Infolge der globalen Krise, durch die in Deutschland bisher in erster Linie die exportorientierte Industrie unter enormen Druck kam, wird auch das „Geschäftsmodell Deutschland“ auf den Prüfstand gestellt. Die deutschen Unternehmen sollten – so die Kritiker – weniger von der globalen Nachfrage abhängig sein. Die starke Industrie- und Exportorientierung habe sich nicht bewährt und müsse korrigiert werden.
Zweifellos hat Deutschland von der stürmischen Entwicklung der Weltmärkte der vergangenen Jahre in hohem Maß profitiert. Dank eines Produktportfolios, das zum Bedarf der internationalen Nachfrage passte, konnte Deutschland anders als die meisten entwickelten Industrieländer auf den Weltmärkten trotz der erfolgreichen Integration vieler neuer Länder in die internationale Arbeitsteilung Marktanteile hinzugewinnen. Da nahezu 90 Prozent der deutschen Exporte auf die Industrie entfallen, war der Aufschwung der letzten Jahre eindeutig ein Aufschwung der Industrie. Der über viele Jahre zu beobachtende trendmäßige Rückgang des Anteils des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung konnte gestoppt werden. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist der Industrieanteil sogar wieder leicht gestiegen.
Aber nicht nur die Unternehmen und Beschäftigten im industriellen Bereich haben von der deutschen Weltmarktorientierung profitiert. Die Industrie bezieht von anderen Wirtschaftszweigen, insbesondere den Dienstleistungssektoren, mehr Leistungen, als sie dorthin liefert. Vor allem die unternehmensnahen Dienstleistungen konnten vom Erfolg der Industrie auf den Auslandsmärkten profitieren. Es ist somit auch aus dieser Perspektive falsch, zu behaupten, die deutsche Wirtschaft sei einseitig auf die weltmarktorientierte Industrie konzentriert, weil über den Vorleistungsverbund auch die binnenwirtschaftlich aufgestellten Sektoren vom Erfolg der Industrie begünstigt werden.
Ohne Zweifel ist Deutschland wie auch andere Länder, die stark auf dem Weltmarkt vertreten sind, von der aktuellen globalen Krise besonders hart betroffen. Das ist zwangsläufig die Kehrseite einer starken Weltmarktorientierung. Aber rechtfertigt dies, das „Deutsche Geschäftsmodell“ als überholt und nicht mehr zukunftsfähig zu deklarieren? Diese Diagnose träfe zu, wenn die Ursache der globalen Krise nicht Funktionsstörungen auf den Finanzmärkten wären, sondern realwirtschaftliche Fehlentwicklungen wie etwa globale Überinvestitionen.
Sicherlich waren die letzten Jahre von wachsenden nationalen Leistungsbilanz-ungleichgewichten gekennzeichnet. Leistungsbilanzungleichgewichte signalisieren – sofern der Staatshaushalt ausgeblendet wird – eine Differenz zwischen inländischer Ersparnis und Inlandsinvestitionen. Leistungsbilanzdefizite spiegeln – sofern sich Staatsausgaben und Staatseinnahmen entsprechen – eine Sparlücke wider. Die inländischen Ersparnisse reichen nicht aus, um die Investitionen im Inland zu finanzieren. Dies kann als eine Überinvestition bezeichnet werden. Vor allem in den USA zeigte sich im Vorfeld der Krise ein hohes Leistungsbilanzdefizit und spiegelbildlich ein Kapitalbilanzüberschuss (Nettokapitalimport). Dagegen wiesen China, Japan, Deutschland und zuletzt auch die rohstoffreichen Länder Russland und Saudi-Arabien hohe Leistungsbilanzüberschüsse und Nettokapitalexporte auf.
Im Hinblick auf die USA ist festzustellen, dass das Leistungsbilanzdefizit nicht durch eine übermäßige Investitionstätigkeit geprägt war. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre war es von einer hohen Investitionstätigkeit begleitet, in den letzten Jahren stehen dahinter allerdings ein wachsendes Haushaltsdefizit des Staates und eine übermäßige Konsumtätigkeit: Im Durchschnitt der Jahre 2002 bis 2008 stand dem Leistungsbilanzdefizit von durchschnittlich knapp 650 Milliarden US-Dollar ein Haushaltsdefizit des Staates von knapp 490 Milliarden US-Dollar gegenüber (Zwillingsdefizit). Auch stellen die Bauinvestitionen in den USA an sich nicht das Problem dar, sondern vielmehr deren – in Zügen kriminelle – Finanzierung.
Abbildung 1 zeigt die (durchschnittlichen) Spar- und Investitionsquoten für große Weltregionen vom letzten Tiefpunkt der Weltwirtschaft im Jahr 2002 bis 2008. Zunächst ist festzustellen, dass in der Gruppe der fortgeschrittenen Länder Investitionen und Sparen nicht nennenswert auseinanderliegen. Definiert man eine Überinvestition als eine im Vergleich zur nationalen Spartätigkeit anhaltend übermäßige Investitionstätigkeit – die Investitionsquote liegt merklich und andauernd über der Sparquote –, dann gab es in dieser Periode hier kein auffälliges Ungleichgewicht. Innerhalb dieser Gruppe bestanden gleichwohl nennenswerte Abweichungen zwischen Sparen und Investieren. Während in den USA eine Sparlücke vorlag, hatte Deutschland dagegen seine Ersparnisse nicht für Inlandsinvestitionen aufgebraucht.
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OE: Osteuropa; FL: Fortgeschrittene Länder; LA: Lateinamerika; AF: Afrika; SEL: Schwellen- und Entwicklungsländer insgesamt; AS SEL: Asiatische Schwellen- und Entwicklungsländer; AS FL: Fortgeschrittene asiatische Länder; GUS: Gemeinschaft Unabhängiger Staaten; MO: Mittlerer Osten
Die Schwellen- und Entwicklungsländer weisen insgesamt betrachtet einen Sparüberschuss auf. Am deutlichsten übersteigt die Spartätigkeit die Investitionen im Mittleren Osten, in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und in Asien – dabei sowohl in den Schwellen- und Entwicklungsländern als auch in den fortgeschrittenen asiatischen Volkswirtschaften. Die einzige Region, in der die Spartätigkeit nicht ausgereicht hat, um die Investitionen zu finanzieren, war Osteuropa. Dabei liegt die Investitionsquote in Osteuropa nicht deutlich über der in den anderen Weltregionen – und sie befindet sich sogar deutlich unter der in den asiatischen Schwellen- und Entwicklungsländern.
Auch Abbildung 2 spricht eher gegen eine Überinvestitionsphase in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Die Investitionsquote dieser Ländergruppe lag vielmehr in den letzten Jahren mit rund 21 Prozent um gut 1 Prozentpunkt unter dem Durchschnitt der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre und vor allem deutlich unter dem Durchschnitt der 1980er-Jahre mit 23 Prozent. Dagegen ist der Anteil der Bruttoinvestitionen am BIP in den Schwellen- und Entwicklungsländern seit dem letzten Tiefpunkt der Weltwirtschaft im Jahr 2002 markant angestiegen. Während die Investitionsquote im Zeitraum 1995 bis 2002 mehr oder weniger stabil bei um die 25 Prozent lag, ist sie bis zum Jahr 2008 fast durchgehend auf über 31 Prozent angestiegen. Damit hat sich das Investitionsvolumen in dieser Ländergruppe im Zeitraum 2002 bis 2008 mehr als verdreifacht.
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Es stellt sich die Frage, ob dieser beachtliche Investitionsboom in den Schwellen- und Entwicklungsländern übermäßig war und als eine Überinvestition, die jetzt Anpassungsprozesse notwendig erscheinen lässt, bezeichnet werden kann. Dies würde dann auch die stark auf Investitionsgüter spezialisierte deutsche Industrie und deren Exportgeschäft beeinträchtigen. Zunächst ist der Anstieg der Investitionsquote in den Schwellen- und Entwicklungsländern auch vor dem Hintergrund der über eine lange Zeit auf niedrigem Niveau stabilen Investitionsquote zu sehen. Unter Konvergenzgesichtspunkten kann diese „Stagnationsphase“ mehr als ungünstig bezeichnet werden. Auch vor dem Hintergrund der großen und weiter wachsenden Bevölkerungszahl, des vorher relativ niedrigen Kapitalstocks und der niedrigen Kapitalintensität sowie letztlich auch der Sparüberschüsse wird hier der Diagnose einer Überinvestitionsphase nicht gefolgt. Vielmehr legen diese Volkswirtschaften mit den Investitionen – zum Beispiel in Infrastruktur und moderne, ressourcensparende Produktionsanlagen – den Grundstein für ihr künftiges Wirtschaftswachstum und den globalen Konvergenzprozess.
Zusammenfassend stimmt also schon der Befund einer globalen Überinvestition nicht, der ein Fragezeichen hinter das deutsche Geschäftsmodell setzen könnte. Hinzu kommt, dass jene, die eine Umorientierung verlangen, ein völlig falsches Bild davon haben, wie sich der Strukturwandel auf der Mikroebene vollzieht. Es handelt sich dabei nicht um einen von einer zentralen Stelle planbaren und beliebig konzipierbaren Prozess. Der Strukturwandel ist vielmehr das Ergebnis dezentraler Entscheidungen von Unternehmen und Konsumenten. Wer unter diesen Funktionszusammenhängen ein anderes Geschäftsmodell für Deutschland anstrebt, verlangt eine selektive Strukturpolitik.
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Keine aggregierte Überinvestitionen!
Die Graphen zeigen aggregierte Daten. Es ist jedoch möglich, dass relativ zu viel in einigen Sektoren investiert worden ist, so dass es in vielen Ländern zum Aufbau einer falschen Produktionsstruktur kam. Es sind also Sektoren überinvestiert, während andere Sektoren vernachlässigt worden. Dies entspricht der Erklärung nach von Hayek in Preise und Produktionen (1935).
Viele Grüße