Wie geht es eigentlich unserer alten Bekannten, der Dauerdebatte um die „unzureichende Vielfalt in der Ökonomik“? Die Volkswirtschaftslehre, so lesen wir, ist auf Sinnsuche, und angeblich nimmt das nun auch der altehrwürdige Verein für Socialpolitik zur Kenntnis. Die VWL findet sich, so hören wir, wieder im Spannungsfeld zwischen kritischen Studierenden, renitenten Professoren und einer Öffentlichkeit, deren Vertrauen in die Profession schon einmal ausgeprägter war. Zugleich sinkt die Nachfrage nach einem VWL-Studium offenbar stetig – und das in einer Zeit, in der der Bedarf an ökonomischer Expertise größer ist denn je.
Diese Pluralismusdebatte wird uns noch viele Jahre begleiten. Die große Finanzkrise der Jahre 2007ff. – die sich eben kaum als Einsturz einer Brücke wegtrivialisieren läßt – wirkt nur als Durchlauferhitzer, der sie noch einmal befeuert hat.
Was an der Debatte aber wirklich nervt, ist ihr beklagenswertes Niveau. Wer sich die Mühe macht, die Fülle an kritischen bis feindseligen Beiträgen zum gegenwärtigen Zustand der VWL im deutschen Sprachraum zu sichten, wird relativ rasch frustriert: Da wird der VWL „Menschenfeindlichkeit“ vorgeworfen oder es wird insinuiert, sie stecke in einer methodischen Monokultur fest, verfochten von einem monolithischen „Mainstream“. Zuweilen fragt man sich, wann die Kritiker (viele von ihnen offenbar nicht einmal Ökonomen) zuletzt einen Blick in ein ökonomisches Journal geworfen haben. Vertreter des gescholtenen Mainstreams nehmen derlei genervt, zuweilen auch mit einem kräftigen, wenngleich vergeblichen Donnerwetter zur Kenntnis und folgern, dass sich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit derart schlecht informierter Kritik nicht lohne. Zudem bringen offenbar nicht viele VWL-Studierende die akademische Einstellung mit, die für eine fruchtbare Diskussion qualifiziert. Die meisten Debattenteilnehmer scheinen denn auch aneinander vorbeizureden.
Diese Gemengelage ist fatal. Denn wie jede seriöse Wissenschaft bedarf die Ökonomik nicht nachlassender Selbstkritik. Manches liegt tatsächlich im Argen, und die Schlagseite in der volkswirtschaftlichen Lehre – „Rechnen statt Diskutieren“ – ist natürlich problematisch. Nur treffen die oft wenig konstruktiven Maximalforderungen vieler Kritiker („alle Lehrinhalte überarbeiten!“) regelmäßig daneben. Schlimmer noch: Sie diskreditieren jene, die berechtigte Einwände gegen manche Tendenzen innerhalb der VWL vorbringen.
Was wäre zu tun? Mein Vorschlag: Mehr Raum schaffen für reflektierende Inhalte im VWL-Curriculum (die derzeit zweifellos extrem marginalisiert sind), jedenfalls auf Master-Niveau. Zu solchen Inhalten zählen nach weitverbreiteter Wahrnehmung zumindest Theoriegeschichte und Moralphilosophie: die üblichen Verdächtigen, als „Laberfächer“ verschrien, als die sie leider ja auch oft gelehrt werden. Was aber wirklich fehlt, ist die systematische Beschäftigung mit dem, was ich, in Ermangelung eines passenden deutschen Ausdrucks, als „Philosophy of Economics“ bezeichnen möchte.
Selbst Ordnungsökonomen reagieren heutzutage ja oft allergisch auf alles, was nach „Philosophy“ riecht, so überraschend (und deprimierend) dieser Befund auch klingen mag. Aber sehen wir von derlei Befindlichkeiten einmal ab: Womit würde sich ein Kurs „Philosophy of Economics“ beschäftigen? Zum Beispiel mit Fragen wie diesen: Was genau ist Inhalt, Sinn und Zweck des Konstrukts „Homo Oeconomicus“, das allenthalben durch die Pluralismusdebatten geistert? Taugt es, wenngleich deskriptiv entzaubert, dennoch als normatives Rollenmodell – wie ausgerechnet viele Verhaltensökonomen glauben? (Fußnotenfrage in diesem Kontext: Ist Reinhard Seltens Forschung wirklich “gefährlich“?) Und was ist überhaupt Sinn und Zweck all dieser „unrealistischen“ Modelle im VWL-Kanon? Was hat es mit dem „as-if“-Ansatz auf sich? Ist der junge ökonomische Imperialismus à la Freakonomics eher Segen oder Fluch – Stichwort Cute-onomics? Was kann die Psychologie der VWL tatsächlich bieten? Wie weit reicht die Erklärungskraft von Laborexperimenten? Was bringen diese modischen randomized controlled trials? Inwiefern kann man inadäquate Makromodelle für die Scheuklappen der meisten Ökonomen vor Ausbruch der letzten Finanzkrise verantwortlich machen? Wann schlägt sinnvoller Formalismus in sinnfreie „Mathturbation“ um? Wie gelangt man von positiven Erkenntnissen zu normativen Politikempfehlungen? Wie kann man „Wohlfahrt“ konzipieren, wenn Präferenzen instabil und inkonsistent sind? Und so weiter. Der geneigte Leser sei an die letzten Jahrgänge des Journal of Economic Methodology oder von Economics and Philosophy verwiesen, um sich einen Eindruck vom Stand der internationalen Diskussion zu verschaffen.
Derlei Fragen sind heute drängender denn je, nicht zuletzt deshalb, weil sich die VWL gerade selbst neu erfindet – sie nähert sich in weiten Teilen der Psychologie an, einer Wissenschaft, deren Erkenntnisinteressen durchaus von jenen der Ökonomen abweichen. Manchmal hat man den Eindruck, dass weder Kritiker noch auch Verteidiger des sogenannten Mainstreams die Tragweite dieser Veränderung begreifen. Jedenfalls ist das intellektuelle Niveau der methodologischen Debatten hierzulande suboptimal.
Die skizzierte Ergänzung des VWL-Curriculums wäre ein erster kleiner Schritt, hier Abhilfe zu schaffen. Wie man sieht, lassen sich theoriegeschichtliche und moralphilosophische Fragen zwanglos integrieren, aber der Schwerpunkt läge woanders, wäre eher wissenschaftsÂtheoretischer Natur: Was ist Sinn und Zweck einer ökonomischen Wissenschaft? Nach meiner – zugegebenermaßen anekdotischen – Wahrnehmung ist ein Defizit im Verständnis jener grundlegenden Fragen Hauptmerkmal und Hauptärgernis vieler Beiträge (nicht nur auf Seiten der Kritiker) jener so ineffizient geführten Pluralismusdebatte. VWL-Studierende sollten in der Lage sein, bei der Kritik, der ihr Fach ausgesetzt ist, die Spreu vom Weizen zu trennen, die berechtigten Einwände ernstzunehmen und dazu beizutragen, dass die VWL wieder zu Recht als das faszinierende und hochgradig praxisrelevante Fach wahrgenommen wird, das sie ist. Und vielleicht stiege dann irgendwann auch wieder die studentische Nachfrage nach dem Lehrfach Ökonomik.
Blog-Beiträge zum Thema:
Wolf Schäfer: Die Sinnsuche in den Wirtschaftswissenschaften. Anmerkungen zum neuen Buch von Philip Plickert
Mathias Erlei: Was ist richtig an der Kritik heterodoxer Ökonomen?
Christian Schubert: „Pluralismus“ in der VWL: Bewegt Euch!
- Gastbeitrag
Verhaltensökonomische Politikberatung - 28. März 2017 - Plurale Ökonomik (4)
Zum Elend der „Pluralismus-Debatte“
Und ein Vorschlag zur Güte - 2. Dezember 2016 - Gastbeitrag
„Mehr Psychologie wagen!“
Warum eine psychologisch informierte VWL gute Argumente gegen staatlichen Interventionismus liefert - 2. Oktober 2015
Was will der Autor uns sagen? Der Artikel, der vor allem aus Fragen besteht, deren Beantwortung der Autor offensichtlich anderen überlassen möchte, liest sich so, als ob er damit seinen eigenen Satz „Jedenfalls ist das intellektuelle Niveau der methodologischen Debatten hierzulande suboptimal“ beweisen möchte.