Kurz kommentiert
Soziale Mindeststandards für Europa?

Andrea Nahles, die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, plädiert u.a. für ein Europa sozialer Mindeststandards (FAZ, 12. Oktober 2016, S. 8). Europa brauche „eine Sozialagenda, die den sozialen Zusammenhalt in den Mittelpunkt rückt. Wir brauchen neue soziale Mindeststandards in Europa. … Vordringlich sind Mindeststandards für nationale Mindestlöhne, die soziale Grundsicherung und die Gestaltung der Arbeitskräftemobilität innerhalb Europas“ (S. 8). Wir benötigen „einen europäischen Rechtsrahmen für die gesetzliche oder tarifliche Festlegung und Anpassung nationaler Mindestlöhne und die Implementierung nationaler sozialer Grundsicherungssysteme“ (S. 8).

Was ist gemeint mit Mindeststandards bzw. – wie man Ende der 80iger und Anfang der 90iger Jahre angesichts der Implementierung des Binnenmarktes in der EU sagte – mit einer sozialen Dimension? (Paqué, S. 11). Eine soziale Dimension des Binnenmarktes meint u.a. eine EU-weite Annäherung der sozialen Sicherungssysteme, der Arbeitsmarktregulierungen, also Schritte auf einen „Zustand, in dem … alle für den Sozialstaat relevanten Institutionen einem gemeinsamen Modell angepasst sind“ (Paqué, S. 112). Im Einzelnen geht es u.a. um ein steuerfinanziertes System der Leistungen an Bedürftige (in heutiger Terminologie eine Grundsicherung für Arbeitsuchende und eine Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) sowie um gesetzliche Einschränkungen der Gestaltung von Arbeitsverträgen.

Es stellt sich die Frage: Ist eine soziale Dimension in diesem Sinne notwendig für die wirtschaftliche Integration? (vgl. zum Folgenden Paqué, S. 113). In einem gemeinsamen Markt ist „der Sozialstaat ökonomisch nichts Anderes als eine Determinante der Wettbewerbsposition eines Landes als Anbieter von Gütern und Dienstleistungen und als Produktionsstätte; er ist Teil jenes Bündels von Standortfaktoren wie Verkehrslage, Infrastruktur, Ausbildungsstand der Bevölkerung, Umweltqualität, Rohstoffverfügbarkeit, Real- und Realzinsniveau“ (Paqué, S. 115). Es gibt kein stichhaltiges wohlfahrtsökonomisches Argument dafür, den Sozialstaat anders zu behandeln als andere Produktionsfaktoren, deren Ex-ante-Harmonisierung (im Gegensatz zu einer Annäherung oder Angleichung durch Imitation des guten Beispiels, also einer Ex-post-Harmonisierung) üblicherweise nicht gefordert wird. Zudem sollte der internationale Wettbewerb bei der Gestaltung des Sozialstaats als Entdeckungsverfahren genutzt werden.

Aus ökonomischer Sicht spricht demnach nicht nur nichts für soziale Mindeststandards in der EU, sondern auch mindestens die folgende Überlegung gegen solche Standards (Paque, S. 118-119): Die Nachfrage nach sozialer Absicherung ist u.a. abhängig vom Einkommensniveau eines Landes. Angesichts der Einkommensunterschiede zwischen den Ländern der EU ist vermutlich die Nachfrage nach Leistungen des Wohlfahrtsstaats verschieden. Wird ein Mindestniveau dieser Leistungen EU-weit festgesetzt, dann werden die Präferenzen der Bürger und der Steuerzahler in den relativ armen Ländern missachtet. Auch wird der Aufholprozess in diesen Ländern behindert, weil diese ihren Standortvorteil niedriger Sozialkosten nicht voll oder nur unzureichend nutzen können. Wenn sich der Faktor Arbeit infolge von Lohnabschlägen, die den erhöhten Sozialleistungen nicht voll entsprechen, verteuert, dann ist die Arbeitslosigkeit in den relativ armen Ländern höher als sonst.

Risiken dieser Art scheint Frau Nahles zu sehen. Sie konzediert: „Die konkrete Ausgestaltung beider Rechtsrahmen für die Festlegung und die Anpassung nationaler Mindestlöhne und die Implementierung nationaler Grundsicherungs­systeme müssen … den Mitgliedstaaten überlassen werden“ (FAZ, S. 8). Besser wäre es, solche Risiken nicht einzugehen und auf soziale Mindeststandards jeder Art zu verzichten.

Literatur

Nahles, Andrea, Für ein Europa sozialer Mindeststandards, FAZ vom 12.10.2016, S. 8.

Paqué, Karl-Heinz, Die soziale Dimension des EG-Binnenmarktes – Theorie, Bestands­aufnahme und Kritik, Die Weltwirtschaft, 1989, S. 112–123.

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