Plurale Ökonomik (3)
Die Sinnsuche in den Wirtschaftswissenschaften
Anmerkungen zum neuen Buch von Philip Plickert

Wie schon im Vorjahr so hat auch in diesem Jahr die Bundeskanzlerin bei der Übergabe des Sachverständigenrat-Gutachtens vor der Bundespressekonferenz stante pede, ohne eine einzige Zeile vorher gelesen zu haben, öffentlichkeitswirksame Kritik an zentralen Aussagen des Gutachtens geübt. Fünf gestandene Professoren der Wirtschaftswissenschaften wurden von einer promovierten Physikerin öffentlich in die Schranken gewiesen: Eine politische Anmaßung von (Besser-)Wissen und Kompetenz? Das erinnert stark an Helmut Schmidt: Wissen Sie, gestand er einmal, ich habe sowohl als Finanzminister als auch als Bundeskanzler nicht eine einzige Zeile des SVR-Gutachtens gelesen. „Mich hat das nie interessiert, was Wirtschaftsprofessoren so schreiben“. Und selbst die englische Queen zweifelte jüngst nach der internationalen Finanzkrise an den Fähigkeiten ihrer ökonomischen Professoren-Elite indem sie fragte: „Why did nobody see it coming“?. Diese Frage, die ja auch in Deutschland große Popularität genießt, würde man wohl kaum zwecks genereller Infragestellung ihrer gesamten Wissenschaftsdisziplin den Medizinern stellen, weil sie nicht in der Lage seien, für die Patienten den Ausbruch einer bestimmten Krankheit exakt zu vorauszusagen. Das trifft ganz sicher auch für die Ingenieurwissenschaften zu, deren Reputation in Gänze nicht infrage steht, nur weil irgendwo eine Brücke zusammengestürzt ist. Aber es gibt repräsentative Umfragen, die zeigen, dass rund 80 Prozent der Deutschen der Meinung sind, die Gesellschaft brauche keine Ökonomen, deren Wissenschaft sei überflüssig.

Die Geringschätzung der wissenschaftlichen Ökonomik und deren Vertreter durch Politik und Öffentlichkeit ist nicht neu, und sie ist vielfältig in der Politischen Ökonomik analysiert worden. Aber sie scheint sich zu verstärken in einem Ausmaß, das nicht nur die Politik in den scharfen kritischen Fokus ihres Verständnisses von wirtschaftswissenschaftlicher Expertenberatung stellt, sondern auch Fragen an das Selbstverständnis, an Inhalt und Analysemethoden wirtschaftswissenschaftlicher Forschung und Lehre an den Hochschulen aufdrängt: Studieren die heutigen Studenten der Volkswirtschaftslehre das „Richtige“, erforschen die Ökonomen mit den „richtigen“ Methoden das „Relevante“?

Auf den Jahrestagungen des „Vereins für Socialpolitik“, der Hochschullehrervereinigung der wissenschaftlichen Ökonomen, geht es diesbezüglich hoch her: Das Verlangen, vor allem von studentischer Seite, nach einer „Pluralen“ Ökonomik wird lautstark artikuliert. Dieses Schlagwort steht in der Gefahr, ein „Wieselwort“ im Hayekschen Sinne zu sein, für das sich ein beliebig weites Interpretationsfeld öffnet. Was heißt denn „plural“? Wollte man es mit konkretem Inhalt füllen, so steht zunächst die Forderung nach Pluralismus in den Theorien und in den Methoden im Fokus. Allerdings handelt es sich hier keineswegs um eine besondere Originalität im Katalog der Fragen, über die sich auch schon unsere wissenschaftlichen Vorfahren Gedanken gemacht und gestritten haben. Aber dennoch gilt es, den heutigen Themen- und Methoden-Mainstream, der sich zum Beispiel als variantenreiche DSGE-Modelle (Dynamic Stochastic General Equilibrium) auf Basis neoklassischer oder neukeynesianischer oder auch nicht-walrasianischer Mengengleichgewichtsmodelle in den internationalen Journals dokumentiert, in seiner Dominanz unter die Lupe der realitätserklärenden Effizienz zu nehmen. Steht die DSGE-Dominanz und deren mathematisch und ökonometrisch sehr aufwendige Modellbasis im empirischen Effizienztest der Realitätserklärung besser da als zum Beispiel die Makrobasis der sogenannten Österreichischen Schule? Das ist keineswegs der Fall, das Gegenteil ist wohl eher zutreffend, wie sich zum Beispiel deutlich an der Ineffizienz der gegenwärtigen Geldpolitik der EZB zeigt. Ein solches Ergebnis sollte dann auch auf die universitären Lehrinhalte einer zum Beispiel „pluralen“ Makroökonomik ausstrahlen. Interessanterweise gibt es in Deutschland bisher nur wenige Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die sich in ihrem Lehr- und Forschungsansatz in Abweichung vom allgemeinen Mainstream ganz speziell auf die Austrian Economics konzentrieren (z. B. in der Theorie und Politik des Geldes das Institut für Wirtschaftspolitik der Universität Leipzig sowie das Research Institute der Flossbach von Storch AG in Köln, im Prognosezentrum des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, im Institut für Öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik der TU Berlin, im Masterstudiengang der neuen privaten Hochschule BiTS in Berlin), die allerdings auf konkurrierende Makroansätze durchaus hinweisen. Die Pluralität bezieht sich dann auf den paradigmatischen Wettbewerb zwischen den Institutionen in Bezug auf deren Wissenschaftsangebote. Das scheinbar Neue in der Pluralitätsforderung ist hier eigentlich nichts anderes als die nicht neue Forderung nach mehr Wettbewerb zwischen den theoretischen und methodischen Paradigmen, der den Monopolcharakter des scientific mainstream in den Journalen relativieren soll.  

Theorie- und Methodenpluralität ist das eine, das andere in dem Pluralitätsspektrum ist die Interdisziplinarität. Der Nobelgedächtnispreisträger Friedrich August von Hayek konstatierte, dass ein guter Ökonom nur derjenige sei, der nicht nur Ökonom sei, sondern auch etwas von anderen Wissenschaften verstehe, zum Beispiel von der Psychologie, der Soziologie, der Politischen Wissenschaften, auch der Neurologie und den philosophischen Grundlagen des Rechts. Insofern sei die Ökonomik im Kern keine Natur-, sondern eine Sozialwissenschaft. Die damit verbundene evolutorische Komplexität bei Nichtexistenz sicheren Zukunftswissens entziehe sich grundsätzlich mathematischer Berechenbarkeit.

Und natürlich gehört in das Pluralitätspostulat auch die (Wieder-)Belebung des historischen Blicks, der Kenntnis der Geschichte der ökonomischen Theorien. Das Studium der Theoriegeschichte, die man besser nicht als Dogmengeschichte bezeichnet, immunisiert manchen heutigen Wissenschaftler gegen hochmütige Denkanmaßungen in Bezug auf die besondere eigene Lern-, Forschungs- und Ergebnisoriginalität samt ihrer ökonometrischen Untermauerung, die es angeblich bisher nicht gab. „Wir stehen alle auf den Schultern unserer Ahnen, ohne sie wären wir nicht da, wo wir heute stehen“ (Erich Schneider). Der neugierige Respekt vor den Theorien der großen Alten beinhaltet zugleich die Bereitschaft der Jungen, von ihnen zu lernen, auch und nicht zuletzt, um deren Irrtümer nicht zu wiederholen und zuweilen zu erkennen, dass nicht alles Gedankliche neu ist, was einem heute spontan einfällt. Deshalb gilt es, die theoriehistorische Lehre und Forschung an den deutschen Hochschulen signifikant zu beleben.

Was also kann, soll oder muss das Studium der Ökonomik beinhalten? Es geht um die Sinnsuche in den Wirtschaftswissenschaften. Dieser Suche stellt sich Philip Plickert, bekannter  Wirtschaftsredakteur der FAZ, in seinem neuen Buch „Die VWL auf Sinnsuche“, das sich primär an „zweifelnde Studenten und kritische Professoren“ wendet. Leistet dieses Buch das, was die Komplexität dieser Sinnsuche nachfragt und was sich an Originalität gegenüber bereits vorhandenen Studien, die sich derselben Materie widmen, auffallend abhebt? Ja, ohne Einschränkung, und das kann man gut begründen.

Das „Vorwort“, ganze 30 Seiten lang, ist der umfangreich angelegte Introitus mit bester survey-Qualität eines wissenschaftsaffinen Journalisten, die eine breite und tiefe Kenntnis der internationalen ökonomischen Fachliteratur voraussetzt. In Deutschland geht die Zahl der VWL-Studenten im Trend absolut und im Vergleich mit den BWL-Studierenden relativ stark zurück und dies vor dem Hintergrund, dass fast alle Probleme dieser Welt zunehmend ökonomischen Ursprungs oder mindestens von hoher ökonomischer Relevanz sind: Warum gibt es reiche und arme Länder? Was sind die ökonomischen Auswirkungen des Klimawandels? Ist der Kapitalismus (Marktwirtschaft) dem Sozialismus (Planwirtschaft) überlegen? Was sind die Ursachen von Arbeitslosigkeit und Inflation? Vertragen sich Ökonomie und Ökologie? Wie kann man neues Wissen effizient produzieren? Was ist soziale Gerechtigkeit? Erzeugt die Digitalisierung Arbeitslosigkeit oder neue Arbeitsplätze? Brauchen wir Wachstum? Sind CETA und TTIPP gut oder schlecht? Wie entsteht ökonomische Ungleichheit und welche Folgen hat sie? Wie kann man Wohlstand und Glück messen? Ist der Euro gut für Europa? Was kosten die Flüchtlinge und was bringen sie an Nutzen?

Diese Fragen und viele andere zu diskutieren und zu beantworten, mag der repräsentative Motivationshintergrund für junge Leute sein, ein Studium der Ökonomik zu beginnen. Aber sie werden häufig genug schon zu Beginn des Studiums desillusioniert, wenn weniger diese Fragen als vielmehr die harte instrumentelle Nüchternheit der Mathematik, der Statistik, der Ökonometrie, der Einführung in die Modelltheorie zunächst im Studiervordergrund stehen. Indes kann Plickerts Buch ihnen helfen, auf der Motivationsbasis einer per aspera ad astra-Philosophie nicht vorschnell wieder abzuwandern. Denn sein langes Vorwort ist eine aufregende tour d´orizon durch die moderne Theorie und Empirie der ökonomischen Lehre und Forschung an deutschen und internationalen Hochschulen sowie deren (partiell) notwendiger Renovierung. Jedem verständlich und durchaus mit subjektivem touch schafft Plickert eine studenten- (und professoren-)einladende analytische Erzählung der faszinierenden Welt einer pluralen Ökonomik und ihrer inhärenten wissenschaftlichen Kontroversen. Sein Erzählmodus zeigt, dass das VWL-Studium keineswegs als überwiegend mathematische Modellwissenschaft, als Übung in formaler Logik mit wenig Bezug zur ökonomischen und gesellschaftlichen Realität ausgerichtet ist. Allerdings wird auch deutlich, dass ökonomische Modelle als vereinfachte Abbilder der unüberschaubar komplexen Wirklichkeit im Gesamtspektrum der Ökonomik alles andere als sinnlos sind, sondern Hilfsinstrumente zur Selektion der – vermutlich – erklärungswichtigsten Einflussvariablen und deren Interdependenzen in dynamischen Anpassungsprozessen der Ökonomie. Zudem schult das „Denken am Modell“ den Studenten nicht nur zur Logik im Diskurs, sondern auch zur Einsicht in die jeweilige Begrenztheit und Spezialität seiner Aussagen, also zur intellektuellen Disziplinierung: Die VWL ist, auch wenn man sie nicht als Natur-, sondern als Sozialwissenschaft begreift, im Kern methodisch keine anything goes-Arena. Wer die sucht, sollte eine andere Wissenschaftsdisziplin wählen.

Nach dem ausführlichen Vorwort begibt sich Plickert auf die thematisch herrlich bunte Wiese eines ökonomikbewanderten Wirtschaftsjournalisten, der in vielen Kurznarrativen mit leichter Feder – und nicht ohne belletristischen Charme – wissenschaftliche Analytik präsentiert. Sie basiert auf Interviews mit Wissenschaftssachkundigen und auf Recherchen zur ganzen Breite und Tiefe der internationalen Ökonomik: „Die Ökonomen in der Krise und im Wandel; Vom Wert der Vergangenheit; Die Finanzkrise – Doping mit billigem Geld; Eurokrise und kein Ende; Mensch, Gesellschaft und Umwelt; Neue Blicke auf die Politische Ökonomie; Arm und Reich in der Weltwirtschaft; Bedrohte Meinungsfreiheit“. Plickerts Themenspektrum repräsentiert „plurale“ Ökonomik at its best. Die besondere Empfehlung zur Buchlektüre geht mit Recht an die „zweifelnden Studenten“ der VWL, aber auch an solche, die noch auf der Suche nach dem geeigneten Studienfach sind. Und sicher auch an „kritische Professoren“, wie Plickert sie nennt, die in der Wissenschaftswelt der tiefen Spezialisierung den Überblick über die internationale Forschungsbreite in der Ökonomik, mit der sie  verlinkt sind, nicht verlieren wollen.

*Philip Plickert: Die VWL auf Sinnsuche. Ein Buch für zweifelnde Studenten und kritische Professoren. Frankfurt am Main 2016

Blog-Beiträge zum Thema:

Mathias Erlei: Was ist richtig an der Kritik heterodoxer Ökonomen?

Christian Schubert: „Pluralismus“ in der VWL: Bewegt Euch!

2 Antworten auf „Plurale Ökonomik (3)
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