In den letzten Wochen war das Thema Börsengänge häufig in den Medien vertreten. Gleich mehrere Kandidaten waren für das heutzutage nur noch virtuelle Parkett aufgelaufen und die jüngsten Irritationen am Kapitalmarkt führten zu diversen Anpassungen und Verzögerungen. Gleichzeitig wurden insbesondere für den High Tech-Bereich mehr Emissionen gefordert und das Fehlen einer stabilen Aktienkultur sowie geeigneter Rahmenbedingungen beklagt.
Parallel dazu ging in der Öffentlichkeit praktisch unter, dass nahezu zeitgleich eine Gesetzesinitiative für die Modalitäten des Börsenrückzugs auf den Weg gebracht wurde. Die Koalitionsparteien wollten damit nach einer gleich darzulegenden Vorgeschichte in offizieller Lesart den verlorengegangenen Schutz für Minderheitsaktionäre wieder herstellen. Was war bzw. ist da bloß los?
Das Mildeste, was man über den Anlegerschutz in Deutschland sagen kann, ist, dass er nicht gerade vorbildlich ist (hier). Die bestehenden Regelungen zeigen eine fehlprogrammierte Konzentration auf initiale Anlageent-scheidungen, die den einmal eingestiegenen Anleger in seiner späteren Investorengeschichte schnell aus den Augen verliert. Bei Aktien, deren fehlende Kultur als Wagniskapitalträger in diesem Land wie erwähnt ja so beklagt wird, ist dies deshalb besonders bitter, weil ihre zeitlich unbegrenzte Struktur dazu führt, dass Probleme, die nicht mit dem Erwerbsprozess zu tun haben, nicht durch eine Fälligkeit des Finanztitels der Klärung zugeführt, sondern allenfalls durch einen Aktienverkauf unter Wert wieder „bereinigt“ werden können. Immerhin hat das deutsche Recht für bestimmte Maßnahmen, die in die Eigentumsrechte der Aktionäre eingreifen, eine Abfindungspflicht vorgesehen, bei der sogar die Möglichkeit besteht, eine ursprünglich gebotene Abfindung in einem speziellen Gerichtsverfahren überprüfen zu lassen.
Im Jahr 2002 hatte der Bundesgerichtshof in seiner berühmten „Macrotron“-Entscheidung befunden, dass auch der Rückzug aus dem regulierten Markt, einem Börsensegment mit hohen institutionellen Anforderungen, solche Schutzmaßnahmen auslöst. In der Folge kam es nur noch zu wenigen „Delistings“ und betroffene Kleinaktionäre konnten solchen Fällen gelassen entgegen sehen, denn die Möglichkeit einer Andienung zum Abfindungskurs sicherte ihnen bis zum Ende eines regelmäßig eingeleiteten Überprüfungsverfahrens die Möglichkeit, auch nach dem Verlust der Börsennotiz bei Bedarf ihre Aktien zu einem fairen Preis zu veräußern.
Nun überrascht es nicht, dass diese Situation nicht nur Beifall fand. Insbesondere Großaktionäre, welche mittel- oder unmittelbar von der Abfindung als Verpflichtete betroffen waren, arbeiteten samt ihren Lobbyisten stetig an einer Unterminierung von „Macrotron“. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 2012 festgestellt hatte, dass ein Delisting zwar das grundgesetzlich garantierte Eigentumsrecht nicht verletze, aber ein entsprechender Schutz seinerseits ebenfalls keine verfassungsrechtlichen Bedenken hervorrufe, griff der personell zwischenzeit-lich komplett veränderte zuständige BGH-Senat bei einer entsprechenden Vorlage betreffend ein Unternehmen namens „FRoSTA“ die Problematik wieder auf und warf die bisherigen Schutzvorkehrungen eilfertig auf den Müllplatz der Rechtsprechungsgeschichte.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Ein „Delisting-Sturm“ (Bayer/Hoffmann, AG-Report 2015., S. R 55) zog über den deutschen Kapitalmarkt, Kurse brachen im Umfeld von Delisting-Ankündigungen, die nun nicht einmal mehr eines Hauptversammlungsbeschlusses bedurften, zusammen und die gepeinigten Kleinanleger wandten sich händeringend an die Politik. Dass diese den „Verwaltern prall gefüllter Konzernkassen“ (Ekkehard Wenger) aus nahe liegenden Gründen eher gewogen ist, stellt nun keine neue Erkenntnis dar. Indessen war die Verquerung dessen, was man sich auch und gerade aus Sicht des biederen Wahlbürgers als „gerecht und billig“ vorstellt, derart deutlich, dass die Politik handeln musste. Ende August brachten die Koalitionsparteien (unzureichende) Maßnahmenvorschläge in ein größeres Ge-setzgebungsverfahren ein; dieses durchlief im September die parlamentarischen Hürden im Bundestag und wurde letztlich am 1. Oktober vom Bundestag als „Gesetz zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie- Änderungsrichtlinie“ beschlossen. Für das Delisting ist dabei als Regel-fall ein Abfindungsrecht zu einem durchschnittlichen Börsenkurs bei Börsenrückzügen vom regulierten Markt beschlossen – keine andere Wertermittlung und keine gerichtliche Überprüfung, also ein Kompromiss zwischen der Macrotron- und der FRoSTA-Rechtsprechung.
Interessant ist in diesem Zusammenhang nicht nur das zeitweilige Auftauchen von gesetzlichen Vorgaben, die ein strategisches Ausmanövrieren anderer Minderheitenrechte im Rahmen des Delistings ermöglicht hätten, sondern auch die Begründung, warum ein weiter gehender Schutz der Minderheitsaktionäre nicht opportun sei. Eine Anlegerzeitschrift hatte Kleinaktionäre aufgefordert, ihre Wahlkreisabgeordneten im Bundestag mit der Situation zu konfrontieren. Ein Auszug aus einer dort veröffentlichten Antwort bezeichnet die Vorgaben im initialen Entwurf der Koalitionsparteien als
„eine Abwägung zwischen (Klein-)Anlegerschutz auf der einen Seite und dem berechtigten Interesse der Wirtschaft, sich so schnell, berechenbar und kostengünstig wie möglich von der Börse zurückziehen zu können. Gerade letzteres trägt nicht unerheblich bei der Entscheidungsfindung von Unternehmen bei, überhaupt erst einen Börsengang zu wagen …“
Einerseits schließt sich damit scheinbar der Kreis zu den eingangs beschriebenen Neuemissionen. Andererseits wird diese Schließung durch eine denkbar aberwitzige Argumentation zu erreichen versucht: Wer ist, bitte, „die Wirtschaft“ und was stellt für wen „berechenbare Kosten“ dar? Gehören Minderheitsaktionäre, die man beim Börsengang erst als Financiers umwirbt und dann herzlich willkommen heißt, nicht zur Wirtschaft? Was soll in diesem Zusammenhang der Begriff „Kosten“ aussagen, wenn es wirtschaftlich um einen Ausgleich zwischen verschiedenen Eigentümern geht? Werden potenzielle Eigenkapitalgeber vor einer Zeichnung junger Aktien nicht zurückschrecken, wenn Sie oder ihre Nachfolger als Aktionäre wesentliche Eigenschaften ihres finanziellen Engagements ohne hinreichende Kompensation verlieren können? Wird der „kostengünstige“ Rückzug als Potenzial in der Zukunft dann nicht dadurch zur Makulatur, dass heute nur niedrigere Emissionskurse erlöst werden können? …
„Die Wirtschaft“ als relevante Adresse in diesem Diskurs zu identifizieren, zeigt die Geisteshaltung, mit der man Kleinanlegern bis heute in Deutschland regelmäßig entgegentritt. Der „Dividendenhunger“ von Entnahmehyänen“ gehört heute zwar nicht mehr zum aktiven Sprachgebrauch betreffend Streubesitzaktionäre, aber es bleibt die teutonische Einstellung, dass diese eigennützigen Kapitalisten nur ein notwendiges Übel für „die Wirtschaft“ sind.
Solange dies so bleibt, wird sich an den Verhältnissen am deutschen Kapitalmarkt nichts Grundlegendes ändern: Die Börsengänge werden selten bleiben, das Verhältnis von Börsenkapitalisierung zu Bruttoinlandsprodukt auf dem Niveau eines Entwicklungslands verharren und richtige Großkapitalisten – immer öfter aus dem Ausland – in ihrem Vermögen und ihrer Macht weiter gestärkt werden. Gleichzeitig werden die Aktienanlagen meidenden Kleinanleger auf Minizinsen sitzenbleiben und oft keine Chance haben, damit einen wirtschaftlich ungetrübten Lebensabend zu finanzieren. Wer sich trotzdem an deutsche Aktien traut, muss regelmäßig ohne gerichtliche Überprüfung den Verlust der Börsennotiz hinnehmen: Und raus bist Du! Da wird „die Wirtschaft“ sicher zufrieden sein.
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Anlegerschutz beim Börsenrückzug“