Am 31. Mai hat die Europäische Kommission ein Reflexionspapier zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion veröffentlicht. Was könnte man von einem solchen Beitrag gerade im Hinblick auf die unübersehbaren Probleme der EU – Brexit, hohe Arbeitslosigkeit in einer nicht geringen Zahl von Nationen, hohe Staatsverschuldungsquoten, Erstarkung links- und rechtsextremer Parteien in wichtigen Ländern, eine extreme Geldpolitik, die zumindest das zuvor weitgehend gesunde deutsche Bankensystem aushöhlt, das Scheitern der Kooperation im Hinblick auf die Flüchtlingskrise, … – erwarten? Der Verfasser dieses Beitrags hätte vermutet, dass die Kommission vor allem nach eigenen Fehlern in Bezug auf Politik und Struktur sowie nach Lösungsmöglichkeiten sucht.
Die Kommission weiß jedoch den Leser zu überraschen! Der Euro sei die „zweithäufigst genutzte Währung der Welt“, eine „Erfolgsgeschichte“, nur werde dies „nicht immer so wahrgenommen“. Aus „Schwachstellen der ursprünglichen WWU-Architektur“ „wurden wichtige Lehren gezogen“. „Die Lage hat sich nun sehr verbessert“, aber natürlich bestehen noch „Herausforderungen“. Das ganze kulminiert in der wohl ernstgemeinten Warnung, „Selbstzufriedenheit sollte uns nicht den Blick verstellen, dass seine Architektur gestärkt werden muss“ (alle Zitate stammen aus der Einleitung). Die noch bestehenden Probleme sind ja scheinbar so schwierig zu erkennen, dass die Bevölkerung Europas im Erfolgsrausch der EWWU zu versinken droht.
Weniger überraschend sind die Antworten, die die Kommission liefert: Wir brauchen nur mehr vom Alten. Mehr Länder sollen in die Eurozone eintreten, und mehr Kompetenzen sollen in Brüssel zentralisiert werden. Schauen wir uns das Papier im Folgenden mal ein wenig genauer an.
1. Inhalt des Reflexionspapiers
Im Anschluss an die Einleitung werden im zweiten Abschnitt die bisherigen Errungenschaften angeführt. Diese sind im Wesentlichen:
- stabile Preise,
- niedrige Zinsen,
- eine hohe öffentliche Zustimmung zum Euro,
- gezogene Lehren aus der Wirtschaftskrise,
- die Durchführung von bedeutenden Reformen in vielen Mitgliedstaaten und
- die Förderung dieses „Reformschwungs durch die EU-Ebene“.
Auch wenn man manchen dieser Punkte zustimmen kann, bleibt doch hervorzuheben, dass die niedrigen Zinsen durchaus auch als Problem angesehen werden können. Bestenfalls stellen Sie eine Folge der Zentralbankpolitik dar, die hilft, die vorhandenen Probleme kurzfristig zu verdecken. Außerdem kann man den „Reformschwung“ auch als Reformschwüngchen ansehen, da bis heute wesentliche Korrekturen wie zum Beispiel die Einführung einer Ordnung für Staatsinsolvenzen ausgeblieben sind. Immerhin konzediert die Kommission, dass die „Arbeitslosigkeit im Euro-Währungsgebiet immer noch zu hoch“ sei.
Im dritten Abschnitt werden Gründe für eine Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) diskutiert. Hier werden im Wesentlichen nicht erreichte Ziele thematisiert, die offenbar durch die „Vollendung der WWU“ erreicht werden sollen. Diese sind vor allem
- das soziale Gefälle (Pro-Kopf-Einkommen und Arbeitslosigkeit) innerhalb der WWU,
- verbliebene Gefahrenherde im Finanzsektor,
- die nach wie vor hohe öffentliche und private Verschuldung,
- die Unausgewogenheit der Steuerung der WWU „mit dezentraler Haushaltspolitik und Ressortpolitiken, die vor allem nationale Umstände und Präferenzen widerspiegeln“;
- die Intransparenz und fehlende Rechenschaftspflichten der Arbeitsweise der WWU.
Den ersten drei Punkten kann man sicher zustimmen, auch wenn man die damit verbundenen Gefahren stärker betonen könnte. Warum die dezentralen Elemente der Wirtschaftspolitik allerdings ein Problem darstellen, bleibt unklar. Aus Sicht des Subsidiaritätsprinzip könnten hierin vielmehr Lösungsansätze bestehen.
Der letzte Punkt, die Intransparenz der Prozesse, dient vor allem der Legitimation einer Stärkung des Einflusses des Europäischen Parlamentes, mit anderen Worten der Stärkung zentraler Entscheidungsrechte.
Im vierten Abschnitt werden schließlich Überlegungen zum weiteren Vorgehen vorgestellt, beginnend mit vier Leitsätzen für die Vertiefung der WWU. Diese bestehen aus
- den Hauptzielen „Arbeitsplätze, Wachstum, soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Konvergenz und finanzielle Stabilität“,
- einer Kombination von Verantwortung und Solidarität, in der „Eindämmung und gemeinsames Schultern von Risiken“ Hand in Hand gehen;
- der Offenheit der WWU für alle EU-Mitgliedstaaten und
- dem Streben nach einer höheren Transparenz in den Entscheidungsprozessen sowie einer demokratischen Rechenschaftslegung.
Ungeklärt bleibt hierbei insbesondere, wie der Zielkonflikt zwischen (Eigen-)Verantwortung und Solidarität aufgelöst werden soll. Je stärker sich die einzelnen Staaten auf die Solidarität der anderen verlassen können, desto weniger Anreiz haben sie, den eigenen Staatshaushalt solide zu gestalten. Darüber hinaus wird ignoriert, dass ein großes Land wie die Bundesrepublik Deutschland schon allein auf Grund seiner Größe niemals auf eine solidarische Hilfe der anderen Nationen bauen kann, da diese nicht dazu in der Lage wären, ein entsprechend großes Finanzierungsproblem abzufedern.
Anschließend werden Vorstellungen zur Umsetzung dieser Ziele präsentiert. Diese beschäftigen sich vorrangig mit der Einführung einer „echten Finanzunion“, der „Neubelebung der Konvergenz in einer stärker integrierten“ WWU sowie einer Stärkung der Architektur der WWU.
Im Hinblick auf die Finanzunion wird propagiert, dass
- Maßnahmen zur Eindämmung der Risiken von Banken,
- eine europäische Strategie für notleidende Kredite,
- eine gemeinsame fiskalische Letztsicherung für den einheitlichen Abwicklungsfonds,
- ein europäisches Einlagensicherungssystem,
- die Entflechtung von Bankforderungen von ihrem Herkunftsland, insbesondere durch Sovereign Bond-Backed Securities (SBBS) sowie
- eine gemeinsame Emission von Schuldtiteln
überlegenswert seien. Eine Beseitigung der Sonderbehandlung von Staatsanleihen als vermeintlich risikofreie Anlagen wird hingegen zurückgewiesen, da diese zu einer drastischen Reduzierung der Bankbestände solcher Anleihen führen und damit die Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets in Mitleidenschaft gezogen würde. Insbesondere die letzten drei Vorschläge beinhalten die Gefahr einer erheblichen Risikoumverteilung zu Lasten der deutschen Volkswirtschaft. Speziell zu den SBBS hat der Wissenschaftliche Beirat beim Finanzministerium einen lesenswerten offenen Brief (hier der Link) an den Finanzminister verfasst.
Es folgen Ausführungen zur Stärkung der Konvergenz im EU-Raum. Diese soll vor allem durch
- eine Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordination,
- eine stärkere Verknüpfung zwischen nationalen Reformen und der Verwendung von EU-Mitteln und
- die Einführung einer makroökonomischen Stabilisierungsfunktion
verwirklicht werden. Die ersten beiden Punkte werben erneut für eine stärker zentralistische Politik, was wenig überrascht. In Bezug auf die makroökonomische Stabilisierungsfunktion wird zwar gefordert, dass diese „keine dauerhafte Transferleistung“ beinhalten soll, doch wird klar, dass hier Transfers fließen sollen. Dass letztere nur kurzfristig erfolgen sollen, widerspricht allerdings aller Erfahrung mit der Politik der EU.
Schließlich werden Maßnahmen zur Stärkung der Architektur der WWU (und der „Verankerung der demokratischen Rechenschaftspflicht“) vorgestellt. Diese beinhalten, dass
- ganz allgemein mehr Entscheidungen gemeinsam, d.h. zentral zu treffen seien,
- die Überführung des Fiskalpakts in das EU-Recht,
- die Einführung von Kontrollbefugnissen für das Europäische Parlament,
- die Einführung eines Schatzamts für den Euro-Raum und
- die Schaffung eines Europäischen Währungsfonds
denkbar seien. Die Überführung des Fiskalpakts in das EU-Recht mag man als Beruhigungspille für stabilitätsorientierte Nationen betrachten. Alle Erfahrungen mit der EU-Politik legen jedoch nahe, dass ein solches EU-Recht völlig irrelevant wäre: Wenn für Juncker eine hinreichende Begründung dafür, dass Frankreichs die Haushaltsregeln verletzten darf, darin besteht, „weil es Frankreich ist“ (siehe zum Beispiel hier), dann dürften in Zukunft alle solchen Haushaltsregeln überflüssig sein.
Die anderen Punkte stehen – wie das Reflexionspapier insgesamt – für eine Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen und Entscheidungsmitteln (Geld).
2. Was sagt das Papier über die Kommission und ihre Politik aus?
Der Grundtenor des Papiers lautet somit: Europa benötigt eine stärker zentral koordinierte Wirtschafts- und Verteilungspolitik, die Krisen souverän vermeiden bzw. bewältigen kann. Eine Rückübertragung von Kompetenzen an die europäischen Nationen wird an keiner Stelle sichtbar. Das Wort Subsidiarität findet sich an keiner Stelle des Papiers, Varianten des Worts Koordination hingegen an 17 Stellen. Das Vertrauen der Kommission in die eigenen Fähigkeiten ist ungetrübt: Man hat die richtigen Lehren gezogen und die Quelle der Probleme liegt außerhalb der EU.
Liegen die Probleme der EU tatsächlich darin begründet, dass Brüssel zu wenig koordinatorische Befugnisse und Mittel hat? Ich vermute, das Gegenteil ist der Fall. Das Aufleben rechts-nationaler Bewegungen in vielen Ländern der EU und eine durchaus weit verbreitete Skepsis gegenüber „Brüssel“ resultiert aus nicht unberechtigten Befürchtungen, dass die Bürger des eigenen Landes bevormundet werden. Reiche nordwesteuropäische Länder befürchten, sie könnten unfreiwillig zur Übernahme von Schulden anderer Nationen herangezogen werden. Deutsche Bürger, die ihre auf Stabilität ausgerichtete Wirtschaft mehrheitlich als Erfolgssystem ansehen, befürchten eine Aushöhlung dieses Erfolgs durch eine ungebremste europäische Geld- und Schuldenpolitik. Bürger aus Schuldnerländern sehen die stabilitätspolitischen Vorgaben als illegitimes Austeritätsdiktat an. Nicht wenige Bürger aus osteuropäischen Ländern, die vormals unter sowjetischer Kontrolle standen, haben eine ausgeprägte Vorliebe für ihre nationale Unabhängigkeit und verweigern sich jeglicher Bevormundung aus Brüssel.
Eine Europäische Kommission, die – all diese Widerstände und Befürchtungen ignorierend – eine Zukunftsvision vorlegt, deren zentrale Elemente ausschließlich aus Kompetenzverlagerungen zum europäischen Zentrum bestehen, verkennt die Zeichen der Zeit. Außerdem übersieht sie, dass die grundlegend unterschiedlichen Ausgangslagen der verschiedenen Nationalökonomien keine einheitlich-koordinierten Lösungen zulassen. Mit dem Wegfall der Wechselkurse ist schon ein wichtiges Instrument zur Anpassung unterschiedlicher Volkswirtschaften an unterschiedliche Probleme entfallen, und die Folgen waren keineswegs ausschließlich positiv. Man sollte sehr vorsichtig sein, weitere Instrumente einer flexiblen Anpassung dem vagen Versprechen einer effizienten zentralen Koordination zu opfern. Dass dieses Versprechen vermutlich unrealistisch ist, sieht man nicht zuletzt daran – ich wiederhole es –, dass es bis heute nicht gelungen ist, eine Ordnung für Staatsinsolvenzen zu etablieren. Die Hauptaufgabe der europäischen Politik sollte sein, Krisen zu verhindern, nicht nur sie zu managen. Dabei sind Elemente der Eigenverantwortlichkeit ENTSCHEIDEND. Im Hinblick auf private Organisationen – z.B. Banken – sieht die Kommission dies anscheinend ein. Geht es jedoch um Staaten, so stellt die Kommission den Aspekt der Eigenverantwortung (viel zu) weit in den Hintergrund. Es ist zweifelhaft, ob Europa so funktionieren kann.
Literatur
Europäische Kommission (2017), Reflexionspapier zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-emu_de.pdf, zuletzt heruntergeladen am 7.06.2017.
Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2017), Brief des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen an den Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Ministerium/Geschaeftsbereich/Wissenschaftlicher_Beirat/Gutachten_und_Stellungnahmen/Ausgewaehlte_Texte/2017-01-24-ursachengerechte-therapie-des-staaten-banken-nexus-anlage.pdf;jsessionid=2B89900C0BC0F49312C2C316670679F0?__blob=publicationFile&v=4, zuletzt heruntergeladen am 7.06.2017.
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