Was kann die Verhaltensökonomik für die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung leisten? Mit dem spektakulären Erfolg des sogenannten „Libertären Paternalismus“ und seiner vieldiskutierten „Nudge“-Agenda gewinnt diese Frage immer mehr an Bedeutung. Während unter Ökonomen im deutschen Sprachraum die Skepsis zu überwiegen scheint, ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass verhaltensökonomisch informierte Politikberatung – Stichwort „Behavioral public policy“ – im angelsächsischen Raum rasch an Einfluss gewinnt. Zwei spezialisierte Journals sind im vergangenen Jahr gegründet worden. Und in einer ganzen Reihe von Ländern beraten inzwischen „Nudge Units“ die Regierungen, und internationale Organisationen wie zuletzt die OECD schließen sich dem Trend an.
Interessant an dieser neuen globalen Entwicklung ist, dass sie trotz der vielen Schlagzeilen erstaunlich wenig erforscht ist. Das gilt z.B. für ihre politökonomischen Hintergründe. Wenig Aufmerksamkeit findet aber auch das Problem, dass verhaltensökonomische Politik, so wie sie derzeit weitgehend diskutiert und praktiziert wird, in konzeptioneller Hinsicht durchaus auf tönernen Füßen steht. Es lohnt sich, dies näher zu beleuchten, da man dadurch einiges über die Natur und die inneren Widersprüche des aktuellen Großprojekts lernt, Ökonomik und Psychologie einander (wieder)anzunähern.
Beginnen wir mit einem besonders frappanten Widerspruch: Während Verhaltensökonomen in unzähligen Studien überzeugend nachweisen, dass reale Menschen in ihrem Handeln systematisch vom Rationalitätsstandard des Homo Oeconomicus abweichen, halten sie in normativer Hinsicht an eben jenem Standard fest! Abweichungen vom Rationalwahlmodell interpretieren sie folglich als (korrekturbedürftige) „Fehler“. Der Raum für notwendige Politikinterventionen wird damit praktisch grenzenlos, alles auf Basis der Idee: Reale Menschen verhalten sich regelmäßig nicht wie ein Homo Oeconomicus, aber sie sollten es tun.
Das ist offenkundig schizophren. Ein realistischerweise kaum je erreichbarer Maßstab taugt nicht als Kriterium, um Handlungen realer Menschen zu bewerten. Schon die römischen Rechtsgelehrten wussten, dass Sollen Können impliziert. Davon abgesehen liegt ein Denkfehler vor, wenn die eigentlich – für die neoklassische Mikroökonomik – konstitutive Norm „Rationalität“ (verstanden als perfekte Konsistenz) zur präskriptiven Norm umgedeutet wird. Dagegen spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass es kaum Evidenz dafür gibt, dass perfekt konsistentes Handeln die persönliche Wohlfahrt erhöht.
Der Homo Oeconomicus taugt folglich nicht als normatives Rollenmodell. Was aber wäre die Alternative? Verhaltensökonomen sollten Konzepte wie „Rationalität“ und „Bias“ zunächst einmal von Wertungen (rational = gut; biased = schlecht) befreien und als das begreifen, was sie letztlich sind: Analytische Instrumente, um menschliches Handeln im wirtschaftlichen Kontext zu verstehen. In einem zweiten Schritt sollten sie akzeptieren, dass ökonomische Politikberatung sich sinnvollerweise zuerst an die Bürger selbst – als Prinzipale der Politik – richten sollte, nicht an Technokraten in irgendwelchen Ministerien.
In einem dritten Schritt eröffnet sich verhaltensökonomischen „Bürgerberatern“ die Möglichkeit, ganz pragmatisch ein bestimmtes gesellschaftliches Ziel zu unterstellen – etwa: Umweltschutz fördern – und dann alternative Instrumente komparativ auf ihre Eignung hin abzuklopfen, dieses Ziel zu erreichen (hier also z.B.: traditionelle Anreizregulierung vs. Grüne Nudges).
War’s das? Löst sich das Problem verhaltensökonomisch informierter Politikberatung also zwanglos im Pragmatismus auf? Keineswegs. Verhaltensökonomische Politikberatung bedarf – in einem vierten Schritt – der normativen Analyse. „Normative Analyse“ sei hier verstanden als ethisch informierte Klärung von Bewertungsmaßstäben wie etwa „Wohlfahrt“. Der Vergleich alternativer Politikinstrumente muss die mit ihnen verbundenen Wohlfahrtseffekte berücksichtigen, und der Begriff „Wohlfahrt“ ist leider nicht selbsterklärend. Insbesondere in unserem verhaltensökonomischen Kontext wird es heikel: Wenn individuelle Präferenzen regelmäßig variabel und inkonsistent sind, lässt sich der traditionelle Wohlfahrtsbegriff der Neoklassik (Wohlfahrt als Grad der Befriedigung gegebener konsistenter Präferenzen) nicht mehr kohärent anwenden! Dem Problem begegnet Chetty (2015) z.B., indem er stillschweigend auf den objektiven Wohlfahrtsbegriff der ökonomischen Happinessforschung zurückgreift, was natürlich keineswegs unkontrovers ist und jedenfalls eine Wertung einführt, die besser offenzulegen wäre.
Tatsächlich öffnet sich an dieser Stelle ein fruchtbares Forschungsfeld, das im deutschen Sprachraum indes noch weitgehend brachliegt: Wie kann und wie soll man Wohlfahrt in einer verhaltensökonomischen Welt definieren und messen? Robert Sugden hat dazu schon 2004 einen Vorschlag gemacht, der auf ein freiheitliches „opportunity“-Kriterium hinausläuft, insofern also eher ein allgemeines „Vorteilskriterium“ zu sein beansprucht. Sugden zufolge liegt den „meisten“ Individuen daran, jedwede Präferenz, die sie in zukünftigen Perioden ausbilden werden, weitestmöglich befriedigen zu können, solange Dritte dadurch nicht zu Schaden kommen. Diese quasi-aristokratische Vorstellung („Never explain, never complain“) setzt ein gerüttelt Maß an Vertrauen in die eigene Urteilsbildung und damit einhergehend die pauschale Ablehnung jedweder Selbstbindung voraus, die über mental durchgesetzte Vorsätze hinausgeht. Sie impliziert zudem, dass paternalistische Interventionen in die Präferenzbildung, wie sie die Libertären Paternalisten vorschlagen, abzulehnen sind. Insofern mündet sie zwanglos in libertären Politikempfehlungen. So weit, so gut (Sugden zu lesen ist im übrigen stets ein Gewinn, selbst wenn man seine Politikimplikationen nicht teilt.)
Die Crux liegt nach meinem Verständnis in der Frage, wie reale Individuen plausiblerweise mit der Erwartung umgehen, dass sich ihre eigenen Präferenzen im Zeitablauf ändern oder, anders gewendet, dass sie neue Präferenzen lernen werden. Die damit verbundenen – vermutlich trial-and-error-basierten – Lernprozesse sind hochkomplex und ihre Analyse für Ökonomen traditionell Sperrgebiet (Ausnahmen bestätigen die Regel). Das Nachdenken darüber führt aber zu der Einsicht, dass psychologisch informierte Interventionen wie z.B. Nudges durchaus problematische Nebenwirkungen haben können. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, Lernprozesse zu bewerten, indem man vermeintlich „authentische“ von „problematischen“ oder „künstlichen“ Präferenzen abzugrenzen versucht – derlei wäre sinnlos, wie wir spätestens seit 1961 wissen. Es geht nicht um Ergebnisse: Vielleicht sollten wir die konkreten Präferenzinhalte, die wir z.B. als Konsumenten tagtäglich ausleben, ohnehin etwas weniger wichtig nehmen. Jerome Rothenberg hat es 1962 auf den Punkt zu bringen versucht: „Maybe these tastes…are not really “˜owned’ but only “˜loaned’ tastes anyway, passed on from one person to another. What really can belong to the self and be accurately known is the experience of making and taking responsibility for choices, whether right or wrong, and seeking to know by this continuing dialogue across the permeable boundary of the self what if anything is worth preserving. It is possible that this quest, given any reasonable degree of responsiveness in the outside world, is what consumers want more than being given what they are told they really want.“ (Rothenberg 1962: 282f., Hervorhebung hinzugefügt). Es geht also um den Prozess selbst. Grundsätzlicher: Es geht darum, die Voraussetzungen dafür in den Blick zu nehmen, dass so etwas wie als eigenständig erfahrene Präferenzbildung überhaupt stattfinden kann.
Grob verkürzt: Um überhaupt in der Lage zu sein, Präferenzen auszubilden und neue Präferenzen zu lernen bedarf es einer persönlichen Identität. Erst sie erlaubt es dem Individuum, prinzipiengeleitet Standpunkte zu entwickeln, von denen aus es auf neue Handlungsbedingungen selbstbestimmt reagieren kann. Man kann es sich natürlich leicht machen und Identität als exogen gegeben unterstellen, wie es die neoklassische Ökonomik zu tun pflegt. Wenn aber die Identität eines Individuums in seinen Präferenzen (sprich: seiner Nutzenfunktion) liegt und diese Präferenzen regelmäßig unvollständig sind, dann bietet es sich an, Identitätsbildung selbst zu thematisieren. Dann aber fällt der Blick auf eine der existentiellen Herausforderungen, mit denen jeder Mensch von Geburt an konfrontiert ist: Er muss etwas aus sich zu machen. James Buchanan, Vordenker der Public Choice School, hat in einem leider zu wenig beachteten Aufsatz 1979 darauf hingewiesen, dass das „etwas aus sich zu machen“ untrennbar an die Voraussetzung geknüpft ist, selbst aktiv Entscheidungen zu treffen. Diese Idee ist erst kürzlich von der Harvard-Philosophin Christine Korsgaard weiterentwickelt worden.
Genau diese Neigung, selbst aktiv Entscheidungen zu treffen und insofern als souveräner Konsument aufzutreten, wird nun aber von den neuen psychologisch informierten Interventionen systematisch decouragiert, jedenfalls insoweit sie als Nudges das Individuum davon entlasten, eigenständig mentalen Aufwand zu betreiben. Zwei Beispiele (die übrigens staatliche wie kommerzielle Verhaltenslenkung betreffen – auch privater Machtmissbrauch ist ein Problem): Ein vieldiskutierter Nudge besteht darin, die individuelle Teilnahme an betrieblichen Rentensparplänen zu stimulieren, indem die Standardeinstellung – der „Default“ – so modifiziert wird, dass der Arbeitnehmer automatisch teilnimmt, es sei denn, er erklärt aktiv seine Nichtteilnahme. Empirische Studien belegen, wie effektiv solch ein „Stupser“ ist, wenn es darum geht, individuelle Sparquoten zu steigern. Zugleich aber verleitet er dazu, jedweden mentalen Aufwand, den man zuvor leisten musste, um die eigene Altersversorgung sicherzustellen, an die Entscheidungsarchitektur (die Menge aller situativen Faktoren, die eine Entscheidung beeinflussen) zu delegieren.
Ein zweites, nicht weniger prominentes Beispiel, betrifft die Förderung vermeintlich gesunder Ernährung: Man kann Cafeteria-Gäste dazu bringen, öfter zum Obst als zum Schokoriegel zu greifen, indem das Obst in den Vitrinen eher auf Augenhöhe und in Kassennähe platziert wird und die Schokoriegel eher im Abseits. Neben den vieldiskutierten Einwänden gegen die mit einem solchen Nudge verbundene Bevormundung und „Manipulation“ sollte nicht übersehen werden, dass auch hier systematisch Anreize gesetzt werden, sich lenken zu lassen statt selbständig eine aktive Entscheidung zu treffen. Das heißt: Systematisch wird die Voraussetzung eigenständiger Identitätsbildung unterminiert, inklusive des individuellen Respekts vor der je eigenen Urteilskraft, so unvollkommen diese von einer externen Warte aus gesehen auch immer sein mag. Das mag im Einzelfall trivial sein. Aber wenn der gegenwärtige Trend zu allgegenwärtigen digital gestützten „behavioral interventions“ anhält, wird es zum Problem.
Es stimmt natürlich: In einem als zunehmend komplex wahrgenommenen sozialen Umfeld müssen wir jede Menge alltäglicher Entscheidungen an Dritte delegieren, um unsere knappen mentalen Ressourcen überhaupt zu so etwas wie selbständigem Handeln einsetzen zu können. Das ist ein vielbemühtes Argument der Libertären Paternalisten. Aber derlei hat eben auch eine zu wenig beachtete Kehrseite: Wenn der gegenwärtige Trend anhält, sich schon aus reiner Bequemlichkeit in allen möglichen Lebensbereichen von unsichtbaren Stupsern – etwa in Gestalt smarter Algorithmen – leiten zu lassen statt selbst aktiv tätig zu werden, dann entstehen Wohlfahrtsverluste der oben skizzierten Art, auf die die Bürger als Prinzipale der Politik hingewiesen werden sollten.
Literatur:
Chetty, R. (2015), Behavioral Economics and Public Policy: A pragmatic perspective. American Economic Review, Papers & Proceedings 105: 1-33.
Rothenberg, J. (1962), Consumers“˜ sovereignty revisited and the hospitability of freedom of choice. American Economic Review, Papers & Proceedings 52: 269-283.
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