Die Ankurbelung des Wirtschaftswachstums ist eines der zentralen Ziele der deutschen Wirtschaftspolitik. Doch positive Wachstumsraten respektive ständig steigender Wohlstand machen uns nicht zwingend zufriedener – dies hat die Glücksforschung längst belegt. Natürlich sind Wirkungsketten und Zusammenhänge zwischen Wohlstand und Lebenszufriedenheit gegeben – allein schon deshalb, weil Wohlstand üblicherweise in marktwirtschaftlichen Systemen mit gut funktionierenden Institutionen erreicht wird, die den Menschen ein hohes Maß an individueller Freiheit sowohl im wirtschaftlichen als auch im privaten Bereich lassen. Wohlstand geht auch mit einer besseren Gesundheit einher; auch die Bildung ist positiv mit dem Wohlstand korreliert. Auch Gesundheit und Bildung wirken wiederum auf unsere Lebenszufriedenheit. Wohlstand selbst ist dabei vielleicht gar nicht so wichtig für uns – vor allem dann, wenn wir bereits so reich sind, dass wir mehr als genug zum Leben haben.
In der Wertehierarchie der deutschen Bevölkerung nimmt Wohlstand nur einen hinteren Platz ein. So führt Opaschowski (2013, S.688) aus, dass laut Befragungen in der Bevölkerung zur Auffassung, was im Leben wirklich wichtig sei, Gesundheit, Freundschaften, Familie, aber auch Bildung und Arbeit vor Konsum und Geld gestellt werden.
Auch der internationale Vergleich im World Values Survey offenbart, dass nur 19 Prozent der Menschen in Deutschland Wohlstand als wichtig erachten (siehe Abbildung 1). Gefragt wurde hier, ob es wichtig sei, reich zu sein, viel Geld und teure Dinge zu besitzen. 19 Prozent ist kein besonders hoher Anteil. Dies deckt sich mit dem Befund, dass mit 37 Prozent mehr als jeder Dritte bei dieser Frage Geld und Besitz sogar als (eher) unwichtig bezeichnet. Auch in anderen entwickelten Volkswirtschaften mit einem marktwirtschaftlichen System ist der Anteil der Bevölkerung, der Wohlstand als wichtig erachtet, gering. Noch weniger wichtig als in Deutschland ist Wohlstand beispielsweise in den USA. Dort sind sogar 61 Prozent der Ansicht, dass Reichtum und Besitz eher unwichtig seien. In Russland hingegen sagte niemand aus, dass diese Werte unwichtig seien: 30 Prozent der Bevölkerung in Russland gaben an, dass ihnen Geld und Besitz wichtig seien.
– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –
Die Unterschiede in der Betrachtung der Relevanz des Wohlstandes fallen auf. Es stellt sich die Frage, warum gerade in den reicheren, westlichen Marktwirtschaften Wohlstand den Menschen als weniger wichtig erscheint als in Russland oder in China.
Abbildung 2 stellt dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 2012 auf der Abszisse (als Messgröße für den Reichtum) die prozentuale Auswertung der Frage, ob es wichtig sei, reich zu sein und viel Geld zu besitzen (nach der Befragungswelle von 2010 bis 2014 des World Values Survey), auf der Ordinate gegenüber. Es ist klar erkennbar: Je höher das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf des Landes ist, desto weniger wichtig sind der Bevölkerung Besitz und Reichtum. Mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 51.433 Dollar liegen die USA rechts von Deutschland (43.564 Dollar) und unterhalb der Trendlinie, da nur sechs Prozent der Bevölkerung Besitz und Reichtum als wichtig erachten. In China mit einem vergleichsweise geringeren Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 11.351 Dollar sind 28 Prozent der Befragten der Ansicht, dass Besitz und Reichtum wichtig seien. In Russland mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 25.317 Dollar gab die befragte Bevölkerung zu 30 Prozent an, dass ihr Besitz und Reichtum wichtig sei.
– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –
Je höher das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist, desto weniger wichtig erscheint den Menschen Wohlstand. Eine Regression der Umfrageergebnisse auf das logarithmierte Bruttoinlandsprodukt pro Kopf erklärt die Punktwolke am besten; das Bestimmtheitsmaß beträgt 43,4 Prozent. Nimmt man die Trendlinie als Maßstab, stellt man fest, dass hierzulande Besitz eine für eine reiche Bevölkerung immer noch sehr hohe Bedeutung hat: Trotz des vergleichsweise hohen Bruttoinlandsproduktes von 43.564 Dollar ist den Deutschen Besitz und Reichtum mit 19 Prozent mehr von Bedeutung als der Bevölkerung in anderen Ländern mit einem vergleichbaren Bruttoinlandsprodukt. Insgesamt aber zeigt sich: Das Schielen auf positive Wachstumsraten ist in ärmeren Ländern wichtig, in reicheren Ländern hingegen interessiert es die Menschen weniger. Andere Werte wie Freiheit, Bildung und Gerechtigkeit treten in den Vordergrund.
Wie bereits im letzten Blogartikel festgehalten, sind Lösungsansätzen, die mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen das subjektive Glück der Menschen via Wirtschaftswachstum und Einkommensanstiegen steigern wollen, daher eine klare Absage zu erteilen. Wesentlich besser ist es, auf demokratischen Diskurs, auf Toleranz und auf wirtschaftliche Freiheit zu setzen. Diese Elemente sind nachweislich geeignet, die Lebenszufriedenheit aller Menschen einer Gesellschaft gleichzeitig zu erhöhen. Staatliche Maßnahmen zum Wirtschaftswachstum sind es hingegen nicht – Wohlstand allein macht uns nicht glücklicher. Es kommt immer auf die Begleitumstände an, mit denen er erschaffen wird. Wenn aus Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Freiheit heraus Fortschritt entsteht und dadurch die wirtschaftliche Leistung eines Landes ansteigt, so ist solcherart entstandenes Wachstum ein erfreulicher Nebeneffekt. Es sollte aber nie und nimmer das Ziel der Politik sein.
Quellen:
Opaschowski, H.W. (2013): Deutschland 2030. Wie wir in Zukunft leben. Aktualisierte Neuauflage, Gütersloh
Weltbank (2012): International Comparison Program database, URL: http://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.PP.CD?end=2012 (Stand 2017-02-23)
World Values Survey (Befragungswelle 2010 – 2014): URL:Â http://www.worldvaluessurvey.org/WVSOnline.jsp (Stand 2017-02-23)
- Homeoffice und Produktivität - 9. Juli 2024
- Die freie Wahl zwischen Home-Office und Präsenzarbeit - 19. Dezember 2022
- Wettbewerb der Hochschulen
Die Perspektive im Bundesbildungsbericht 2022 - 10. Juli 2022
Falls es dem Autor entgangen ist: Wir leben in einem Wirtschaftssystem, in dem jeder durch den Gebrauch individueller Freiheit selbst darüber entscheiden darf, wie hoch die Wachstumsrate seines Einkommens sein soll. Aus diesen individuellen Entscheidungen resultiert dann die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate der Einkommen.
Niemand benötigt normative Bevormundung – schon gar nicht „gutgemeinte“.
Ich kann Frau Öhrlich nur zustimmen:
„Wer Wachstum nur auf der Makro-Ebene analysiert, wird leicht zu wirtschaftspolitischen Fehlurteilen verleidet. Tatsächlich ist wirtschaftliches Wachstum das Ergebnis millionenfacher individueller Entscheidungen. Private wirtschaftliche Akteure treiben das Wachstum. Wie sich Arbeitnehmer und Unternehmer entscheiden, hängt von Anreizen und Präferenzen ab. Koordiniert werden die wirtschaftlichen Aktivitäten über private Märkte. Das gilt zumindest in funktionierenden marktwirtschaftlichen Ordnungen. Sind die Preise nicht verzerrt, ist das so entstandene Wachstum sogar optimal. Haben etwa Haushalte eine stärkere Präferenz für die Gegenwart, werden sie weniger sparen und jetzt mehr konsumieren. Das notwendig geringere Wachstum ist aber nicht korrekturbedürftig. Es entspricht den individuellen Präferenzen. Die Aufgabe des Staates besteht nicht darin, auf „Teufel komm raus“ für mehr Wachstum zu sorgen. Vielmehr muss er alles dafür tun, dass die Märkte möglichst unverzerrt ihre Arbeit erledigen können.“
Norbert Berthold, Wachstumspolitik in Zeiten säkularer StagnationWachstumsziele, Strukturreformen und Unternehmertum
Leider ist unsere soziale Marktwirtschaft keineswegs so frei von staatliche Eingriffen und Bevormundungsversuchen, wie der Name „Marktwirtschaft“ uns glauben machen könnte. Zwar haben wir die Freiheit der Entscheidung über unser Einkommen; doch immer wieder versuchen unsere Politiker, uns durch die Fokussierung politischer Maßnahmen auf Wachstumsraten diese unsere Entscheidungen zu beeinflussen. Und immer wieder machen die Medien glauben, es sei dramatisch, wenn die Wirtschaft nicht wie üblich wachse. Und immer wieder glauben dies Menschen und sind unglücklich deswegen. Von den zum Zeitpunkt einer Wahl vorliegenden Wachstumsraten lassen sich vermutlich sogar demokratische Wahlen beeinflussen.
Und genau dieser Fokus auf Wachstumsraten führt zu falscher normativer Bevormundung und daher in die Irre. Lieber sollte der Fokus der Politik und der Medienberichterstattung auf besseren Institutionen liegen. Insofern, sehr geehrte Frau Öhrlich und lieber Herr Berthold, haben Sie mit der Stoßrichtung Ihrer Kommentare meine volle Zustimmung!