Es ist beileibe kein neuer Trend. Doch seit dem Katalonien-Konflikt treiben die Forderungen nach Abspaltungen einzelner Landstriche wieder viele Menschen in Europa um – vor allem natürlich in den betroffenen Regionen, in denen sie häufig heftige Unruhen mit sich bringen. Doch ist das Ansinnen einer Sezession aus gesamtstaatlicher Sicht überhaupt legitim? Warum ist die staatliche Gebietsverteilung in Europa, wie sie derzeit existiert, so wie sie ist?
Wieso ist Wallonien heute ein Teil Belgiens und das winzig kleine San Marino inmitten von Italien eine eigene Republik? Und die vielleicht entscheidende Frage lautet: Leben die Menschen in Europa heute – mal ganz losgelöst von etwaigen Unabhängigkeitsbestrebungen – weit überwiegend in Freiheit oder tun sie es nicht? Die Ökonomen Reiner Eichenberger und Thomas Apolte sind unterschiedlicher Meinungen, was Abspaltungen für das Mutterland, aber auch für Europa als Ganzes bedeuten.
Pro: Prof. Dr. Reiner Eichenberger
Prof. Dr. Reiner Eichenberger ist Ordinarius für Theorie der Wirtschafts- und Finanzpolitik an der Universität Fribourg (Schweiz) sowie Forschungsdirektor von CREMA (Center for Research in Economics, Management and the Arts). Er schreibt in der überregionalen Presse in Deutschland und der Schweiz regelmäßig Kommentare zu diesem und anderen Themen.
Überlebensfähigkeit kleiner Landstriche
Zwischen der Größe eines Landes und dessen Wohlstand besteht kein eindeutiger Zusammenhang. Wenn schon, dann wirkt Größe negativ. Katalonien beispielsweise wäre mit 7,5 Millionen Einwohnern ein mittelgroßes europäisches Land – ähnlich wie die beiden wohl erfolgreichsten europäischen Nationen hinsichtlich Wohlstand und Lebenszufriedenheit, Dänemark und die Schweiz mit 5,8 und 8,5 Millionen Einwohnern.
Voraussetzung erfolgreicher Sezessionen
Wichtig ist, wie die Scheidung abläuft. Wenn sie friedlich wie seinerzeit in der Tschechoslowakei über die Bühne geht, überwiegen die Vorteile, weil sich beide Länder befreit von der schlechten Ehe besser entwickeln können. Wird sie hingegen von schwerer Gewalt begleitet wie in Jugoslawien, bringt sie ganz Europa großen Schaden. Entscheidend ist, dass die beiden Scheidungspartner nach der Trennung schnell normale, auf Freihandel aufbauende Beziehungen zueinander und zum Rest Europas entwickeln.
Folge einer Sezession
Die Summe der Effekte ist klar positiv. Das illustriert folgende Analogie: Ginge es den Deutschen und den Schweden besser, wenn Österreich ein deutsches Bundesland und Dänemark eine schwedische Region wäre? Wohl kaum. Für beide ist es gut, dass ihre kulturellen Geschwister unabhängig sind. Entscheidend für den Wohlstand von Ländern ist ihre politische Lernfähigkeit. Diese wird stark dadurch geprägt, wie viele eng verwandte Länder es gibt. Denn die Übernahme von Ideen aus anderen Ländern hängt entscheidend von kulturellen und sprachlichen Gemeinsamkeiten ab.
Contra: Prof. Dr. Thomas Apolte
Prof. Dr. Thomas Apolte ist Professor für Ökonomische Politikanalyse am Centrum für Interdisziplinäre Wirtschaftsforschung an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Er ist u.a. Mitglied der List Gesellschaft, des Vorstandes des Forschungsseminars Radein zum Vergleich von Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen und der Association for Comparative Economic Studies.
Sezession und offene Gesellschaft
Sezession aus einem Rechtsstaat entzieht jeden Bürger per Mehrheitsbeschluss der Schutzfunktion der Verfassung. Das ist die schärfste Form der Tocqueville“˜schen Diktatur der Mehrheit. Mit wenigen Ausnahmen war das Ergebnis ein Rückfall in die von Karl Popper beschriebene Logik der Stammesgesellschaft. Das heißt: in den Drang zu ethnischer und kultureller Homogenität und Intoleranz.
Folgen einer Sezession
Sezession schafft das rechtsstaatliche Gefüge zugunsten eines Machtvakuums ab. Damit drohen unkontrollierte Ausbrüche von Gewalt, Terror und Unterdrückung. Diktatur ist eine sehr wahrscheinliche, aber längst nicht die schlimmste mögliche Folge. Das zeigen die afrikanische Nachkriegsgeschichte und die „failed states“. Ist Europa anders? Wenn Puigdemont Gesetze offen mit der Begründung bricht, seine Ziele seien nur so zu erreichen, müssen alle Alarmglocken schrillen.
Sezession aus einem Rechtsstaat
Der Verlust rechtsstaatlichen Schutzes droht nicht, wenn er gar nicht besteht. Die meisten ehemaligen Sowjetrepubliken haben diesbezüglich nichts erreicht. Drei von ihnen aber doch, daher war es das wert für sie. Die rechtsstaatliche Schutzfunktion von Toleranz, Freiheit und Menschlichkeit lässt sich aber nicht verordnen, sondern muss sich als gleichgewichtig erweisen. Hat sie das aber einmal, dann ist Sezession ein Spiel mit dem Feuer. Daher sind meist qualifizierte Mehrheiten für Verfassungsänderungen vorgeschrieben. Wie absurd ist es dann aber, wenn eine einfache regionale Mehrheit deren Bevölkerung dem Schutz der Verfassung entziehen darf?
Hinweis: Pro & Contra wurde zusammengestellt von Jörg Rieger, Würzburg. Der Beitrag erschien in Heft 1 (2018) der Fachzeitschrift WiSt.
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Fast alle bisherigen Grenzziehungen auf der Welt sind nicht durch demokratische Entscheidungen entstanden. Sie sind Ergebnisse von Natur, von Macht und Militär. In einer Welt der sich verändernden kulturellen, ökonomischen und rechtlichen Institutionen müssen deshalb Gegenwartsverfassungen nicht ewig gleichermaßen für alle Bewohner innerhalb der Grenzen eines Landes zwanghaft verbindlich bleiben, wenn deren institutionelle Präferenzen auswandern. Dann muss es die Möglichkeit geben, mit der Sezession die friedliche demokratisch bestimmte Exit-Option aus dem Verfassungsverbund wahrzunehmen. Eine zentralistische Verweigerung würde die innere Verfasstheit eher destabilisieren denn stabilisieren. Das Erfolgsgeheimnis kleinerer gegenüber größeren Staaten ist, dass in kleinen Staaten die Homogenität der Bewohnerpräferenzen größer ist als in großen Staaten mit hoher Präferenzheterogenität und also auch größeren Sezessionsneigungen. Sezessionen sind jedenfalls nicht auf der Basis eines statisch orientierten Ewigkeitsdenkens bestehender Verfassungen zu verhindern, die Sezessionen nicht erlauben.