Gastbeitrag
Brexit, Brexit, EU-Exit?

Nach dem ersten Schock über den Ausgang des EU-Referendums in Großbritannien und der trügerischen Hoffnung, dass das britische Unterhaus doch noch gegen das Gesetz zum EU-Austritt stimmen könnte, beginnt jetzt die Phase der tatsächlichen Brexit-Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien. So trafen sich am letzten Aprilwochenende die restlichen EU-Länder zu einem Sondergipfel, um Leitlinien für die Austrittsverhandlungen festzulegen. Die EU verkündete dabei, dass sich Großbritannien auf harte Verhandlungen einstellen müsse. Über die mögliche Form des künftigen Handels könne z.B. erst diskutiert werden, wenn man sich über die Zahlungen geeinigt hätte, die die Briten für ausstehende Verpflichtungen noch zu leisten hätten. Die restliche EU spielt also erst einmal „den starken Mann“. Man hat dabei den Eindruck, dass die übrigen Mitglieder schlicht beleidigt sind, dass ein bisheriges Partnerland der Meinung ist, ohne den engen Verbund in der EU besser auskommen zu können. Stattdessen wäre es aber viel wichtiger, zu hinterfragen, ob man die jetzige Situation nicht auch hätte vermeiden können, denn sicherlich ist das „abtrünnige“ Mitglied nicht alleine dafür verantwortlich. Am 19. Juni 2017 haben nun die Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien offiziell begonnen.

Mit dem Brexit verliert die EU nicht nur 12,7 Prozent der Bevölkerung, sondern auch circa 17 Prozent ihrer Wirtschaftskraft und einen großen Nettozahler. Dies wäre vielleicht noch zu verkraften, wenn sich durch den Verlust dieses wichtigen Partners nicht gleichzeitig auch die Strukturen innerhalb der EU verändern würden, wie auch das außenpolitische Gewicht (z.B. im UN-Sicherheitsrat). Hinzu kommt, dass der Rückzug Großbritanniens aus dem europäischen Binnenmarkt einhergeht mit zunehmenden protektionistischen Tendenzen weltweit. Freihandel, Freizügigkeit, freier Wettbewerb scheinen auch global immer mehr an Wertschätzung zu verlieren. Umso wichtiger wäre es gewesen, Großbritannien im europäischen Binnenmarkt zu halten.

Großbritannien gehört innerhalb der EU zu jenen Ländern, die eher für Freihandel statt Protektionismus, für Wettbewerb statt Regulierung sowie für Leistungsanreize statt Umverteilung stehen. Die Mehrheitsverhältnisse werden sich nach dem Brexit daher mehr in Richtung südeuropäischer Präferenzen verschieben, d.h. zu mehr Protektionismus und Transferwünschen, und zu noch stärkerer Dominanz der Eurozone innerhalb der EU. Letzteres könnte als Integrationstreiber gewünscht sein, wenn die Eurozone nicht seit zehn Jahren selbst die EU destabilisieren würde und mehr Divergenz als Konvergenz in der Gemeinschaft hervorrufen würde.

Auch wenn die übrigen EU-Mitglieder nun im Vorfeld der Brexit-Verhandlungen Einigkeit demonstrieren, sind die Probleme des europäischen Integrationsprozesses nicht aus der Welt. Das Ziel einer immer größeren und zugleich „immer engeren“ Union ist an seine Grenzen gestoßen. Die zunehmende Zentralisierung und Harmonisierung engt die nationale Politikgestaltung immer mehr ein, viele EU-Vorgaben werden als nicht notwendig angesehen, die Flüchtlingskrise  verstärkte nationalstaatliche Tendenzen, insgesamt sind eine mangelnde Gemeinwohlorientierung und unzureichende Rechtsfolgebereitschaft festzustellen. Die Europäische Union driftet auseinander.

Die Wechselbeziehungen zwischen den (vor allem ökonomischen) Vorteilen einer großen Gemeinschaft und den (vor allem politischen) Kosten der Heterogenität in einer solch großen Gemeinschaft werden allerdings nun endlich auch von der EU erkannt. Im jüngsten Weißbuch der Europäischen Kommission „Zur Zukunft Europas“ wird die Möglichkeit zu flexibleren Formen der Integration offiziell angesprochen. In Anlehnung an schon in den 1990er Jahren entwickelte Konzepte eines „Europas der konzentrischen Kreise“ oder eines „Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten“ wird eine enger verbundene „Koalition der Willigen“, um die sich Länder mit geringerer Integrationsbereitschaft scharen können, als eine mögliche Zukunftsoption genannt.

Im Endeffekt wird sich die EU und die europäische Integration daher vielleicht in genau jene Richtung entwickeln, die Großbritannien gewünscht hätte, um Mitglied bleiben zu können – nur leider zu spät! Mit etwas mehr Feingefühl und rechtzeitiger Erkenntnis, dass mittlerweile eine andere Integrationsstrategie als „eine immer engere Union“ notwendig ist, hätte man vielleicht den Austritt verhindern können. So kann man aber zumindest hoffen, dass die Europäische Union sich mit mehr Integrationsflexibilität wieder stabilisiert – und der Brexit nicht der Beginn eines EU-Exits wird.

Hinweis: Der Beitrag erschien zuerst im Heft 6, 2017 der Fachzeitschrift WiSt.

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