In Politik und Rechtsprechung spielen sogenannte Verbraucherleitbilder eine wichtige Rolle. Gerichte, Regulierungsbehörden und oft auch der Gesetzgeber bemühen sich, ihrer Arbeit möglichst kohärente Vorstellungen vom Verhalten und den Fähigkeiten der Verbraucher zugrunde zu legen. Daher enthalten Verbraucherleitbilder empirische Aussagen darüber, wie Konsumenten sich typischerweise verhalten. Gleichzeitig enthalten sie aber auch normative Komponenten, indem sie grob definieren, wie viel eigene Informationsbeschaffung und kritisches Nachdenken man von einem Verbraucher erwarten kann. Wer sich naiver als erwarter verhält und übers Ohr gehauen wird, der muß sich dann zumindest einen Teil der Schuld selbst anrechnen lassen.
Lange Zeit dominierte in Deutschland das Leitbild des mündigen Verbrauchers. Damit ist, kurz gesagt, kein perfekter Entscheidungsträger gemeint, der immer richtig liegt und perfekt informiert ist. Aber es handelt sich hier doch um einen Verbraucher, der sich nicht leicht in die Irre führen lässt, der sich selbst die für vernünftige Entscheidungen notwendige Information beschaffen kann und der diese auch so verarbeiten kann, daß ihm ein zielgerichtetes Handeln möglich ist.
Bemerkenswert ist, daß sich das Leitbild des mündigen Verbrauchers in Deutschland durchgesetzt hatte, nachdem Druck aus Europa ausgeübt wurde, insbesondere durch den Europäischen Gerichtshof. Es kam nämlich immer wieder vor, daß einzelne Mitgliedstaaten der damaligen EG unter dem Etikett des Verbraucherschutzes die Einfuhr von Gütern aus anderen Mitgliedstaaten untersagten. Allzu leichtsinnige und schlecht informierte Verbraucher könnten ja bei diesen Gütern mit exotischen Namen aus fernen Ländern etwas anderes erwarten als das, was tatsächlich in der Verpackung ist. Diesem versteckten Protektionismus hatte der EuGH einen Riegel vorgeschoben, indem er darauf bestand, daß der deutsche Verbraucher durchaus mündig genug sein sollte, um französische Konsumgüter richtig einzuschätzen, und umgekehrt.
Seit einigen Jahren erlebt der mündige Verbraucher jedoch einen Gegenangriff. So hat beispielsweise schon im Jahr 2012 der Wissenschaftliche Beirat Verbraucher- und Ernährungspolitik der Bundesregierung in einem Gutachten den mündigen Verbraucher als Mythos bezeichnet. Dabei nutzen die Autoren einen Kunstgriff, der alles andere als zwingend ist. Die Mündigkeit und Souveränität des Verbrauchers sehen sie nämlich dann als gegeben, wenn reale Verbraucher sich so verhalten, wie sie in den ersten Kapiteln der mikroökonomischen Einführungslehrbücher modelliert werden: vollständig informiert, ohne kognitive Kapazitätsgrenzen und mit unveränderbaren Präferenzen ausgestattet.
Abweichungen davon führen, so die Autoren, zu Zweifeln an der Mündigkeit des Verbrauchers. Schon Situationen mit unvollständiger Information kann er nicht mehr selbständig lösen. Er bräuchte die Verbraucherpolitik, die seine Informationsversorgung sicherstellt. Aber auch das reicht nicht. Denn hat nicht die Verhaltensökonomik das ganze neoklassische Modell zertrümmert und beispielsweise gezeigt, daß der Verbraucher Information selbst gar nicht gut verarbeiten kann? Der mündige Verbraucher ist also, so die Autoren, ein Mythos wie das Monster von Loch Ness.
Nessie ist nicht das einzige Monster in dieser Diskussion. Die drei Charaktere, die nun als neue Leitbilder die verbraucherpolitische Bühne betreten, sind der verletzliche, der vertrauende und der verantwortungsvolle Verbraucher. Dem verletzlichen Verbraucher fehlen die Ressourcen, um gute Entscheidungen zu treffen, und zwar entweder die geistigen Kapazitäten zur guten Informationsverarbeitung, oder materielle Ressourcen wie der Zugang zum Internet. Er ist daher, kurz gesagt, im zweiten Fall betreuungsbedürftig durch die Sozialpolitik und im ersten Fall durch eine Verbraucherpolitik, die ihm sagt, welches Konsumverhalten gut für ihn ist. Der vertrauende Verbraucher ist nicht dumm, aber er vertraut lieber als kritisch nachzudenken. Auch ihm hilft daher zusätzliche Information nicht wirklich; auch ihm muß man sagen, welche Konsummuster gut für ihn sind.
Der verantwortungsvolle Verbraucher ist zwar das normative Prunkstück der drei Exemplare. Er möchte sich richtig verhalten: die Umwelt im Blick halten, seine Gesundheit, das Wohl der anderen und vieles mehr. Doch so willig der Geist, so schwach ist das Fleisch, das sagt ja auch die Verhaltensökonomik. Auch er braucht also Hilfe, er braucht aktive Steuerung. So gelingt es dann sogar, die politische Einschränkung des Angebots von Konsumgütern (man denke etwa an die gute, alte Glühbirne) als Verbraucherschutz zu deklarieren, mit dem der verantwortungsvolle Verbraucher auf dem Pfad der Tugend gehalten wird.
Die Darstellung mag überspitzt sein, aber das ist der Trend: Die Verbraucherpolitik ist auf der Suche nach immer neuen Geschichten, mit denen sie ein viel aktiveres Eingreifen als bisher rechtfertigen kann. Sie beruft sich dabei auf die Verhaltensökonomik, rezipiert diese jedoch auf eine fast schon grotesk einseitige Art und Weise. So wird etwa die inzwischen recht breite internationale Diskussion um die Schwierigkeiten paternalistischer Schlußfolgerungen aus der Verhaltensökonomik vollständig ignoriert, ebenso wie die Einwände, die etwa Gerd Gigerenzer dagegen erhebt, daß Abweichungen vom rein theoretischen Maßstab vollständig rationalen Verhaltens als Beleg für die Unmündigkeit von Menschen dienen. Die vorgeschlagenen neuen Verbraucherleitbilder stehen daher auf sehr, sehr wackeligen Beinen.
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