungspreise sehr wohl ein wettbewerbspolitisches Problem darstellen können.

Hinweis: Der vollständige Beitrag ist in WiSt – Wirtschaftswissenschaftliches Studium, 2014, H. 12 erschienen.

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[3] Die Top-10-Ökonomen, gemessen an der Publikationsleistung über ihr gesamtes bisheriges Lebenswerk, waren 2013: Bruno Frey, Martin Hellwig, Roman Inderst, Oded Stark, Ernst Fehr, Kai Konrad, Helmut Lütkepohl, Hans-Werner Sinn, Gerard van den Berg und Enno Mammen (vgl. http://tool.handelsblatt.com/tabelle/index.php?id=132&so=1a&pc=50)

[4] Als Ergänzung: Wer bei Google Scholar „Jean Tirole“ eingibt, erhält atemberaubende 80.000 Zitationen. Sage und schreibe 115 seiner Werke sind 115 Mal oder häufiger zitiert worden (h-Index). Dieser Umfang an Arbeiten und Zitationen ist, auch verglichen mit anderen Nobelpreisträgern oder -anwärtern, enorm.

[5] Eine Ausnahme sind z.B. die Regulierung von Strom- und Gasnetzen durch die britischen Energieregulierer Ofgem sowie von Wasserversorgern durch die britische Regulierungsbehörde Ofwat, deren Regulierungsansatz prinzipiell auf den Ideen von Laffont und Tirole (1986) beruht.

 

Weitere Blog-Beiträge zum Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften:

Norbert Schulz, Die industrieökonomische Revolution

Michael Wohlgemuth, Wie sinnvoll ist der Ökonomie-Nobelpreis?

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