Die Ausgangslage scheint klar und unbestritten; die Debatte dauerte gerade einmal 41 Minuten und 56 Sekunden. Der Nationalrat stimmt in der Wintersession dem Geschäft mit 178 Ja zu 9 Nein zu; die ständerätliche Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) empfiehlt mit 10 zu 0 dem Erstrat zu folgen. Die Rede ist von der neuen Finanzordnung 2021 (NFO 2021). Die Vorlage schlägt politisch keine grossen Wellen. Eigentlich überraschend, schliesslich geht es um nichts Geringeres als die Grundlage der Finanzierung eines 67 milliardenschweren Bundeshaushalts, um einen wesentlichen Zuschuss an die Kantonshaushalte, um die verfassungsrechtliche Verankerung unseres Steuersystems und ganz allgemein um die Architektur des Schweizer Finanzföderalismus.
Providurium seit 1915
Seit 1915 erhebt die Bundesebene Steuern auf Einkommen und Gewinn natürlicher und juristischer Personen. Die Kompetenz blieb allerdings immer eine zeitlich befristete – trotz zahlreicher Versuche zur Verstetigung. Auch in der jüngsten Vernehmlassungsvorlage plädierte der Bundesrat ursprünglich für eine Entfristung der Kompetenz zur Erhebung direkter Steuern als auch der Mehrwertsteuer. Tatsächlich erscheint die prekäre Finanzierungsbasis des Bundes bei einer Staatsquote von zehn Prozent der Wirtschaftsleistung und der stetig wachsenden Aufgabenfülle zunächst als Anachronismus. Müsste die Finanzierungsbasis nicht stärker gesichert werden, um die Staatsaufgaben des Bundes zuverlässig und langfristig auszurichten? Diese Argumentation vernachlässigt, dass die Besteuerungskompetenzen nicht deshalb befristet sein sollten, weil sie als provisorisch und langfristig grundsätzlich unnötig erachtet werden müssten. Die Befristung der Finanzordnung dient dazu, dass sich der Souverän in zeitlich grösseren Intervallen mit grundsätzlichen Fragen der Finanzverfassung befassen kann und damit periodisch auch ein breiter, politischer Diskurs über die grundsätzlichen Fragen der Finanzierung des Staats ermöglicht wird. Dies ist nicht alleine deshalb wichtig, weil andernfalls der Reformeifer erlahmen würde – wichtig ist es, weil es bei der Finanzordnung um grundsätzliche Fragen der Finanzierung und des Staatsaufbaus geht, die in der tagespolitischen Auseinandersetzung um steuerpolitische Partikularinteressen schnell in den Hintergrund gedrängt werden. Die zeitliche Befristung der Besteuerungskompetenzen übernimmt die Aufgabe eines «Quasifinanzreferendums», welche die direktdemokratische Rückkoppelung des Steuersystems gewährleistet.
Grundsätzliche Frage der Finanzierung des Staats
Um was könnte es in einer solchen, finanzpolitisch zentralen Debatte gehen? Die NFO 2021 böte die Gelegenheit, das bundesstaatliche Gefüge der Aufgaben- und Besteuerungskompetenzen grundlegend zu überdenken. Es stellt sich insbesondere die Frage, ob nicht ein Trennsystem ohne Einnahmenverbund der gegenwärtigen Finanzordnung vorzuziehen wäre. Gleichzeitig mit der Erneuerung der Besteuerungskompetenzen könnte ausserdem die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen angepackt werden
Vorteil Trennsystem
Die geltende Finanzordnung kennt sowohl ein Verbundsystem bei den Steuern von Bund und Kantonen als auch ausschliessliche und konkurrierende Besteuerungskompetenzen. Das Verbundsystem bei Einkommen und Gewinn hat einen gewichtigen Nachteil. Bei der Festlegung der Steuertarife und der Abzüge berücksichtigen sowohl Bund als auch Kantone den eigenen Finanzbedarf und die Auswirkung auf ihre Einkünfte, die Auswirkung auf die Einkünfte der jeweils anderen Staatsebene über den Steuerbasiseffekt werden jedoch ausser Acht gelassen. Es entstehen Anreize zur Übernutzung der gemeinsamen Steuerbasis. Überdies zementiert die Koppelung von Entscheidungskompetenzen für gemeinsame Steuern den Status quo und führt zur Handlungs- und Reformunfähigkeit. Man befindet sich in der „Politikverflechtungsfalle“, wie die gescheiterte Vorlage zur Unternehmenssteuerreform III anschaulich vor Augen führte. Niemand ist bereit, auf die eigenen Vorteile zugunsten von zukünftigen Effizienzgewinnen zu verzichten, solange nicht klar ist, wer davon in welchem Umfang profitieren wird. Ein Trennsystem würde diesbezüglich Abhilfe schaffen. Es stärkt die Finanzkompetenz jeder Staatsebene sowie deren Einnahmen- und Ausgabenverantwortung.
Bundesrat ursprünglich für Trennsystem
Dass diese Überlegungen nicht neu sind, sondern bereits einmal vom Bundesrat ernsthaft in Erwägung gezogen wurden, verdeutlicht ein Blick in den bundesrätlichen Entwurf zur neuen Finanzordnung von 1948. Damals stand Regierung und Parlament ebenfalls vor der Herausforderung, dass die Bundeseinnahmen in absehbarer Zeit wegzufallen drohten, zumal die Kompetenzgrundlagen grösstenteils auf den kriegsbedingten ausserordentlichen Vollmachten und Dringlichkeitsrecht beruhten, welche bis Ende 1949 befristet waren. Im Auftrag des Bundesrats erarbeitete eine Expertenkommission einen entsprechenden Entwurf, welcher der Öffentlichkeit Ende Januar 1948 vorgelegt werden konnte. Die vorgeschlagene Finanzordnung war insofern modern und konsequent, als die Einführung eines Trennsystems ohne Einnahmenverbund detailliert geprüft und versucht wurde, auf diese Weise die Vorteile des fiskalischen Föderalismus zu wahren. Die Hauptmängel des damaligen Steuersystems verortete der Bundesrat im Nebeneinander von eidgenössischen und kantonalen Steuern sowie in der zunehmenden Abhängigkeit der Kantone von Bundessteueranteilen. Seitens der Expertenkommission wurden deshalb zahlreiche alternative Steuersysteme in Erwägung gezogen, um den Einnahmenverbund von Bund und Kantonen zu entflechten. Bemerkenswert ist, dass der unterbreitete Entwurf des Bundesrats ein Steuersystem verwirklicht hätte, das weitgehend als Trennsystem ausgestaltet gewesen wäre, in dem die Finanzierung den Aufgaben folgen sollte. Der Bundesrat äusserte er sich in der Botschaft vom 22. Januar 1948 wie folgt:
„Wenn der Bund eine Steuerquelle zugestanden erhält, so soll er auch befugt sein, sie für sich selber zu nutzen. […] Die Teilung des Ertrages solcher Steuern mit den Kantonen entbehrt in der Regel einer hinlänglichen sachlichen Rechtfertigung.“
Die Vorschläge zum Trennsystem versandeten allerdings. Erst im dritten Anlauf gelang es 1958, eine Mehrheit der Stimmenden und der Stände für eine Verfassungsgrundlage zur Finanzordnung zu gewinnen. Von der ursprünglichen Idee blieb nichts mehr übrig.
Ausblenden der Aufgabenverteilung
Der unterbreitete Entwurf zur neuen Finanzordnung von 1948 war noch aus einem anderen Grund modern und konsequent: statt sich alleine auf die Einnahmen zu fokussieren, bestach er durch eine ganzheitliche Vorgehensweise, die nicht alleine die Besteuerungskompetenzen, sondern ebenso die Aufgabenseite mit einbezog. Erklärtes Ziel war es, „nach einer zweckmässigen Abgrenzung der Aufgabenbereiche und der Einnahmenquellen zwischen Bund und Kantonen zu trachten, die dem Wesen des Bundesstaates ebenso Rechnung trägt wie der staatlichen Bedeutung der Kantone.“ Der Einbezug der Aufgabenseite erachtete der Bundesrat als eine notwendige Konsequenz dessen, dass die damaligen Bundeskompetenzen seit der Einführung der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 ausgeweitet worden waren, ohne die Finanzierung der zusätzlichen Aufgaben anzupassen. In Bezug auf die Aufgabenentflechtung strebten die unterbreiteten Vorschläge die Zusammenfassung der Verantwortung und Kontrolle in einer Hand an. Zu diesem Zweck sollte eine Rückbesinnung auf die eigentlichen Aufgaben von Bund und Kantonen einsetzen.
Ähnliches wäre auch heute von Nöten. Der Nationale Finanzausgleich NFA hat in Bezug auf die Aufgabenentflechtung nicht die angestrebten Fortschritte erzielt: Nach Inkrafttreten im Jahr 2008 hat sich schon bald gezeigt, dass die Aufgabenverflechtungen wieder von Neuem zunehmen und der Prozess der schleichenden Zentralisierung abermals voranschreitet.
Die NFO 2021 wäre die richtige Gelegenheit, um die bundesstaatliche Aufgabenverteilung zu revidieren. Der Finanzbedarf des Bundes ergibt sich letztlich durch die Aufgaben, ergo ist bei der Wahl der Finanzierungsquellen auch die Aufgabenverteilung zu berücksichtigen. Im Idealfall würden die bestehenden Aufgabenverflechtungen aufgebrochen und die einzelnen Aufgaben ausschliesslich einer Staatsebene zugeordnet. Ein Übergang auf ein solches Trennsystem würde bedingen, dass gleichzeitig mit der Übertragung von Aufgabenkompetenzen von den Kantonen an den Bund bzw. vom Bund an die Kantone die zur Finanzierung dieser Aufgabe notwendige Finanzkompetenz geschaffen wird. Nur so liesse sich sicherstellen, dass die Finanzierung tatsächlich den Aufgaben folgt. Die erste Frage sollte darum nicht lauten, wer mit welchen Besteuerungskompetenzen ausgestattet wird, sondern welche Staatsebene mit welchen Aufgaben betraut wird. Als Beurteilungsmassstab könnten das Subsidiaritäts- und Äquivalenzprinzip dienen, welche bereits heute an prominenter Stelle in der Verfassung Erwähnung finden.
Verpasste Chance
Die Befristung der NFO 2021 – und damit der Haupteinnahmequellen des Bundes – wird, sofern der Ständerat den Beschlüssen seiner WAK folgt, voraussichtlich am 31. Dezember 2035 auslaufen. Die Besteuerungskompetenzen des Bundes sind damit vorläufig wieder gesichert. Ob sich vor Ablauf der Befristung nochmals eine Chance ergeben wird, die Aufgabenverteilung gleichzeitig mit den Besteuerungskompetenzen zu überprüfen und die notwendigen Korrekturen vorzunehmen, ist fraglich. Die bisherige Erfahrung lehrt, dass die Zentralisierungstendenzen von sich aus kaum an Dynamik einbüssen. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass der Prozess der schleichenden Zentralisierung weiter fortschreiten und das föderale System der Schweiz unter Druck setzen wird. Es ist zu bedauern, dass in der NFO 2021 auf die Implementierung eines weitergehenden Trennsystems verzichtet und stattdessen bloss „die Fortführung des steuerpolitischen Status quo“ bezweckt worden ist. Eine konsequente „NFA 2“ könnte die langfristige Funktionsfähigkeit des Föderalismus als effizientes Organisationsprinzip wesentlich stärken.
- Die neue Finanzordnung 2021
Keine Lust auf Debatte? - 19. April 2017