Wenn sich bedenkliche Entwicklungen von großer Tragkraft abzeichnen, schließen sich Volkswirte häufig zusammen, um sich gemeinsam für eine (wirtschaftspolitische) Position auszusprechen. Ziel ist es, gegenüber Politik und Öffentlichkeit mit einer Stimme zu sprechen, sich Gehör zu verschaffen sowie im Idealfall sogar Entscheidungen in die gewünschte Richtung zu lenken. Das gelingt mal mehr, mal weniger gut.
Zuletzt gab es im Frühsommer einen Vorstoß von 154 Ökonomen, der auf die Gefahren einer Haftungsunion in der Eurozone hinweist und eine Reihe von Maßnahmen zur langfristigen Stabilisierung fordert. Das Besondere an diesem Aufruf war, dass er auch von Wirtschaftswissenschaftlern kritisiert worden ist. Thomas Mayer, der das Manifest unterzeichnete, und Thomas Apolte, der es nicht unterstützte, sind unterschiedlicher Meinung, ob solche Aufrufe zweckdienlich sind.
Pro: Prof. Dr. Thomas Mayer
Prof. Dr. Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Research Instituts beim Vermögensverwalter Flossbach von Storch. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutschen Bank Gruppe. Nach seiner Promotion beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel arbeitete Mayer unter anderem für den Internationalen Währungsfonds, Goldman Sachs und Salomon Brothers. Er ist Unterzeichner des jüngsten Ökonomenaufrufs (154+).
Hauptargumente für den Ökonomenaufruf (154+)
Politiker folgen lieber der öffentlichen Meinung statt sie zu führen. Sie sind daher oft nur für Rat empfänglich, der auch von der öffentlichen Meinung getragen wird. Ökonomen müssen sich mit ihren Anliegen folglich vor allem an die Öffentlichkeit wenden. Der Aufruf war ein dazu geeignetes Mittel.
Wirksamkeit des Ökonomenaufrufs (154+)
Der Aufruf wurde in der FAZ veröffentlicht und dort auch kommentiert. Darüber berichtet haben außerdem die Welt, die Zeit, das Wall Street Journal (online), die Financial Times, der Economist, die (Londoner) City A.M, der (österreichische) Standard, die Neue Züricher Zeitung und Reuters. Die Initiatoren gaben der Deutschen Welle, dem japanischen Fernsehsender NHK und dem französischen Fernsehsender Canal+ Interviews. Bundestagsabgeordnete aus CDU, SPD, FDP und AfD haben auf den Aufruf reagiert.
Generelle Zweckmäßigkeit von Ökonomenaufrufen
In der Ökonomie gibt es viele Denkschulen und Meinungen zu wichtigen Fragen. Daraus kann der Eindruck entstehen, dass Ökonomen unter sich so zerstritten sind, dass sie zu einer für die Öffentlichkeit wichtigen Frage nichts beitragen können. Ein von vielen Ökonomen unterzeichneter Aufruf kann zeigen, dass dem nicht so ist.
Nachteile bei etwaigen Alternativen von Aufrufen
Bücher, Zeitungsartikel, Blogs oder Interviews sind andere Wege, die Ökonomen gehen können, um sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Allerdings versucht dort immer nur eine einzelne Stimme, sich Gehör zu verschaffen. Das ist nicht einfach. Schrille Töne werden eher gehört als leise. Aufrufe wirken dagegen über die Zahl der Unterstützer und können es sich leisten, ausgewogener zu sein.
Contra: Prof. Dr. Thomas Apolte
Prof. Dr. Thomas Apolte ist Professor für Ökonomische Politikanalyse am Centrum für Interdisziplinäre Wirtschaftsforschung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine Forschungsgebiete liegen an der Schnittstelle zu den Nachbarwissenschaften, insbesondere zur Politikwissenschaft. Insbesondere untersucht er die Wechselwirkungen zwischen politischen Institutionen und ökonomischer Entwicklung. Hierzu gehört vor allem die Analyse demokratischer Entscheidungsprozesse die Analyse politischer Konflikte in Autokratien. Er hat den jüngsten Ökonomenaufruf (154+) nicht unterzeichnet.
Hauptargumente gegen den Ökonomenaufruf (154+)
Die Sorge über die Folgen der zunehmenden Aushöhlung des Haftungsprinzips in der EWWU ist berechtigt. Die Frage ist aber, was man daraus schließt. Der Europäischen Währungsunion lagen verschiedene Annahmen über das Verhältnis von Geld- und Fiskalpolitik sowie der dezentralen Fiskalpolitiken in einer Währungsunion zugrunde, von denen sich viele als Illusionen erwiesen haben. Das hat die Wissenschaft in einen Zustand hoher Unsicherheit versetzt. Ein ermahnender Ökonomenaufruf suggeriert dagegen einen Grad an makroökonomischer Gewissheit, mit dem die Realität nicht schritthalten kann.
Wirksamkeit des Ökonomenaufrufs (154+)
Der Aufruf ist den Unterzeichnern und Nicht-Unterzeichnern unter den Ökonomen sowie ein paar Fachjournalisten und Politikern bekannt. Dass letztere ihn ignoriert haben, mag man ihnen vorwerfen. Besser ist es, nach Gründen zu suchen, warum das so ist.
Generelle Zweckmäßigkeit von Ökonomenaufrufen
Sie sind unter zwei Bedingungen sinnvoll: wenn erstens ein gravierendes Problem zur Debatte steht (das ist im aktuellen Aufruf der Fall); und wenn man zweitens Grund zu der Hoffnung hat, aus der Position der Wissenschaft in einer Weise aufklärend wirken zu können, wie dies aus einer anderen Position heraus nicht möglich ist (das ist im aktuellen Aufruf nicht der Fall).
Nachteile bei etwaigen Alternativen von Aufrufen
Alles ist erlaubt und sinnvoll, gern auch engagierte Meinungsäußerungen in Zeitschriften, Blogs oder wo immer. Aber wer mit einem Aufruf die fachliche Autorität der Wissenschaft in die Waagschale werfen will, sollte sich auf das beschränken, was allein die Wissenschaft beitragen kann. Sonst verkommt der Aufruf zu einer Meinungsäußerung unter vielen, was im Zweifel niemanden interessiert, die Autorität der Wissenschaft aber untergräbt.
Hinweis: Pro & Contra wurde zusammengestellt von Jörg Rieger, Würzburg. Es erschien in Heft 9 (2018) der Fachzeitschrift WiSt.
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Ja, auch ich habe diesen Aufruf unterschrieben und ja, ich würde es jederzeit wieder tun! Er war moderat formuliert und ich kann bis heute nicht erkennen, dass er dem Thema oder der Wissenschaft „an sich“ in irgendeiner Weise unwürdig gewesen wäre.
Wenn Professoren sich nicht mehr in dieser Weise äußern sollten, deminuieren sie nicht nur sich, sondern ihre gesamte Zunft und überlassen das Feld anderen, die keine Hemmungen haben, ihre Thesen in die öffentliche Diskussion zu bringen. Außerdem wird niemand gezwungen, sich einem solchen Aufruf als Autor oder Sympathisant anzuschließen, und niemand gehindert, daran Kritik zu üben. Diese Kritik erfolgte übrigens im vorliegenden Fall nicht nur à la „Pro & Contra“ in diesem Medium (und der WiSt), sondern auch unmittelbar im Anschluss an 154+; indessen kam es hier nicht zu einem generell möglichen und in so manch anderem Fall auch praktizierten „Gegenaufruf“ – offensichtlich aus Mangel an „kritischer Masse“.
Ein moralischer Kollektivmaulkorb für Wirtschaftsprofessoren ist folglich so ziemlich das Letzte, was wir in diesen Tagen brauchen.