Wehrpflicht und Freiheit
Das vergessene Thema

In diesem Wahlkampf geht es vor allem um Gerechtigkeit. „Gerechtigkeit!“ rufen die Wahlplakate der LINKEN – hier in Ostdeutschland ungefähr alle fünfzig Meter, auch die SPD lässt sich nicht lumpen. Nichts dagegen einzuwenden. Gerechtigkeit ist ein hohes Gut für eine „wohlgeordnete Gesellschaft“ (Rawls) und spielt in allen liberalen Konzepten eine zentrale Rolle. Die Gerechtigkeitsthemen des Bundestagswahlkampes sind derweil wohlbesetzt: Hartz IV ist zu niedrig, die Löhne auch, die Reichen zahlen zu wenig Steuern, obwohl sie an der Krise schuld sind, wie die Wahlplakate der LINKEN suggerieren, es fehlt an Kinderkrippen, Familien haben zu wenig Geld, Hartz-IV-Empfängern wurde ungerechterweise die Abwrackprämie vorenthalten, worüber sich Andrea Nahles richtig empören konnte. Kein Zweifel: diese Gesellschaft dreht beim Thema Ungerechtigkeit so richtig auf. Thomas Apolte hat hier in einem Blog-Beitrag darauf hingewiesen, dass sich die öffentliche Debatte im (wie wir inzwischen wissen, nicht ganz korruptionsfreien) öffentlichen Fernsehen fast nur noch damit beschäftigt, herauszufinden, wieviel Geld Hartz-IV-Empfängern ungerechterweise vorenthalten wird. Immerhin hat die Debatte dafür gesorgt, dass die Regelsätze in Ost- und Westdeutschland auf gleicher Höhe sind, trotz der unterschiedlichen Lebenshaltungskosten und der Lohndifferenzen in Ost und West (das Lohnabstandsgebot musste hier zurücktreten).

Einmal in diesem gerechtigkeitstrunkenen Wahlkampf– nur ganz kurz – machte der Spitzenkandidat der FDP, Guido Westerwelle, auf einen wirklichen Missstand aufmerksam, der die Bezeichnung „Ungerechtigkeit“ verdient: Er bezeichnete die Wehrpflicht in Deutschland als ungerecht und forderte deren Abschaffung. Frau Merkel wies das Ansinnen sogleich zurück, der Verteidigungsexperte der CDU, Bernd Siebert (MdB), pflichtete ihr bei. Die SPD schwieg, keine Reaktion von den GRUENEN, keine wahrnehmbare Reaktion von den LINKEN: der heilige Feldzug für Mindestlöhne und gegen Hartz-IV ist ihnen allemal wichtiger. Man fragt sich verwundert, wie SPD und GRUENE während ihrer Regierungszeit in diesem Land soviel Ungerechtigkeit zulassen konnten, dass sie Mindestlöhne verweigert hatten.

Milton Friedman und die Wehrpflicht

Auch unter Anhängern einer liberalen Wirtschaftspolitik spielt das Thema „Wehrpflicht“ keine große Rolle. Eine ungerechtfertigte Beschränkung der Freiheit, der persönlichen und damit auch der wirtschaftlichen, scheinen nur Wenige zu erkennen. Das war nicht immer so. Schauen wir einen Klassiker des ökonomischen Liberalismus, Milton Friedmans „Capitalism and Freedom“. In seinem Kapitel über die Regierung einer freien Gesellschaft listet Friedman Regierungsaktivitäten auf, die sich mit seinem liberalen Weltbild nicht vereinbaren lassen. Nachdem er sich zuerst gegen Zölle, Preiskontrollen und zahlreiche Regulierungen der amerikanischen Wirtschaft der fünfziger Jahre gewendet hat, benennt er unter Punkt 11:

„Conscription to man the military service in peacetime. The appropriate free market arrangement is volunteer military forces; which is to say, hiring men to serve. There is no justification for not paying whatever price is necessary to attract the required number of men. Present arrangements are inequitable and arbitrary, seriously interfere with the freedom of young men to shape their lives, and probably are even more costly than the market alternative.“ (Milton Friedman, Capitalism and Freedom, Chicago, 1962; kursiv, G.W.)

Verteidiger der Wehrpflicht machen hierzulande immer wieder gern Kostengründe geltend. Dieses Argument weist Friedman zurück. Eine Freiwilligenarmee ist wahrscheinlich teurer als eine Armee aus Wehrpflichtigen, aber er hält die höheren Kosten für gerechtfertigt. Sowohl Wehrexperten der CDU als auch der SPD (etwa deren früherer Verteidigungsminister) verweisen darauf, dass bei Wegfall der Wehrpflicht nicht genügend Qualifizierte sich freiwillig zum Dienst an der Waffe wenden werden, womit wohl insbesondere Abiturienten gemeint sind. Friedman nennt die Marktlösung: dann muss der Sold so weit angehoben werden, bis der Dienst auch ökonomisch attraktiv wird. Das möchte die CDU gern vermeiden.

Im Extremfall könnte tatsächlich eine Steuererhöhung folgen, die in den gängigen Freiheitsindizes als Einbuße wirtschaftlicher Freiheit gedeutet würde. Bereits Nozick hatte sich zu der Auffassung verstiegen, dass eine Steuer zur Finanzierung von Leistungen jenseits des Minimalstaates „Zwangsarbeit“ sei. Der Bund der Steurzahler folgt dem insoweit, als die Bürger jedes Jahr im Juni/Juli darauf hinweist, dass sie erst ab jetzt für den Rest des Jahres für sich selbst arbeiten. Natürlich ist die These von der Zwangsarbeit schon allein deswegen abwegig, weil Bürger über ihren Einkommenserwerb frei entscheiden können. Aber selbst wenn sie Einkommen erwerben und die Abgabenlast jenseits des Erträglichen liegt, bestimmen sie, welcher Art von Arbeit sie nachgehen. Der Begriff der Zwangsarbeit sollte nicht die Unterscheidung zwischen einem exzessiven Steuerstaat und dem Gulag unscharf werden lassen. Er wird auch nicht benötigt, um liberale Forderungen nach einer mäßigen Steuer zu begründen.

Die Wehrpflicht – und auch der Zivildienst – stellen nun in der Tat einen massiven Zwang des Staates und eine Beschränkung für die Freiheit der Bürger (d.h. der jungen Männer) dar. Wer sich dem zu entziehen versucht, z.B. weil er die Einberufungspraxis für ungerecht hält oder einen anderen Lebensplan verfolgt, könnte von den Gerichten zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt werden (was die Gerichte gegenwärtig nicht mehr machen; sie verhängen zumeist eine Geldstrafe und setzen eine kürzere Gefängnisstrafe zur Bewährung aus, so dass die Verurteilten mit einer Vorstrafe „davonkommen“). Diesen Zwang sieht Friedman als ungerechtfertigten Eingriff in die Freiheit an. Allerdings fügt Friedman seinem Plädoyer einen wichtigen Satz hinzu:

„Universal military training to provide a reserve for wartime is a  different problem and may be justified on liberal grounds“


Hier offenbart sich das liberale Verständnis zum Militär und dem gerechtfertigten Zwang des Staates gegenüber seinen Bürgern. Die massive Freiheitsbeschränkung der Bürger ist nur aus einem wichtigen Grund zu rechtfertigen: nämlich wenn zum Schutz dieser Freiheit keine mildere Form der Freiheitsbeschränkung möglich ist, wozu hier die Finanzierung einer Freiwilligenarmee zählt. Zur Verteidigung ihrer Freiheit sind die Bürger also verpflichtet, und zwar alle gleichermaßen.

Armee als Kollektivgut

Dahinter verbirgt sich eine realistische Einschätzung über die Notwendigkeit einer Armee. Diese wird als ein kollektive Gut – und nicht Übel – angesehen, weil bei Abwesenheit einer sanktionsbewehrten Weltfriedensordnung ohne Armee die Freiheit nicht verteidigt werden kann. Die Zurückweisung der Wehrpflicht folgt also keiner pazifistischen Einstellung, obwohl viele Liberale Pazifisten waren und sind und obwohl der Liberalismus seinerseits einer Weltfriedensordnung zugetan war. Bereits Smith legte in bemerkenswert antinationalistischen Formulierungen dar, dass es jedenfalls keinen ökonomischen Grund für Ressentiments gegen andere Nationen gibt, weil für alle Nationen der Welt ein Platz unter der Sonne des Wohlstandes sei (in der Theory of Moral Sentiments wendet er sich explizit gegen die aufkeimenden antifranzösischen Ressentiments in England). Deswegen erscheinen Kriege zur Wahrnehmung ökonomischer Interessen als irrational, aber von der allgemeinen Verbreitung dieser Einsicht kann man nicht ausgehen. Solange sich Völker das Recht auf Kriege vorbehalten, um ihre Interessen zu verfolgen, ist die Freiheit bedroht und bedarf auch einer Armee, über deren Einsatz hoffentlich besonnene Politiker entscheiden.

Diese liberalen Rechtfertigungsgründe für die Wehrpflicht liegen in der Bundesrepublik nicht mehr vor, was zur Zeit des kalten Krieges bekanntlich anders war. Der Hinweis von Frau Merkel oder Bernd Siebert, dass sich die „Wehrpflicht in Deutschland bewährt habe“, ist darum zugleich richtig und irrelevant. Selbst die gegenwärtige Verteidigungspolitik geht nicht mehr davon aus, dass zur Verteidigung der Sicherheit eine vollumfängliche Armee benötigt wird oder in absehbarer Zeit benötigt werden könnte. Eine Armee mit einer Stärke von 250.000 Soldaten hat ein anderes Einsatzfeld. Auslandseinsätze werden mit Zeit- und Berufssoldaten bestritten, Wehrpflichtige nehmen daran höchstens freiwillig teil, ebensowenig dient die Wehrpflicht des Vorhaltens einer Reserve, auf die man im Verteidigungsfalle zugreifen könnte. Wenn von 440.000 18-jährigen Männern eines Jahrgangs am Ende nur 70.000 in die Kasernen einrücken (90.000 absolvieren den Zivildienst), offenbart dies die sicherheitspolitische Einschätzung der Regierung: Eine relativ kleine Armee wird zur Aufrechterhaltung der Sicherheit für angemessen gehalten und mit der künftigen Notwendigkeit eines schnellen Aufrüstens zu einer Vollarmee nicht gerechnet. Diesen Fall hatte Friedman im Auge, als er ein „unversal military training“ unter Umständen als gerechtfertigt ansah.

Dass auch neun Monate Wehrdienst zu einer massiven Einflussnahme auf individuelle Lebenspläne nehmen können, machte mir vor einiger Zeit eine Studentin deutlich: ihr Zwillingsbruder hatte einen begehrten Studienplatz an einer angesehenen niederländischen medizinischen Fakultät erhalten, als der Einberufungsbefehl bevorstand. Eine deutsche Universität hätte ihm diesen Studienplatz für das nächste Jahr freihalten müssen, wozu eine niederländische Universität aber nicht verpflichtet ist. Als ich dem verteidigungspolitischen Sprecher der CDU, Bernd Siebert (MdB), dies in einer mail mitteilte, bekam ich zu Antwort, dass die Bunderegierung grundsätzlich empfehle, „erst den Wehrdienst anzutreten und anschließend das Studium aufzunehmen“. Natürlich hat es der betreffende junge Mann nicht als gerecht empfunden, dass er auf einen begehrten Studienplatz verzichten musste, ebensowenig, dass ein U-21-Nationalspieler mit Milchallergie vom Wehrdienst ausgeschlossen ist. Diese staatliche Ungleichbehandlung stört schon etwas. Friedman fand Ungleichheit des Staates gegenüber seinen Bürgern ungerecht. Die CDU ist anderer Meinung.

Aber nicht nur die CDU. Die Bundeswehr weist in ihrer homepage darauf hin, dass in einer Umfrage 62 Prozent der Bürger für die Wehrpflicht seien, während sich 27 Prozent dagegen aussprechen würden. Sollte dies stimmen, belegt es die Deformationen des Gerechtigkeitsempfindens unserer Gesellschaft. Falls die Einrichtung einer Berufsarmee mit höheren Kosten verbunden ist, entspricht dies in der Tat nicht dem Interesse der Mehrheit der Bürger, die höhere Steuern zahlen müssten oder auf andere öffentliche Leistungen zu verzichten hätten. Es liegt im Interesse der Mehrheit der Bürger, eine kleine Minderheit zwangsweise für die Erbringung eines Kollektivguts zu verpflichten, damit für sie selbst mehr Netto vom Brutto übrig bleibt.

Friedman macht die liberale Position deutlich: Kostengründe zählen ein einem solchen Fall nicht. Wenn die Mehrheit der Bürger eine Armee wünscht, muss sie dafür den geringst möglichen Eingriff in die Freiheit wählen. Geldleistungen (in Form von Steuern) sind Sachleistungen (in Form eines Zwangsdienstes) vorzuziehen. Würden wir auf eine Freiwilligenarmee umstellen und hätten dafür die Steuern zu erhöhen, bedeutete dies einen Zuwachs an Freiheit. Die gängigen Freiheitsindizes würden nicht angemessen berücksichtigen sondern eine Einbuße an wirtschaftlicher Freiheit feststellen.

Der Mangel an Gerechtigkeitsempfinden in der Gesellschaft

Es sollte uns beunruhigen, dass unsere Gesellschaft mit dem jetzt eingetretenen Missstand in der Wehrpflicht keinerlei Probleme hat. Dabei wären noch viele weitere Aspekte zu benennen, z.B. die Ausnahmeregelung von Frauen im Grundgesetz. Entscheiden sie sich gegen den Wehrdienst, dürfen sie „auf keinen Fall“ (GG) zum Dienst an der Waffe verpflichtet werden, auch wenn dies zum Schutz der Freiheit erforderlich wäre; entscheiden sie sich dafür, greift der Gleichstellungsplan – das ist eine komfortable Kombination aus traditionellem Rollenmodell und kämpferischem Gleichstellungsanspruch: Freiheit ohne Verantwortung, besser geht’s nicht.

Dass eine Gesellschaft den eingetretenen Missstand akzeptiert, würde nicht weiter verwundern, wenn der Gerechtigkeit ansonsten keine große Bedeutung beigemessen würde. Doch die Nationale Gerechtigkeitspartei SPD übergeht das Thema, auch die Kirchen – sonst allzuständig für gesellschaftliche Ungerechtigkeit – halten sich mit diesem Thema auffällig zurück und haben lange Zeit die Wehrpflicht verteidigt. Wenn man selbst der Profiteur ist – als Betreiber von karitativen Einrichtungen, die Zivis brauchen – fällt der Protest gegen Ungerechtigkeit schon mal leiser aus oder unterbleibt ganz. Es gibt schließlich Schlimmeres auf der Welt. Im Politiktalk des Fernsehens spielt das Thema keine Rolle. Gerechtigkeitstrunken wendet man sich anderen Themen zu: Hartz IV, Zweiklassenmedizin, Managergehälter, Mindestlöhne und, ach, die Bildung – Ungerechtigkeit, wohin man schaut. Nur einmal – ganz kurz – hat Guido Westerwelle das Thema im Bundestagswahlkampf aufgebracht, und Merkel hat sofort widersprochen. „Mehr Freiheit wagen“ war gestern. Warum Ungerechtigkeit beenden, wenn sie sich „bewährt hat“? Sonst keine öffentliche Reaktion. Keine Talkshow, die sich damit befasst.

Wir leben in einem merkwürdigen Land.

3 Antworten auf „Wehrpflicht und Freiheit
Das vergessene Thema

  1. All diese Dinge sind doch nur Ergebnis eigener Inkompetenz. Wenn man keine Lösungen auf drängende Fragen findet ist es immer leicht den Knüppel heraus zu holen. Zu einem positiven Ergebnis hat dies allerdings nie geführt. Aber so war es schon immer: eine Gesellschaft, wie eine Unternehmung, erreicht irgendwann ihren Zenit und brökelt dann ab.

    Es fehlt einfach der allgemeine Ruck zu sagen: OK, wir haben Fehler gemacht, gut. Jetzt lehnen wir uns einmal 1 Woche zurück und reflektieren was genau passiert ist. Wenn wir dann immer noch nicht zu dem Ergebnis gekommen sind, dass wir uns auf einem falschen Weg ( ich muss wirklich sagen allgemein gesellschaftlich, weil es überall wie auf einem Kartoffelacker zu geht ) befinden, dann wird es umso schlimmer werden. Aber dafür muss das Verständnis auch bei Allen geschärft werden. Da kommt dann wieder die Frage auf: WILL man es Allen verständlich machen und können es alle verstehen wollen – und da fängt es wieder an mit sollen und wollen …

    Um auf das Thema Wehrpflicht einmal einzugehen: in einer total globalisierten Welt in der jeder, jedem Rechenschaft abzulegen hat ( siehe IMF special drawing rights ) sollten militärische Aktionen eigentlich auf Grund der Kräfteverteilung innerhalb der verschiedenen Weltregionen überflüssig sein. Vergessen wir nicht: militärische Aktionen befragen nicht die Gegenseite, sondern führen totalitär aus. Dies hat nichts mit einem gesunden Demokratie geschweige denn liberalen Verständnis zu tun. Es führt auch nicht zu einer Lösung der Probleme. Krieg zerstört, baut nichts auf und lässt kein Vertrauen erwachsen. Vertrauen kann man nur gewinnen in dem alle Parteien einen „Gewinn“ davon tragen. Das dies umso schwerer ist je mehr „Ebenen“ ( im Sinne von rechtlichen Strukturen ) in dem Einigungsprozess vorhanden sind bezweifle ich nicht; jedoch würde es von nicht besonderes hoher Intelligenz zeugen im 21 Jahrhundert diese Probleme nicht angehen zu wollen.

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