Fakten, Fakten, Fakten?

Moden gibt es überall, wo Menschen miteinander interagieren und kommunizieren. Manche sind auf eine komplexe Weise mit den Tatsachen der Welt verknüpft. Andere haben mit den Tatsachen wenig zu tun, dominieren aber dennoch hartnäckig unser Denken. Gegen sie scheint kein Kraut gewachsen zu sein und schon gar nicht das der Aufklärung über die Fakten. Gegenwärtig scheint es allerdings neben der Epidemie der „fake news“ eine breite Strömung zu geben, Fakten zur Kenntnis zu nehmen bzw. ein entsprechendes Verhalten etwa unter dem Titel „factfulness“ (Roslings 2018) zu propagieren. Wer dies aus erster Hand mit Bezug auf grundlegende Fakten weltweiter Entwicklungen selbst tun möchte kann, kaum besseres tun, als https://ourworldindata.org/ aufzusuchen.

Dennoch ist der Aufruf, sich auf die Fakten zu besinnen, nicht unproblematisch. Vor allem dann, wenn wir der Komplexität der Realität gerecht werden wollen, können wir anscheinend nicht dem eigenen Urteil folgen. Gerade diejenigen, die selbstkritisch dem eigenen Urteil misstrauen, scheinen auf Experten angewiesen und damit diesen ausgeliefert zu sein. Zudem scheint ein Experte nötig zu sein, um zu beurteilen, wer ein Experte ist. Wichtiger ist die Frage, ob es in bestimmten Bereichen und für bestimmte Fragen überhaupt Experten geben kann. Da „alle lügen“ und wir nur in wenigen Bereichen, selbst Experten sein können, scheint es aussichtslos, zuverlässige Kriterien für Expertentum zu entwickeln.

Für Pessimismus scheint zunächst vieles zu sprechen. Für die Frage, ob es überhaupt so etwas geben kann, wie beispielsweise Experten für die Voraussage weltpolitischer Entwicklungen (oder der Finanzentwicklung), scheint man wieder auf Experten angewiesen zu sein. Für einen gewissen Optimismus spricht dennoch, dass die Frage, ob es zuverlässige Expertise gibt, selbst empirisch und mit Faktenbelegen angegangen werden kann. (Im Beispielsfall mit dem bekannten Ergebnis, dass die sogenannten Politikexperten auch nicht besser sind als eine Bande von „dart throwing chimpansees“; Tetlock 2009).

Dass es in einem bestimmten Bereich keine Experten gibt, ist eine wichtige Information, nicht, weil sie gänzlich neu, sondern wissenschaftlich prüfbar bestätigt ist. Eigentlich wussten wir auch ohne wissenschaftliche Begleitmusik, dass Politikexperten in der in diesen Kreisen endemischen Eitelkeit nur zu gern bereit sind, als politische Feigenblätter zu dienen. Wenn sie nur lange genug sucht, findet jede Interessengruppe und deren journalistische Entourage einen Experten, dessen — in der Regel durchaus ehrlichen — Meinungen über wahrscheinliche zukünftige Verläufe genau die Interventionen rechtfertigen, die die betreffende Gruppierung bevorzugt. Dennoch, um es zu wiederholen, ist es von großer Wichtigkeit, eine wissenschaftlich zuverlässige Studie zum Thema Expertenvoraussagen über die Zukunft zu besitzen.

Gefährlicher scheint es, dass Expertenwissen auch hinsichtlich der Fakten der Vergangenheit und einfacher Tatsachen der Gegenwart erforderlich und ähnlich strittig zu sein scheint, wie die Experten-Prophezeiungen über Aspekte der Zukunft. Das achselzuckende „vorbei ist vorbei“ liegt zwar insbesondere den Ökonomen nahe, ist aber verfehlt. Obwohl die Vergangenheit vorüber ist und auch das, was wir als Gegenwart empfinden, sobald es zur Tatsache wurde, sich nicht mehr ändern lässt, tun wir gut daran, uns über die Fakten aufzuklären. Faktenkenntnis beeinflusst unsere Einstellungen fundamental. Ob wir etwa ein positives oder negatives Bild von Gegenwart und Vergangenheit besitzen, wird uns zu bestimmten Einstellungen normativer Art bringen. Vor allem jene, die das große Glück haben, in freiheitlichen offenen Gesellschaften zu leben, tun gut daran, sich auf die Fakten zu besinnen und darauf hinzuwirken, dass diese auch anderen bekannt werden. Die Gegner der offenen Gesellschaften nehmen diese auf eine verzerrte Weise wahr und nehmen darin deren Anhänger mit (Roslings 2018). Diejenigen, die in offenen Gesellschaften der Gegenwart bzw. überhaupt in der Gegenwart leben, befassen sich zu wenig damit, welche ungeheuren Fortschritte für die Menschen nicht nur in diesen Gesellschaften selbst, sondern weltweit in den letzten 200 und insbesondere den letzten 50 Jahren erreicht wurden (https://ourworldindata.org/).

Leider haben wir keinen Grund, naiv diese großartige Entwicklung in die Zukunft zu projizieren. Wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen, dass die Dinge so weitergehen werden wie bislang. Wir wissen nicht, ob die freiheitlichen demokratischen Rechtsstaaten die Ursache des Fortschritts der Menschheit sind. Wir wissen nicht, aufgrund welcher Bedingungen sie entstanden und können daher auch nicht sagen, wie man diese Ordnungen erzeugen kann (North et.al. 2013), was immer vorgeblich Experten unter den Ordnungspolitikern uns erzählen wollen. Wir sind wie die Menschheit und deren Wissenschaft insgesamt auf Vermutungen angewiesen.

Trotzdem ist die Korrelation zwischen dem Aufstieg demokratischer Rechtsstaatlichkeit — die in sich einen großartigen Fortschritt an individueller Freiheit und Rechtsgleichheit darstellt — unter Verbesserung der Lebensbedingungen, auf die es wirklich ankommt, nachgerade überwältigend. Korrelation ist nicht Kausalität, doch ergibt sich aus ihr häufig ein begründeter Anfangsverdacht, dass die Kausalität in eine bestimmte Richtung wirkt. Im Falle des Aufstiegs westlicher Rechtsstaatlichkeit und des Erfolges der damit verbundenen wirtschaftlichen Freiheit und des sogenannten Kapitalismus, erscheint es nach allem, was wir wissen, überwältigend plausibel, dass die Fortschritte der sozialen Ordnung die anderen Fortschritte bewirkt haben und nicht umgekehrt.

Wenn wir etwas dagegen tun wollen, dass das Erreichte nicht leichtfertig auf’s Spiel gesetzt wird, können wir kaum etwas besseres unternehmen, als Fakten zu suchen und diese zu verbreiten. Dass eine entsprechende „Nachricht“  tatsächlich in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit durchdringen könnte, scheint nicht ausgeschlossen. Denn ausnahmsweise scheint der Zeitgeist einmal auf Seiten derer zu sein, die gern Fakten verbreiten und Fehlwahrnehmungen und Fälschungen bekämpfen wollen.

Es ist gewiss ein gutes Zeichen, dass das bereits zitierte Buch der Roslings „Factfulness“ zeitnah in die deutsche Sprache übersetzt wurde. Die in Teilen der angelsächsischen Welt zunehmend stärkere Bewegung, sich auf die Fakten zu besinnen und darauf, was es zu bewahren gilt, in einer Zeit, in der die westlichen Ordnungen unter Druck geraten, scheint sich also breiter durchzusetzen. Aber bleiben wir bei den Fakten. Fakt ist, dass es neue wichtige Bücher zum Thema gibt, die gerade erschienen oder im Erscheinen sind.

Pinker, Steven. 2018. Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Translated by Martina Wiese. 1st ed. Frankfurt am Main: S. FISCHER.

Hans Rosling, Anna Rosling Rönnlund, Ola Rosling, Uve Teschner, and Argon Verlag. n.d. Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Argon Verlag.

Neu ist das alles nicht, neu ist nur, dass es breiteres Gehör und Interesse zu finden scheint. Der Goldstandard bleibt: https://ourworldindata.org/

Andere Literatur

North, Douglass C., John Joseph Wallis, and Barry R. Weingast. 2013. Violence and Social Orders: A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History. Reprint. Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Tetlock, Philip E. 2009. Expert Political Judgment: How Good Is It? How Can We Know? Princeton University Press.

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